37 Rhona schlang die Arme um ihren Vater und drückte ihn an sich. »Hallo, Daddy.«
»Mein Mädchen! Ich bin so froh, dich zu sehen. Ich bin so froh, dass du wieder zu Hause bist.«
»Ich auch.« Sie seufzte. »Aber …« Sie schob ihren Vater von der Zeltklappe zurück und weiter in das Innere des Zeltes hinein. »Mum ist auf dem Weg hierher. Sie ist nicht glücklich.«
»Es geht doch nicht schon wieder um diese Drachenkriegersache, oder? Von diesem Zentaurenmist will ich nämlich nichts mehr hören.«
»Nein, nein.« Unter dem Blick ihres Vaters wandte sie die Augen ab.
Sulien schmunzelte. »Lass mich raten. Es hat etwas mit diesem Blitzdrachen zu tun.«
»Er sagt, dass er mich liebt.«
»Natürlich tut er das. Wem könnte das verborgen geblieben sein?«
»Also …«
»Vergiss meine Frage. Du bist genauso schlimm wie deine Mutter.« Er küsste sie auf die Stirn. »Du weißt ja, dass ich ihn wenigstens ein bisschen erschrecken muss.«
»Ich weiß. Ich glaube, das erwartet er auch.«
»Das nimmt der ganzen Sache den Spaß.«
»Ach, Daddy!«, lachte sie.
Ihre Mutter betrat das Zelt, und Rhona stammelte: »Äh, also … ich muss gehen.«
»Wie eine Ratte, die ein sinkendes Schiff verlässt«, rief ihre Mutter hinter ihr her.
»Bist du geflüchtet?«, fragte Vigholf, der neben dem Zelt stand und geduldig auf sie gewartet hatte.
»Ich wollte es nicht hören.« Vor allem nicht, weil sie »es« den ganzen Rückweg von Euphrasia bis hierher gehört hatte, bis Ghleanna schließlich gebrüllt hatte: »Hör auf damit, Bradana! Wir können es nicht mehr hören!«
Gute Götter, sie liebte ihre Tante Ghleanna.
»Weißt du was?«, meinte Vigholf.
»Du bist hungrig?«
»Ich verhungere.«
Sie ergriff seine Hand. »Dann sollten wir dir etwas zu essen besorgen, nicht wahr? Bevor du mir vor Hunger stirbst.«
»Bist du einverstanden?«, fragte Bradana ihren Gefährten.
»Ich habe kein Problem mit Blitzdrachen. Natürlich hat mein Volk auch nicht versucht, sie systematisch auszurotten.«
Bradana zuckte die Achseln. »Systematisch war das nicht.«
»Und was deine Frage angeht, lautet die Antwort: Ja, ich bin einverstanden. Er macht sie glücklich, er kümmert sich um sie, und dieser Drache kann mit einem großen Kriegshammer umgehen.«
»Er wird sie in den Norden mitnehmen, damit sie bei seiner Horde leben kann.«
»Ach ja? Ich bin mit dir gegangen, und es hat mir nicht geschadet.«
Bradana betrachtete die Klingen, die an Seilen von der Decke hingen. »Glaubst du nicht, dass sie weggeht, nur weil sie …«
»… von dir wegwill?«
Erneut zuckte sie mit den Schultern. »Ich weiß, dass ich sie ein wenig bedrängt habe. Ich habe von ihr mehr erwartet als von den anderen. Vielleicht tut sie das nur, um alldem zu entfliehen?«
Sulien legte den Arm um Bradanas Hals, zog sie an sich heran und küsste sie auf die Wange. »Wenn wir eines über unsere älteste Tochter wissen, dann ist es die Tatsache, dass sie ihre Geschwister niemals im Stich lassen würde, es sei denn für einen Drachen, den sie wirklich liebt. Wenn sie mit ihm geht, dann will sie es von ganzem Herzen. Weil sie ihn liebt. Und nicht bloß, weil sie vor irgendjemandem fliehen will.«
Bradana drängte sich an Sulien und legte den Kopf an seine Schulter. »Ich werde sie vermissen – diese unmögliche kleine Kuh.«
»Natürlich wirst du das. Über wen wirst du dich wohl beschweren, wenn sie weg ist? Autsch. Das war unnötig, Frau!«
Ragnar blieb stehen und seufzte. Laut.
»Was machst du da?«, fragte er die Drachin, die er liebte und die ihm die Arme um die Schultern geschlungen hatte.
»Ich will dich gefügig machen.«
»Darin bist du aber nicht sehr gut.«
»Das sagt jeder.« Sie ließ ihn los. Ragnar sah sie an und stellte bewundernd fest, dass sich die Belagerung der Insel nicht im Geringsten auf Prinzessin Keitas Kleidung ausgewirkt hatte. Ihr blaues Kleid glitzerte, ihr Schmuck aus Gold und Juwelen blinkte, aber sie trug noch immer keine Schuhe! Warum trug diese Frau keine Schuhe, wenn sie sich in menschlicher Gestalt befand? Gab es dafür moralische Gründe? War es eine Modesache? Welches Problem hatte sie mit Schuhen?
