34 Bei den Truppen der Südländer und Nordländer verbreitete sich rasch die Nachricht, dass die Eisendrachen mit den langen Haaren und den schwarzen Schärpen über ihren Brustpanzern in Wirklichkeit zu den Rebellentruppen gehörten. Vigholf musste zugeben, dass er von ihren Kampfkünsten beeindruckt war. Die Rebellen waren grausam und gnadenlos gegenüber jenen, die früher einmal zu ihnen gehört hatten. Aber das war vermutlich nur deshalb so, weil sie und diejenigen, die sie liebten, selbst so grausam behandelt worden waren.
Doch keinem von ihnen gelang es, in Thracius’ Nähe zu kommen. Mit einem Blick sah Vigholf, dass es den jungen König schier verrückt machte, seinem Onkel so nahe zu sein, ihn aber nicht erreichen zu können. Wenn man bedachte, was sein Onkel seiner Tochter erlaubt hatte, Gaius’ Schwester anzutun, musste es Gaius danach gelüsten, seine Klauen um den Hals seines Onkels zu legen und das Leben aus ihm herauszupressen. Der König versuchte immer wieder, über die kämpfenden Massen hinwegzufliegen. Doch jedes Mal wurde er von den Truppen der Eisendrachen auf die Erde geholt, bevor er nahe genug an Thracius herangekommen war. Den Eisendrachen gelang es nicht, den jungen König zu töten – obwohl sie es andauernd versuchten –, aber sie hielten ihn erfolgreich von ihrem Oberherrn fern.
Ragnar packte Vigholf am Arm und zog ihn zu sich heran. »Ich habe Meinhards Truppen aus den Tunneln geholt. Sie kommen gleich von rechts. Nimm deine eigenen Truppen und umzingle den Feind von der linken Seite. Fearghus und ich werden die Eisendrachen zurückdrängen. Verstanden?«
Allerdings. Es war, als würde man eine Ratte in einer Zange fangen und zudrücken.
Vigholf stieß einen leisen Pfiff aus, und ohne weitere Umschweife brachten er und seine Truppen sich in Stellung.
Rhona flog in die Berghöhle, die sie in den letzten fünf Jahren ihr Zuhause genannt hatten. Ein Zuhause, das nun mit den Leichen von Kameraden und Feinden übersät war.
Knurrend und wütend auf sich selbst, weil sie die ganze Zeit hindurch nicht bemerkt hatte, was die Eisendrachen planten, bahnte sie sich einen Weg durch die kämpfenden Truppen. Sie bog um eine Ecke und konnte gerade noch ihren Schild heben, als ein Breitschwert sich in ihn rammte. Fast hätte es ihr den Schädel gespalten.
»Rhona?«
Rhona senkte den Schild. »Mum.«
Sie erwartete, dass ihre Mutter sie ausschimpfen würde, weil sie sich angeschlichen hatte, statt sich dafür zu entschuldigen, dass sie ihre älteste Tochter beinahe getötet hatte. Doch stattdessen schob Bradana die Verstümmlerin Rhonas Schild beiseite und – umarmte sie!
