23 Nach raschem und lustvollem Sex am Morgen badeten Vigholf und Rhona im Fluss, zogen sich an und ritten zu einer Zeit auf den Pass in den Westlichen Bergen zu, als die meisten Leute noch ihr Frühstück einnahmen.
Sie ritten schnell und kamen gut voran. In einigen Dörfern am Weg hielten sie an, damit Vigholf das tun konnte, worin er so gut war: Informationen von vollkommen Fremden sammeln. Rhona musste zugeben, dass es sie beeindruckte. Ihr fiel es schwer, mit Personen umzugehen, die sie nicht kannte. Und diejenigen, die sie kannte, musste sie manchmal bedrohen, um die Informationen zu erhalten, die sie haben wollte. Vigholf hingegen hatte das nicht nötig. Sie konnte es nicht erklären, er war einfach … besonders.
Aber auch Rhona war nicht vollkommen nutzlos, denn sie erspähte die Spuren der Königin, sobald sie sich im Karpos-Wald befanden, der die Westlichen Berge umgab. Allerdings war es nicht schwierig, Annwyls Spuren von denen der anderen zu unterscheiden, die in diesem Gebiet herumreisten. Diese Frau hatte ungeheuer große Füße für einen Menschen …
Sie ritten tief in den Wald hinein, und Rhona hielt Ausschau nach allen Anzeichen, die auf eine Richtungsänderung hinwiesen. Sie hielt gerade an und wollte sich eine Stelle neben einem Baum genauer ansehen, als Vigholf murmelte: »Rauch.«
»Was?«
»Rauch.« Er hob den Arm. »Dort drüben.«
Rhona sog die Luft ein. Ja, da war Rauch – und Feuer.
Sie wendete ihr Pferd und ritt in diese Richtung; Vigholf folgte ihr. Bald sahen sie die schwelenden Überreste eines kleinen Dorfes. Bevor sie ihm zu nahe kamen, stieg Rhona ab und ließ das Pferd zurück. Im Gegensatz zu Rhona und – in geringerem Maße – Vigholf waren die Pferde nicht immun gegen Flammen.
Als sie auf das Dorf zuging, hörte Rhona das Jammern und die Schreie derjenigen, die das Feuer in den Trümmern überlebt hatten. Rhona befürchtete, es könnte das Werk eines wütenden Drachen sein, und ging auf den ersten Menschen zu, der nicht vollkommen in seinem Schmerz versunken zu sein schien.
»Was ist hier passiert?«, fragte sie.
Der Mann sah sie an; seine Augen waren vom Rauch und von seinen Tränen gerötet. »Soldaten. Aus den Provinzen.«
»Sie haben euer Dorf niedergebrannt? Warum?«
Bei seinen nächsten Worten blieb ihr Herz stehen. »Wegen der Frau.«
»Der Frau? Was für eine Frau?«
Der Mann blinzelte und seufzte. Er wirkte sehr erschöpft. »Die Reisende. Sie war mit zwei anderen Frauen unterwegs.«
»Sie hat gegen die Soldaten gekämpft?«, fragte Vigholf.
»Nein. Sie ist freiwillig mit ihnen gegangen. Allein. Ich weiß nicht, was aus den anderen beiden geworden ist. Sie waren nicht bei ihr.« Er schluckte und wischte sich über die Stirn. »Sie haben nicht gekämpft, bis die Soldaten angefangen haben, den Ort niederzubrennen. Da hat sie gekämpft und versucht, sie davon abzuhalten. Und dann haben sie die Frau geschlagen, und zwar heftig. Sie haben sie bewusstlos geschlagen.« Seine Stimme schwankte. »Und dann haben sie den ganzen Ort niedergebrannt. Meine Frau …« Er schüttelte den Kopf. »Ich vermute, ich sollte trotzdem dankbar sein.«
»Dankbar?«
»Den Gerüchten zufolge haben sie in den vergangenen Tagen schon ein paar Dörfer in Schutt und Asche gelegt, aber nicht ohne vorher die Frauen …« Er schüttelte den Kopf und ging davon.
»Wir müssen weiterreiten«, sagte Rhona.
Vigholf sah sich um. Wenn die Menschen hier nicht bereits in einem Zustand des Schocks gewesen wären, hätte sie der Ausdruck auf seinem Gesicht in reine Panik versetzt. »Aber diese Leute, Rhona …«
»Ich weiß. Wir können nichts für sie tun. Und Annwyl ist allein mit den Soldaten. Wir müssen aufbrechen.«
»Ja, du hast recht.« Vigholf machte noch einen Schritt und blieb dann stehen. »Sie haben nach ihr gesucht. Sie wussten, dass sie kommt.«
Rhona ging zurück zu den Pferden. »Wir sollten uns beeilen.«
Es war leicht, die Spur der Soldaten zu finden. Sie waren auf dem Rückweg in die Provinzen und bewegten sich mit großer Schnelligkeit. Rhona und Vigholf folgten ihnen bis spät in den Abend hinein, doch schließlich machten sie Rast für die Nacht.
