13 Rhona hockte vor der gut verborgenen Tür. Sie war in die Burgmauer eingelassen und wurde zu beiden Seiten von Bäumen verdeckt. Hier wartete sie auf das Signal, das ihr den richtigen Zeitpunkt zum Aufbruch mitteilen würde.
Sie trug Reisekleidung, hatte aber an allen möglichen Stellen, auf die sie und ihr Vater gekommen waren, Waffen versteckt. Sie war so gut gerüstet, wie sie sein konnte. Hätte sie lieber etwas anderes getan? Irgendetwas anderes? Ja. Aber dieses Verlangen änderte nichts.
Es ertönte Waffengeklirr, und sie wusste, dass ihre Sippe die Stammeskrieger angegriffen hatte, die sich auf der anderen Seite des Waldes neu formiert hatten. Es waren viele; sie hatten die gesamte Burgmauer umstellt, aber für Rhona war es nur wichtig, dass diejenigen, die sich in der Nähe der Tür befanden, abgelenkt wurden.
Sie drückte die Tür einen Spalt auf, warf einen Blick hinaus und war bereit, jederzeit …
Da zuckte Rhonas ganzer Körper zusammen und sie blickte langsam über ihre Schulter … denn hinter ihr kauerte etwas.
»Was machst du …«
Ein Ruf erschallte, und Vigholf schob sie vorwärts. »Los«, flüsterte er.
Rhona war nicht in der Lage, sich ihm in diesem Augenblick zu widersetzen, und so taumelte sie durch die Tür, hielt sich dicht am Boden und bewegte sich schnell. Sie suchte Schutz hinter den Bäumen, blieb alle paar Schritte stehen und vergewisserte sich, dass niemand sie gesehen hatte. Der Blitzdrache befand sich unmittelbar hinter ihr und hielt mit ihr Schritt, wie er es immer tat.
Sie blieb bei einem alten Baum mit einem dicken Stamm stehen. Als sie um ihn herumspähte, sah sie zwei Stammeskrieger zu Pferd. Sie saßen einfach da, während in der Nähe die Hölle los war.
Rhona hob die Hand, und Vigholf blieb stehen. Sie deutete auf die Männer und fuhr sich waagrecht mit dem Daumen über die Kehle. Vigholf nickte, und sie schlichen weiter.
Der Mann, auf den Rhona zulief, hörte und sah sie nicht, und sein Pferd gab keine Warnung von sich. Sie riss den Mann aus dem Sattel, legte ihm die Hand auf den Mund und rammte ihm ein Messer in die Kehle, sodass er nicht mehr sprechen oder um Hilfe rufen konnte. Sie zog die Klinge heraus, rammte sie ihm wieder ins Fleisch und riss sie diesmal quer von einer Seite zur anderen.
Der Mann, auf den Vigholf zulief, wurde durch sein Pferd auf den Blitzdrachen aufmerksam gemacht, es bäumte sich in Panik auf. Vigholf rammte das Tier, und es ging zu Boden. Mit seiner Axt hieb er dann dem Stammeskrieger den Kopf vom Rumpf, bevor dieser ein Wort hatte sagen können.
Wie es Rhona gelingen sollte, auf einem Pferd zu reisen, ohne dass Vigholf die armen Tiere andauernd verängstigte oder trat, wusste sie noch nicht. Aber darüber konnte sie sich später Gedanken machen.
Sie und Vigholf zerrten die Leichname der Männer hinter den großen Baum und schlugen dem Pferd, das nicht bewusstlos war, gegen den Bauch, sodass es davonlief. Das andere Tier hob Vigholf auf und warf es sich über die Schulter. Er trug es, bis sie den Fluss erreichten. Am Ufer legte er das Pferd ab, und gemeinsam folgten sie dann dem Wasserlauf, bis sie eine Stelle erreicht hatten, an der sie ihn durchqueren konnten. Nun hielten sie auf die Westlichen Berge zu.
Edana und ihre beiden Schwestern Nesta und Breena waren mit der täglichen Überprüfung ihrer Waffen beschäftigt; sie zählten sie und suchten nach Schwachstellen im Stahl oder am Griff. Nichts war schlimmer als ein Schwertbruch mitten in der Schlacht. Das war eine Lektion, die Rhona ihnen beigebracht hatte. Deren Gesicht war das erste gewesen, das Edana gesehen hatte, als sie aus dem zerbrochenen Ei geschlüpft war. Ihr Auge war geschwollen gewesen, denn sie hatte einen Schlag von Nesta erhalten, und sie hatte ein schwaches Hinterbein gehabt, denn Breena hatte das verdammte Ding beinahe abgebissen. Ihre Mutter war in irgendeine Schlacht gezogen, bevor sie auf die Welt gekommen waren, und so hatte Rhona sie aufgezogen, auch wenn sie selbst damals noch nicht ganz erwachsen gewesen war.