»Mum?«
»Deine Schwestern haben mich lange angeschwindelt, und als sie mir endlich gesagt haben, was ich wissen wollte, musste ich hören, dass du bei Annwyl bist. Gute Götter, Mädchen, wir hätten dich für immer verlieren können!«
»Es geht mir gut, Mum. Wirklich.« Und weil sie in der Stimmung dazu war, fügte Rhona hinzu: »Übrigens bin ich verliebt.«
Ihre Mutter zuckte zusammen. »Verliebt? In Annwyl?« Bradana zuckte die Schultern. »Weißt du, ich habe schon immer vermutet … ach, es spielt keine Rolle. Aber sie ist doch mit Fearghus zusammen.«
»Nein, Mum.« Rhona bezwang den Drang, ihrer eigenen Mutter eine Ohrfeige zu verpassen. »Es ist Vigholf.«
Bradana trat von ihr zurück. »Vigholf? Dieser … dieser …« Ein Eisendrache versuchte, von hinten an Bradana vorbeizulaufen, aber Rhonas Mutter drehte sich um, hackte den Drachen in zwei Stücke, riss ihr Breitschwert aus seinem Leib, stellte sich wieder vor ihre Tochter und fragte: »Dieser Blitzdrache?«
»Ja.« Rhona fuhr ihrer Mutter mit der Krallenspitze über die Wange. »Dieser Blitzdrache. Wenn du mich jetzt bitte entschuldigst – ich muss den anderen helfen.«
»Wage nicht, von mir wegzufliegen, kleines Mädchen!«
»Du musst warten, Mum. Ich muss töten gehen!«
Rhona flog durch mehrere Höhlen und metzelte die Eisendrachen nieder, wo immer sie sie antraf. Als sie die Höhle mit dem Tunnel erreichte, entdeckte sie Celyn und flog an seine Seite.
»Celyn!«
»Rhona!« Er rammte seinem Gegner den Schild ins Gesicht und schlug den Eisendrachen damit bewusstlos. »Den Göttern sei Dank, dass du hier bist. Wir müssen Éibhear retten.«
»Wo ist er?«
»Noch im Tunnel.«
»Du hast ihn dort zurückgelassen?«
»Er wollte nicht weggehen.« Er rannte zurück zum Tunneleingang; Rhona folgte ihm.
Beide blieben kurz vor dem Eingang stehen, und Rhona nahm den Anblick all dieser Eisendrachen in sich auf. Nun ja, all der Leichen eher. Die Elitesoldaten waren zerschmettert, aufgeschlitzt und zu einer roten Masse verwandelt worden, sodass ihre eigenen Mütter sie nicht mehr erkannt hätten. Rhonas Mutter hingegen wäre stolz auf ein solches Werk.
»Siehst du?«, meinte Celyn.
»Das hat Éibhear getan?«
»Sieh es dir nur an.«
Sie schritt über die Leichen hinweg und schaute in den Tunnel. Éibhear war noch immer bei der Arbeit. Er schwebte über dem eingebrochenen Tunnelboden und den Reihen der Speere darunter, während er mit einem Kriegshammer und den bloßen Krallen alle und jeden tötete, der ihm in die Quere kam.
»Er macht sich für den Tod von Austell verantwortlich«, erklärte Celyn hinter ihr. »Aber wenn jemand die Schuld daran trägt, dann sind wir beide es.«
»Mach dir darüber jetzt keine Gedanken. Gib mir Rückendeckung; ich will mit ihm reden.«
»Ich bleibe dicht hinter dir.«
Rhona flog in den Tunnel und schwebte über dem eingestürzten Boden. Sie sah Austells Leichnam und bedauerte ihre Vettern. Kein Schmerz kam dem Verlust eines Kameraden gleich. Schlimmer noch – sie kannte Éibhear gut genug und wusste, dass er die Schuld für den Tod seines Freundes ganz allein auf sich nehmen würde. Hätte sie die Zeit dazu gehabt, hätte sie sich neben ihn gesetzt und mit ihm geredet. Sie hätte ihm verständlich gemacht, dass im Krieg alle aufeinander aufpassen mussten, dabei aber trotzdem immer die Gefahr bestand, einen Kameraden zu verlieren, egal wie aufmerksam man war. Das hätte sie ihm gesagt, wenn sie die Zeit dazu hätte – aber die hatte sie nicht.
»Éibhear? Éibhear!«
Der Blaue, der eifrig damit beschäftigt war, die Schnauze eines Feindes, die er fest umklammet hielt, zu zerschmettern, drehte sich langsam zu ihr um. Als sich der Eisendrache, den er festhielt, nicht mehr bewegte, ließ Éibhear ihn fallen. Rhona flog etwas näher an ihn heran, und nun erst sah sie die ganze Anzahl der Eisendrachen, die nicht an Éibhear vorbeigekommen waren. Die Anzahl war … beeindruckend.
