20 Eigentlich sollten sie schlafen. Mum würde nicht glücklich sein, wenn sie nicht schliefen. Aber es machte so großen Spaß. Wie ein Picknick … im Kerker! Wie also hätten sie schlafen können? Stattdessen blieben sie wach und unterhielten sich. Natürlich nicht laut. Mum hätte es nicht gemocht, wenn sie schwatzten. So nannte sie es, wenn andere es taten. Schwatzen.
Also unterhielten sie sich in Gedanken miteinander. So machten sie es die ganze Zeit. Es machte Spaß!
Sie waren so eifrig damit beschäftigt, in Gedanken miteinander zu reden, dass sie es beinahe nicht bemerkt hätten. Aber ihre Cousine Tally bemerkte es. Sie bemerkte immer alles als Erste. »Sie ist eure erste Verteidigungslinie«, sagten ihre Freunde über sie. Sie hatten eine Menge Freunde. Freunde, die Mum und die anderen niemals sehen konnten. Mit Ausnahme von Tante Dagmar, aber die war nie da, wenn die Freunde sie besuchen kamen. Nicht mehr seit jenem Tag, als einer ihrer Freunde sie und Tally und Talan besucht hatte. Damals hatte sie noch in der Krippe gelegen. Nicht in ihrem Bett für große Mädchen. Tante Dagmar war so wütend auf ihren Freund gewesen, dass er nie mehr zurückgekommen war, wenn sie sich in der Gegend befand. Genauso wenig wie ihre anderen Freunde. Sie hatten Angst vor Tante Dagmar – aber sie versuchten, es zu überspielen. Wenn sie zu Besuch kamen, waren sie schön und glitzernd; sie glänzten wie helles Licht in der Dunkelheit. Manchmal musste sie wegsehen, denn es verbrannte ihr die Augen.
Diejenigen dagegen, die durch die Hintertür hereingekrochen kamen, waren nicht schön und glitzernd. Sie waren böse. Sie taten den beiden Wachen weh, die vor der Tür postiert waren, während die Hexen irgendwelchen Geräuschen in einem anderen Korridor auf den Grund gingen. Bei all dem Kämpfen draußen vor den Burgmauern glaubten die Hexen nicht, dass drinnen echte Gefahr lauern konnte. Aber sie war da. Hier lauerte Gefahr, und zwar so lange, bis Daddy endlich wieder zu Hause war. Daddy und die anderen.
Tally fiel auf die Knie. Tally hasste alles, was von draußen kam. Schlimmer noch, sie hatte diejenigen gemocht, die die Tür bewachten. Sie waren auch schön, auch wenn sie nicht geglitzert hatten. Tally mochte alles Schöne. Aber sie mochte diese Männer nicht, die da hereinkrochen. Sie mochte sie ganz und gar nicht. Und wenn sie sie nicht mochte, dann würde auch Talan sie nicht mögen.
Diese bösen Männer bewegten sich schnell und leise. Sie weckten nicht einmal die Hunde auf, sondern brachten sie um, um ihr und Tally und Talan wehzutun. Sie wusste nicht warum. Was hatte sie denn getan? Und was hatten Tally und Talan getan?
Wie immer bewegte sich Tally als Erste. Ohne den geringsten Laut schoss sie vor. Die Männer sahen sie nicht kommen. Sie hatten sie nicht erwartet. Sie ist zu klein, würden sie sagen. Nur ein kleines Mädchen. Aber Tally landete auf dem Rücken eines der schlafenden Hunde, mit denen sie jeden Tag spielten, stieß sich von ihm ab, wirbelte herum und rammte ihr Schwert dem ersten bösen Mann in die Brust. Tally ließ den Griff der Waffe los, fiel zu Boden, und der Mann taumelte rückwärts gegen seinen Freund. Nun zog Talan sein Schwert und traf den zweiten Mann in den weit aufgerissenen Mund. Das war gut, denn beinahe hätte er alle aufgeweckt. Und Mum wäre wütend gewesen. Sie hätte gejammert und geweint, und sie alle hätten weit weggehen müssen.