Die meisten Drachen bekamen nicht derart viele Nachkommen in so kurzer Zeit, doch Bradana hatte mit dem Brüten viel länger gewartet als ihre Schwestern, und da sie sehr konkurrenzbewusst war, hatte sie dann versucht, ihren Nachteil wettzumachen. Allerdings gefiel es ihr nicht, zu Hause zu bleiben, während das Geschäft des Tötens lockte. Also war sie davongezogen, bevor ihre Drillinge geschlüpft waren, und hatte Rhona die Arbeit überlassen. So hatte sie es bei all ihren Nachkommen getan.
Als die drei Schwestern ihre eigenen Waffen untersucht hatten, wechselten sie die Plätze und überprüften die Waffen der anderen. Ihre Mutter befand das als unnötig. »Kennt ihr eure eigenen Waffen etwa nicht?«, sagte sie immer dann, wenn sie sah, dass die Drillinge dies taten. Aber oft bemerkten Edanas Schwestern etwas, das ihr selbst entgangen war, und sie bemerkte Dinge, die die beiden anderen übersehen hatten. Was hatte es für einen Sinn, ein Risiko einzugehen? Wenn sie die Zeit dazu hatten, konnten sie diese zusätzliche Vorsichtsmaßnahme genauso gut durchführen. Das schadete nichts.
»Hallo, ihr beiden.«
Edana machte sich nicht einmal die Mühe, einen Seufzer auszustoßen. »Wir sind zu dritt, Mutter. Es sei denn, du schenkst einer von uns mit voller Absicht keine Beachtung.«
»Keine Widerworte, kleine Dame. Wo ist eure Schwester?«
Nesta schnaubte. »Du musst schon genauer fragen.«
Ihre Mutter knurrte. Die Einzige, nach der sie je suchte, war Rhona, und alle wussten das. Doch es machte Spaß, ein Spielchen mit ihr zu treiben.
»Rhona. Wo ist sie?«
»Hier irgendwo«, sagte Breena. »Hab sie vorhin noch gesehen. Ist nicht mehr als zehn Minuten her. Sie ist in diese Richtung gegangen.« Sie deutete auf eine beliebige Stelle.
»Götterverdammt. Immer dieses Mädchen!«, nörgelte ihre Mutter, bevor sie davonmarschierte.
Edana wartete, bis Bradana außer Hörweite war, und fragte dann die beiden anderen: »Habt ihr etwas von Rhona gehört?«
Sie schüttelten den Kopf. »Aber wir dürfen Mum nicht wissen lassen, dass sie weg ist. Ihr wisst ja, wie sie ist«, rief Nesta ihnen in Erinnerung.
»Hätte Rhona gewollt, dass sie es erfährt, dann hätte sie es ihr gesagt«, fügte Breena hinzu.
Nesta nickte. »Und wenn sie in Schwierigkeiten stecken würde, wüssten wir es.«
»Außerdem haben wir hier im Augenblick andere und dämlichere Schwierigkeiten zu bewältigen«, seufzte Breena.
Alle drei schauten hinüber zu der Stelle, wo ihre Vettern auf dem Höhlenboden herumwälzten und versuchten, einander Schaden zuzufügen. Und das alles nur wegen einer Frau! Einer Menschenfrau!
Normalerweise hätte sich Edana niemals in etwas so Lächerliches eingemischt, doch Rhona war nicht hier, um sich darum zu kümmern. Wenn sie die Illusion aufrechterhalten wollten, dass ihre Schwester noch bei ihnen war, dann mussten sie etwas unternehmen, denn Rhona würde es ebenfalls tun. Sobald die Dinge außer Kontrolle gerieten, würde ihre Mutter wissen, dass etwas nicht stimmte.
»Ich nehme mir Celyn vor«, sagte sie zu ihren Schwestern, während sie sich aufrichtete. »Und ihr beiden kümmert euch um Éibhear.«
»Warum bekommen wir immer Éibhear?«, jammerte Nesta. »Er ist so groß wie ein Berg und passt nicht auf, gegen wen er seine großen Pranken schwingt.«
»Ja«, stimmte Edana ihr zu. »Deshalb gehört er euch beiden. Und jetzt bewegt euren Hintern, bevor Mum etwas bemerkt.«
Rhona kauerte neben einem kleinen Bach, zog den Handschuh aus und führte mit der hohlen Hand Wasser an ihren Mund. Es war kalt und erfrischend und wirkte nach der langen Reise belebend. Sie befand sich noch in den Dunklen Ebenen, war aber weit entfernt von der Schlacht auf der Insel Garbhán, sodass sie ein wenig Zeit zum Nachdenken hatte.