»Weißt du, du hattest recht«, sagte er zu ihr. Rhona erkannte, wie verletzt er war. »Du hast mich gewarnt, und ich habe nicht auf dich gehört. Jetzt ist mein Freund tot.«
»Hör auf damit, Éibhear. Du hast Austell nicht getötet.«
»Doch, das habe ich. Ich wollte nicht aufhören. Jetzt ist er tot, und das ist meine Schuld.«
»Éibhear, das ist nicht deine Schuld. Und Celyns Schuld ist es auch nicht.«
»Doch, es ist meine Schuld.«
»Éibhear, hör auf damit. Sofort. Wenn du jemandem die Schuld geben willst, dann Thracius.«
Éibhear kniff die Augen zusammen und sah sie eindringlich an. »Thracius?«
»Jawohl. Ohne ihn wären wir überhaupt nicht hier. Aber wir dürfen nicht herumlaufen und nach jemandem suchen, dem wir die Schuld geben können, sondern wir müssen – Éibhear, nein!«
Rhona sah zu, wie ihr Vetter mit seinem Kriegshammer gegen die Höhlenwand schlug, immer wieder auf sie eindrosch. Celyn flog neben Rhona, aber sie fing ihn ab, bevor er einen Versuch machen konnte, Éibhear aufzuhalten.
Nach einigen weiteren Schlägen flog Éibhear ein wenig zurück, stieß eine Flamme aus und schoss aus der Jahrtausende alten Höhle, die bisher allem widerstanden hatte – außer der Wut eines Cadwaladr.
Vigholf und seine Truppen näherten sich den Eisendrachen von der einen Seite, während Meinhard von der anderen Seite heranrückte. Fearghus, Ragnar und Gaius trieben den Feind von der Mitte aus zurück. Und obwohl sich das Schlachtenglück zu ihren Gunsten änderte, war es noch immer unmöglich, an Thracius heranzukommen. Er war von einer mächtigen Elitelegion umgeben, und wenn er wollte, konnte er einfach davonfliegen. Natürlich würden sie ihn verfolgen, aber das bedeutete nicht, dass sie ihn auch erwischten.
Doch all das war zunächst ohne Bedeutung. Zunächst einmal ging es nur darum, den Oberherrn aufzuhalten.
Sie bewegten sich weiter vor, wehrten die Eisendrachen ab und drängten sie zurück. Sie waren bereits in Thracius’ Nähe, und Vigholf bemerkte, dass Gaius seinen Angriff vorbereitete. Doch Thracius gab seinen Wachen ein Zeichen und breitete seine Schwingen aus. Entweder wollte er sich zu einer neuen Stellung begeben oder fliehen.
Doch dann sah Vigholf sie. Die junge Drachin bahnte sich ohne Schwierigkeiten einen Weg mitten durch Thracius’ Verteidigungsring. Sie trug keine Rüstung. Sie hatte keine Waffen. Sie hatte alles getan, um nicht bedrohlich zu wirken. Und es schien zu funktionieren. Niemand bemerkte sie – bis sie plötzlich von hinten auf Thracius zusprang und ihm die schwarzen beschuppten Arme um den Hals schlang.
»Gütige Götter«, murmelte Vigholf. Dann schrie er: »Branwen! Nein!« Aber Thracius packte die Drachin und warf sie von sich. Sich überschlagend stürzte sie gegen die anderen Soldaten. Fearghus befahl seinen Truppen sofort, seiner jungen und sehr dummen Cousine zu Hilfe zu eilen.
Vigholf führte seine Truppen ebenfalls zu ihr, doch dann begriff er, dass Brannie nur ein Ablenkungsmanöver gewesen war. Denn die wahre Gefahr für Thracius – der gerade damit beschäftigt war, seinen Soldaten zu befehlen, die »unverschämte Kleine« zu töten, die er soeben von sich geschleudert hatte – befand sich noch immer hinter ihm. Es war eine Frau mit brauner Hautfarbe, die die schwere und unhandliche Kriegsaxt eines Drachen über ihrem Kopf schwang und sie dort niedergehen ließ, wo Thracius’ Schwingen mit seinem Rückgrat zusammentrafen. Blut schoss aus der Wunde des Oberherrn, und er brüllte vor Schmerz auf. Jetzt konnte er nicht mehr wegfliegen. Er saß in der Falle.