Jetzt bewegten sich die Männer nicht mehr. Keiner von ihnen. Weder die bösen Männer noch die netten Soldaten, die sie zum Lachen brachten und es zuließen, dass Tally mit dem Schwert auf ihre Schilde eindrosch.
Sie wollte das alles nicht mehr sehen. Sie wollte nicht, dass Mum sich ärgerte. Wenn Mum wütend war, machte sie das traurig. Also öffnete sie das, was der schöne Ren eine »Pforte« nannte, und schickte die bösen Männer zurück zu ihren Freunden vor das Burgtor, und die netten Männer schickte sie zu den netten Soldaten, die sich um sie kümmern würden. Es war nicht schwer, zwei Pforten gleichzeitig zu öffnen und alle hindurchzuschicken, sodass keiner traurig war. Sie wusste nicht, warum es für sie nicht schwer war, denn der schöne Ren tat immer so, als sei es das sehr wohl.
Aber dann drehten sich ihr Vetter und ihre Cousine zu ihr um und sahen sie finster an.
Unsere Schwerter?, fuhr Tally sie in ihrem Kopf an.
Sie wollte weinen, aber sie wusste, dass Tally Heulsusen verabscheute. Also tat sie das, was Mum immer tat, wenn sie an einer der Hexen vorbeikam. Sie hob zwei Finger und schleuderte die beiden in die Luft.
»Seid ihr drei noch auf?«, fragte Ebba. Sie hatte ebenfalls in dem Zimmer geschlafen. Sie konnte sogar im Stehen schlafen. Wie richtige Pferde!
Rhian wünschte, sie hätte ebenfalls vier Beine und Hufe. Dann könnte sie mit den großen Pferden laufen und den ganzen Tag in der Sonne spielen.
»Schlaft weiter, ihr Kleinen, bevor Talaith mich wegen euch köpft.« Ebba lächelte sie an und legte sie wieder ins Bett. Ebba war immer so nett, sogar wenn sie wütend war.
Als sie wieder in den Betten lagen, ging Ebba zurück auf die andere Seite des Zimmers und zu all ihren Büchern. Ebba las gern. Sobald sie weg war, erboste sich Tally: Was sollen wir denn jetzt ohne unsere Schwerter machen? Was ist, wenn wir wieder angegriffen werden? Du bist ein hoffnungsloser Fall!
Das machte Rhian wahnsinnig. Sie boxte ihrer Cousine gegen den Arm, doch Tally verdrehte nur die Augen, drehte sich um und zog sich das Laken über den Kopf. Und Talan schlief bereits. Er konnte bei fast allen Gelegenheiten schlafen.
Jetzt, wo keiner mit ihr redete, konnte auch Rhian ein wenig Ruhe finden.
Der Kommandant der mächtigen Reiter der Westlichen Berge besprach mit seinen Männern den Plan für den nächsten Angriff. Er wollte, dass dieser Ort Stein um Stein zu Ehren ihres Pferdegottes niedergerissen wurde. Falls die Königin der Südländer jemals hierher zurückkehren sollte – und das war zweifelhaft –, dann wollte er dafür gesorgt haben, dass sie nur noch Schutt und die Leichen ihrer Freunde und Familie vorfand.
Er besprach gerade mit seinen Männern eine mögliche Schwachstelle in der Südwand, als ein heller Blitz hinter ihm aufloderte. Er und seine Männer hoben die Köpfe und drehten sich langsam um.
Die beiden Assassinen – zwei ihrer besten –, die er erst vor wenigen Stunden zur Ermordung von Annwyls Dämonenkindern ausgesandt hatte, lagen auf dem Boden hinter ihnen.
Sein Stellvertreter ging zu den Leichnamen, zog die kleinen Waffen aus den Körpern der Assassinen und hielt sie hoch. Es waren eindeutig keine Dolche, sondern winzige Schwerter, was den Stellvertreter zu der Frage veranlasste: »Haben sie dadrinnen etwa nicht nur Zentauren, sondern auch Zwerge?«