Verharschter Schnee und Eis knirschten hinter ihr. Rhona befand sich noch in der Hocke; sie wirbelte herum und hielt den Speer vor sich. Der Kriegshammer, den ihr Vater geschaffen hatte, schlug dagegen und drückte den Speer zur Seite, riss ihr die Waffe aber nicht aus der Hand.
»Ich bin’s«, sagte Vigholf rasch zu ihr.
»Ich weiß«, erwiderte Rhona ehrlich.
»Und warum hast du mich dann angegriffen?«
Rhona richtete sich zu voller Menschengröße auf, aber sie musste noch immer den Kopf heben, damit sie in das Gesicht des Blitzdrachen schauen konnte. »Warum wohl? Warum bist du überhaupt hier?«
»Was glaubst du denn? Hast du wirklich gedacht, ich lasse dich allein losziehen?«
»Also hast du meinen Onkel belogen. Du bist nicht der Meinung, dass ich allein …«
»Bevor du diesen dummen Satz beendest, sollte ich dir etwas klarmachen. Wenn man mich auf eine solche Reise schicken würde, hätte ich nicht die geringste Lust, mich allein aufzumachen. Ich bräuchte jemanden, der mir den Rücken stärkt. Jemanden, der auf mich aufpasst, egal in welchen Problemen ich stecke. Ich habe also weder deinen Onkel noch sonst jemanden belogen. Ich weiß, dass du das hier allein durchziehen kannst, aber da ich die Zeit habe, dich zu begleiten und dir Schutz zu gewähren, werde ich es tun.«
»Was ist mit deinem Bruder?«
»Was soll mit ihm sein?«
»Wenn Annwyls Armee marschiert, dann rüstet sie sich für die letzte Schlacht – für die Schlacht, die diesen verdammten Krieg beenden und uns zurück in unser normales Leben führen wird.«
»Der Krieg ist für den Nordländer das normale Leben, Sergeantin. Sobald wir die Eisendrachen für euch Feuerspucker erledigt haben, werden wir uns die Stachler aus den Eisländern vornehmen. Zweifellos sind sie inzwischen bereits in unser Territorium eingedrungen, da sie wohl glauben, dass wir für immer verschwunden sind. Daher wartet immer noch ein großes Töten auf mich, wenn ich nach Hause zurückkehre.«
»Aber …«
»Das ist alles!«, unterbrach er sie. »Ich will nichts mehr darüber hören. Ich gehe mit dir. Nimm es einfach hin.«
»Na gut. Dann sollten wir aber ein paar Dinge klarstellen, bevor wir weiterreisen.« Sie rammte den Schaft ihres Speers in den Boden und packte ihn mit festem Griff. »Ich weiß, dass es nur schwer in deinen harten Nordländerschädel gehen wird, aber ich bin eine Soldatin der Drachenkönigin und habe schon mehr als zwei Jahrhunderte überlebt, ohne dass du mich in all meinen Schlachten beschützt hättest. Ich werde es nicht dulden, dass du dich in mein Leben einmischst. Du kannst mir den Rücken frei halten, aber das ist alles. Verstanden?«
»Wir passen auf einander auf, Feuerspuckerin. Ich habe nicht vor, mich in deine Kämpfe einzumischen, wenn es nicht sein muss.« Er deutete auf ihren Speer. »Mit diesem Ding hast du mich schon oft genug gestochen.«
»Ja, aber beim ersten Mal war es ein Unfall. Ich kann nicht versprechen, dass das nicht wieder passiert.«
»Na gut.« Er schaute sich um und zuckte mit den Schultern. »Und was machen wir jetzt?«
»Wir gehen weiter. Je schneller wir zu Morfyd gelangen, desto besser. Es wäre einfacher, wenn wir reiten könnten, aber bei deinen Schwierigkeiten mit Pferden …«
»Was soll das heißen?«
»Du hast gerade eines bewusstlos geschlagen.«
»Ich wollte es ruhigstellen.«
Rhona schüttelte den Kopf, ging wieder in die Hocke und füllte ihre Feldflasche mit frischem Wasser. Als sie damit fertig war, stand sie auf und lief los. »Komm schon, Blitzdrache!«, rief sie ihm zu. »Beweg deinen Hintern. Wir haben nicht die ganze Nacht Zeit!«
Sie hörte, wie er seufzte und murmelte: »Ich hasse Laufen.« Doch dann war er an ihrer Seite und hielt mit ihr Schritt, während sie tief in das Grenzgebiet zwischen den Südländern und den Westlichen Ebenen hineinliefen.