Vigholf hob seinen Schild und wollte gerade das Kommando geben, den Oberherrn anzugreifen, solange dieser geschwächt war, als er und alle anderen die Explosion hörten. Felsbrocken und Schutt flogen von den Höhlenwänden auf sie; Feuer schoss aus der Öffnung. Zuerst glaubte Vigholf, die Eisendrachen hätten noch weitere Sprengladungen in ihrer Höhle angebracht und die Hesiod-Berge würden das gleiche Schicksal erleiden wie die Polycarp-Berge. Doch dann flog etwas aus der Bergöffnung heraus auf sie zu. Etwas ungeheuer Schnelles.
»Vigholf!«
Er hörte Rhonas Stimme und betrachtete die neu entstandene Öffnung, durch die sie geflogen kam. »Halt ihn auf! Halt ihn auf!«
Vigholf drehte sich um und begriff nun erst, was das Etwas gewesen war. Es war Éibhear. Und Vigholf wusste aus Erfahrung, dass nichts und niemand ihn aufhalten konnte.
Außer Izzy …
»Iseabail!«, schrie Vigholf. »Iseabail! Los!«
Vigholf wusste nicht, ob sie ihn gehört hatte, doch sie ließ die Axt fallen, sprang auf den Rücken des tobenden Drachen, kletterte über seinen Kopf und sprang von seiner Schnauze auf den Rücken eines anderen Drachen, bevor sie von ihm herunterglitt und in der kämpfenden Menge verschwand.
Thracius sah zunächst so aus, als wollte er sie verfolgen, doch dann hörte er – wie alle anderen auch – das Brüllen und drehte sich um. In diesem Moment rammte Éibhear der Blaue ihn. Die beiden rollten von der Hügelkuppe, auf der Thracius gestanden hatte, und stürzten geradewegs in das Schlachtgetümmel.
Vigholf hob sich in die Luft und sah, wie die beiden auf dem Boden miteinander kämpften. Rhona rannte auf sie zu, dicht gefolgt von Celyn, aber Vigholf packte sie und hielt sie zurück. Automatisch blieb Celyn neben ihnen stehen, und sie sahen zu, wie Éibhear den Oberherrn auf den Rücken warf. Erst schlug er ihn mehrfach mit seinem Kriegshammer, und als es ihm langweilig wurde, warf er die Waffe weg und entriss Thracius das Schwert, das dieser unter Mühen gezogen hatte, und rammte es dem Oberherrn in den Schädel. Dann zog er die Klinge heraus und stieß sie wieder hinein. Und wieder. Und wieder. Mehr als ein Dutzend Mal.
Und schließlich standen oder schwebten alle um ihn herum. Sie alle sahen zu: Nordländer, Südländer, Soldaten aus den Herrschaftsgebieten, Rebellen.
Nach einiger Zeit riss Éibhear dem Oberherrn den Kopf von den Schultern, hob ihn und den restlichen Leichnam hoch in die Luft, stieß ein wütendes Kampfgeschrei aus und schleuderte die Teile in unterschiedliche Richtungen.
Keuchend sah er über die wartenden Armeen hinweg und ballte die Klauen zu Fäusten, die vor aufgestauter Energie zitterten. Er hatte zwar soeben den Oberherrn getötet, aber er war noch nicht zufrieden. In diesem Moment rief Ragnar: »Angriff!«
Vigholf ließ Rhona los und schob sie von sich weg. »Bringt sie alle um. Keiner soll übrig bleiben, der sich an diesen Tag erinnern könnte.« Er grinste sie an. »Wir werden uns für sie daran erinnern.«
Mit diesen Worten trennten sie sich und machten sich an die Arbeit.