Vigholf hockte neben Rhona auf einem Berg, von dem aus das Lager zu sehen war. Gemeinsam beobachteten sie, wie die Soldaten Annwyl aus einem Käfig zogen. Als sie sie traten und schlugen, musste Vigholf Rhona festhalten.
»Noch nicht«, sagte er zu ihr.
»Wir könnten uns verwandeln.«
»Glaubst du etwa, sie wissen nicht, wie sie uns bekämpfen können? Thracius wird seinen Menschensoldaten genug beigebracht haben, um uns Drachen im Kampf zu besiegen. Wir warten.«
Ein Soldat aus den Herrschaftsgebieten packte Annwyl an der Kehle. Seine elegante Rüstung und die Pferdehaare auf seinem Helm ließen vermuten, dass er der befehlshabende Offizier war. Mit etwa zwanzig seiner Soldaten ging er zum einzigen Zelt, das errichtet worden war, und zerrte die halb bewusstlose Annwyl hinter sich her. Die Männer folgten ihm unter großem Gelächter.
»Wollen wir jetzt zuschlagen?«, fragte Rhona.
»Ja.«
Sie eilten leise den Hang hinab und liefen gebückt durch das hohe Gras, das ihnen Schutz bot. Sie wollten zunächst in menschlicher Gestalt bleiben und sich nur dann verwandeln, wenn es nötig werden sollte.
Doch als sie auf dem Weg waren, ertönte plötzlich hinter ihnen der Ruf einer Krähe, und Rhona blieb sofort stehen.
»Was ist los?«, flüsterte Vigholf.
Rhona holte tief Luft und stieß einen ähnlichen Krähenschrei aus. Sofort kam eine Antwort. Rhona nickte, blieb in gebückter Haltung, rannte jedoch nach rechts und ein wenig den Hang hinauf, bis sie einen großen Baum fanden. Sie umrundeten ihn, und plötzlich nahm Rhona eine junge Drachin in den Arm, die dahinter wartete.
»Branwen.«
»Cousine Rhona?«, flüsterte Branwen. »Was bei allen Höllen machst du hier?«
»Wir sind gekommen, um dich und deine eigensinnige Königin zurückzuholen. Ist alles in Ordnung?«
»Ja, es geht mir gut. Uns geht es gut.«
»Hallo, Vigholf.«
Vigholf lächelte das Menschenmädchen an, das ihn angesprochen hatte. Sie war etwas reifer geworden, seit Vigholf sie zum letzten Mal gesehen hatte. Sie hatte sich zu einer richtigen Schönheit entwickelt – einer Schönheit allerdings, die aufgrund ihrer Größe den Kopf eines Gegners mit den bloßen Händen abreißen konnte. »Izzy. Wieder mal in Schwierigkeiten, wie ich sehe.«
»Nur ein bisschen.« Sie nickte und lächelte Rhona an. »Hallo, Rhona.«
»Iseabail«, sagte Rhona kühl und wandte sich von ihr ab. »Ihr beiden bleibt hier. Wir kümmern uns um …«
»Wir haben unsere Befehle«, sagte Izzy. »Ihr könnt uns begleiten, oder ihr bleibt hier und seht zu. Wir machen uns jetzt jedenfalls auf den Weg.«
Rhona sah den beiden mit finsterem Blick nach, als sie schnell und leise den Hang hinunterliefen. »Verdammte Gören.«
»Verdammte Soldatinnen«, verbesserte er sie. »Folgen wir ihnen?«
»Uns bleibt nichts anderes übrig«, meinte Rhona, zog ihren Speer heraus und fuhr ihn aus, bis er die Größe erreicht hatte, die sie haben wollte. »Los, bringen wir ein paar der mordenden Bastarde um.«
Rhona beobachtete, wie ihre Cousine und Iseabail angriffen. Brannie schien den alten Standard zu bevorzugen: Schwert und Schild. Iseabail hingegen benutzte eine Axt und ein Kurzschwert. Zusammen rannten die beiden mitten in die Menge der Soldaten, die sich gerade über einigen Feuern ihr Essen kochten. Die ersten Männer, auf die sie trafen, hatten kaum die Gelegenheit, ihre Kameraden zu warnen, bevor sie von den beiden jungen Frauen niedergemetzelt wurden.
Die nächste Welle der Soldaten hatte genug Zeit, ihre Waffen zusammenzusuchen und anzugreifen, doch die beiden hackten sich zusammen mit Rhona und Vigholf ohne große Mühe durch das gesamte Bataillon. Es wäre eine größere Herausforderung gewesen, wenn Rhona und Vigholf allein oder Branwen und Iseabail nicht so gut ausgebildet gewesen wären. Aber so arbeiteten sie sich ohne große Mühe zu dem Zelt vor, in das Annwyl gezerrt worden war.
Rhona ließ als Erste die Soldaten hinter sich und rannte auf das Zelt zu. Sie wollte nicht, dass ihre Cousine sah, wie … Außerdem vermutete sie, dass jemand im Innern des Zeltes die Schreie gehört hatte und nachschauen würde, was los war. Doch vielleicht waren sie zu sehr in das vertieft, was sie Annwyl gerade antaten.