»Wo ist sie?«
Eirianwen, die Göttin des Krieges, trat über die Leichen der Gefallenen und ging zu ihrem Gefährten Rhydderch Hael, dem Vatergott aller Drachen. Dabei bewunderte Eir wieder einmal die Schönheit seiner Gestalt, wie sie es seit Anbeginn der Zeit tat. Er war ein schwarzer Drache mit Schuppen, die im Licht der beiden untergehenden Sonnen glänzten; auf seinem Kopf thronten zwölf strahlend weiße Hörner; seine schwarze Mähne war mit Haarsträhnen aller Farben des Regenbogens durchwirkt und hing bis auf den blutgetränkten Boden hinunter. Seinen Schwanz konnte sie momentan nicht sehen, denn er erstreckte sich zu weit nach hinten, doch er erinnerte sie immer an ihr Lieblingsschwert. Er war groß, breit und hatte eine Spitze, mit der er alles zerstören konnte, was er berührte.
Doch Eirs Liebe zu dem Drachen bedeutete nicht, dass sie ihm diesen Zentaurenmist abnahm. »Einen guten Tag wünsche ich dir, mein Geliebter.«
»Treib keine Spielchen mit mir, Eir«, entgegnete er harsch. »Wo ist sie?«
»Wer? Von wem redest du?«
»Von Annwyl der Blutrünstigen.«
»Oh. Von deinem Schoßtierchen.« Eir steckte ihr Schwert zurück in die Scheide. »Ich habe keine Ahnung, wo sie ist.«
»Eir …«
»Wirklich nicht! Sie geht mich nichts an. Das ist ganz allein deine Sache.«
»Fang nicht schon wieder damit an. Sie war tot, und du hast sie zurückgeholt.«
»Das habe ich für Dagmar Reinhardt getan.«
»Für dein Schoßtierchen.« Sein Blick schweifte über das Schlachtfeld. »Wie ich sehe, bist du fleißig gewesen.«
»Die Schönheit dieser Welt besteht darin, dass es in ihr so viele Kriege gibt, unter denen ich auswählen kann.«
»Was ist im Tal von Euphrasia los?«
»Das ist nicht mein Krieg, Geliebter. Auch wenn er mich prächtig unterhalten hat. Beide Seiten haben ausgezeichnete Strategen.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Du weißt, wer dahintersteckt, Rhy. Er wollte schon immer deine Macht haben. Er will deinem Reich nachstreben.«
»Was glaubst du, wie weit er gehen würde?«
»Meinst du damit, ob ich glaube, dass er sich mit deinem kleinen Schoßtierchen davonmachen könnte?«
»Nenn sie nicht so.«
»Nein. Ich glaube nicht, dass er den Mumm dazu besitzt.«
»Aber?«
»Warum glaubst du, dass Annwyl nur auf dich oder jemanden, der hinter dir her ist, anziehend wirkt? Was den Rest der Götter angeht, so habt ihr sie nicht bedacht. Das bedeutet, dass sie für jeden Gott verfügbar ist, der sie dazu bringen kann, sich mit ihm zusammenzutun. Bei den Menschen ist sie eine mächtige Verbündete.« Eir drückte ihre Hand in den Nacken ihres Gefährten. »Willst du, dass ich mich darum kümmere?« Sie grinste. »Kriege sind nun einmal mein Gebiet.«
»Und was ist mit dem Gemetzel hier?«
»Pah.« Sie zuckte die Schultern. »Wenn du ein Schlachtfeld voller Leichen gesehen hast, dann hast du alle gesehen.«
Rhy wandte den Blick ab und schüttelte den Kopf. »Nein. Du hast recht. Sie geht mich nichts mehr an.«
»Wie du willst.« Sie küsste ihn auf die Schnauze und ging davon.
»Wo ist Nannulf?«, fragte er, als sie auf der Suche nach Seelen über die Toten hinwegschritt.
»Keine Ahnung. Der Wolfsgott Nannulf mag zwar mein Reisegefährte sein, Liebster, aber wir sind nicht an der Hüfte zusammengewachsen. Ich bin mir allerdings sicher, dass er irgendwo in der Nähe ist …«