»Warum starrst du meine Füße an?« Sie hob eine Braue. »Erregen sie dich?«
»Keita …«
»Das ist es, nicht wahr?« Sie drückte die Zehen ihres rechten Fußes in die Erde, hob die Ferse ein wenig und sagte: »Sie sind anbetungswürdig. Wie ich selbst.«
»Ich habe dich vermisst, Keita«, sagte Ragnar zu ihr und machte allen Neckereien ein Ende. »Sehr.«
»Ach ja? Das höre ich gern.«
»Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?«
»Was soll ich denn sonst noch sagen?«
»Ich denke nicht, dass du irgendetwas sagen solltest. Es war nur eine Bemerkung.«
»Nun gut. Ich gehe jetzt zu meinen Brüdern.« Sie nickte, ging in die falsche Richtung davon, blieb stehen, drehte sich um und kam zurück. Sie schritt an ihm vorbei und blieb nach etwa zehn Schritten wieder stehen.
Dann wirbelte Keita die Schlange herum, rannte in seine Arme und umarmte ihn heftig. »Das ist alles deine Schuld!«, klagte sie.
»Was?«
»Wie sehr ich dich vermisst habe! Und wie viele Sorgen ich mir um dich gemacht habe. Es wäre schrecklich gewesen, wenn du verletzt oder sonst wie Schaden genommen hättest.« Sie wich von ihm zurück und betrachtete ihn. »Du hast doch keinen Schaden genommen, oder?«
»Es wird alles wieder verheilen.«
»Gut.« Sie legte ihm den Kopf an die Brust. »Glaub es oder nicht, aber ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn dir etwas zugestoßen wäre.«
Keita machte sich wieder von ihm frei und schlug ihm gegen den Brustkorb. »Was hast du bloß mit mir gemacht, Fremder? Ich betone ausdrücklich, dass du mich nicht mit deinem bösen Netz aus atemberaubendem Sex und bedingungsloser Liebe fangen wirst! Ich bin stärker!«
Und Ragnar seufzte – laut.
Auf dem Berg, der die Burg und das umgebende Gelände überblickte, setzte sich Rhiannon neben ihren jüngsten Nachkommen.
Seit er geschlüpft war, hatte sie gewusst, dass dieser Tag kommen würde. Für Fearghus und Briec war er ziemlich früh gekommen, für Morfyd recht spät. Und für Gwenvael und Keita … nun, für die beiden war er nie gekommen. Es war der Zeitpunkt im Leben eines jungen Drachen, in dem er kein Küken, kein Baby mehr war. Doch bis zum vollständigen Erwachsensein dauerte es noch ein paar Jahre. Für die meisten war es kein harter Übergang. Sie wurden einfach über Nacht vom naiven Drachenkind zur zynischen, unerträglichen Nervensäge. Aber Éibhear war schon immer anders gewesen. Klüger. Süßer. Sie hatte stets befürchtet, dass der Übergang für ihn nicht so einfach würde.
Nach dem, was Fearghus ihr gesagt hatte, würde es tatsächlich nicht leicht werden. Vor allem deshalb nicht, weil Éibhear sich für etwas die Schuld gab, das jedem von ihnen hätte passieren können. Und in gewisser Weise war es jedem von ihnen passiert. Als Mitglieder der königlichen Familie mussten sie Entscheidungen treffen und Dinge tun, die sich nicht immer gut oder richtig anfühlten, aber nötig waren. Austells Tod war zwar tragisch, aber so war der Krieg nun einmal. Als Soldat in Rhiannons Armee war dies das Risiko, das auch Éibhear eingehen musste. Und es war das Risiko, das Rhiannon einging, indem sie ihren Nachkommen erlaubte, in den Krieg zu ziehen, sich ein Schwert, eine Axt oder einen Hammer zu nehmen, gegen den Feind zu kämpfen und dabei ihr Leben aufs Spiel zu setzen. All das taten sie, um Thron und Königreich zu sichern.
Was konnte sie zu ihrem Sohn sagen, damit er sich besser fühlte? Welche Worte der Weisheit konnte sie ihm mitteilen, damit er am Ende sagte: »Oh, wenn es so ist, dann …«
Nein. Es gab nichts zu sagen. Nichts, was sie sagen oder tun konnte, würde ihren Sohn aufmuntern.
Im Augenblick wusste Rhiannon nur eines: Sie wusste, dass sie das süße Küken verloren hatte, das sie so angebetet hatte, seit sie kurz nach dem Schlüpfen sein niedliches, grinsendes Gesicht gesehen hatte. Welcher Drache würde die Stelle dieses blaugeschuppten Kükens einnehmen? Rhiannon wusste es noch nicht.
Da Rhiannon keine Worte fand, um Éibhear das zu erleichtern, was er gerade durchmachte, legte sie einfach nur den Arm um ihn und zog ihn an sich, bis sein Kopf an ihrer Schulter ruhte. Und so saßen sie auf dem Hügel. Sie blickten auf die Leichen der Stammeskrieger, die noch nicht weggeräumt worden waren, und wünschten sich, sie könnten die Zeit zurückdrehen, doch beide wussten, dass das niemals möglich war.