Über alle Maßen angeekelt stürmte Rhona auf das Zelt zu und taumelte zurück, als plötzlich die Zeltklappe aufgerissen wurde. Sie hob Schild und Speer und war bereit zuzustechen, aber es war Annwyl, die in der Öffnung stand. Über und über mit Blut beschmiert, zerrte sie den jammernden Kommandanten an der Brustplatte seiner Rüstung hinter sich her.
Die Königin blieb vor dem Zelt stehen und blinzelte. »Rhona?«
»Annwyl?« Rhona betrachtete sie von oben bis unten. »Ist alles in Ordnung?«
»Meine Nase ist gebrochen«, murmelte sie. Dann ging sie mit dem Kommandanten davon.
Vigholf stand inzwischen neben Rhona. Die beiden sahen zuerst Annwyl nach, dann einander an. Ohne ein Wort betraten sie das Zelt, aber hinter der Klappe kamen sie nicht mehr weit.
»Gute Götter, Vigholf.«
»Alle«, murmelte er ehrfürchtig. »Sie hat sie alle umgebracht.«
Annwyl hatte sie nicht nur umgebracht. Sie hatte ihre Feinde zu kleinen Portionen zerhackt. Irgendwoher musste sie sich ein Schwert oder eine Axt beschafft haben, denn überall lagen Körperteile von Soldaten herum: Köpfe, Arme, Beine … männliche Glieder. Sie bedeckten den Boden und die Wände des Zeltes.
Rhona ging wieder nach draußen und beobachtete, wie Annwyl den Kommandanten gegen den Käfig drückte, in dem sie eingesperrt gewesen war. Iseabail band seine Arme an die Stangen, während Branwen Annwyl eins ihrer beiden Schwerter gab.
Rhona fragte sich, was hier los war, und ging zu den beiden Frauen hinüber.
Annwyl ging vor dem Kommandanten in die Hocke. Sie sah ihn kurz an und lächelte strahlend. »Das hat Spaß gemacht, nicht wahr?« Sie schlug ihm mit der Faust gegen den Brustkorb – nicht besonders hart, aber seine Reaktion zeigte, dass einige Rippen gebrochen waren.
»Und jetzt sagst du mir, woher du wusstest, dass ich hier bin«, sagte Annwyl.
»Ihr seid gesehen worden«, sagte der Kommandant durch Blut und abgebrochene Zähne hindurch.
»Na, na, du sollst mich nicht anlügen. Ich bin sehr gut darin, Lügen aufzuspüren. Versuch es erst gar nicht. Woher wusstet ihr, dass ich hier bin? Dass ich hierherkomme?«
»Ihr seid gesehen worden«, sagte der Kommandant noch einmal und schaute sie finster mit dem Auge an, das noch nicht zugeschwollen war.
Annwyl stieß einen Seufzer aus und hieb mit ihrem Schwert zu. Es geschah so schnell, dass Rhona es kaum sah, doch sie hörte das Schreien des Kommandanten und sah Blut dort hervorspritzen, wo Annwyl ihm die Finger der linken Hand abgehackt hatte. Sie hockte sich wieder vor ihn.
»Ich will es noch einmal versuchen. Woher wusstet ihr, dass ich herkomme? Dass ich hier bin?«
Er keuchte und biss die Zähne gegen den Schmerz zusammen. »Habe … eine Botschaft von Lady Vaterias Magier erhalten.«
»Sie hat einen eigenen Magier? Wie nett. Und wie lautet sein Name?«
Als er keine Antwort gab, erhob sich Annwyl wieder.
»Junius«, sagte der Kommandant rasch. »Lord Junius.«
Annwyl kehrte vor dem Soldaten aus den Herrschaftsgebieten in ihre vorherige Stellung zurück. »Und woher wusste er es?«
Der Kommandant zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht.«
»Nein, du weißt es vermutlich wirklich nicht.« Sie wischte ihm mit der freien Hand einen Blutspritzer vom Kinn. Es war fast lächerlich, da er über und über mit Blut beschmiert war – mit seinem eigenen und dem seiner Männer. »Aber ich wette, du weißt, wie ich jemanden finden kann.« Kurz schürzte sie die Lippen. »Jemand, der sehr wichtig ist.« Sie klopfte ihm gegen die Brust. »Sag mir, wo ich Gaius Lucius Domitus finden kann.«
Diesmal machte sich der Kommandant nicht die Mühe zu lügen; er schüttelte nur den Kopf. »Niemals. Ich bin ein Soldat der Herrschaftsgebiete und werde niemals …«
Annwyl hackte den Arm des Kommandanten am Ellbogen ab und beachtete das Blut, das ihr dabei ins Gesicht spritzte, nicht einmal. »Branwen«, murmelte sie. Die immer entsetztere Rhona sah zu, wie ihre Cousine einen kleinen Feuerstrom ausstieß und damit die Wunde verschloss und die Blutung stoppte.
Annwyl hockte sich abermals vor ihn und fragte gelassen: »Wo finde ich Gaius Lucius Domitus?«
Die Willensstärke dieses menschlichen Kommandanten zeigte, warum die Eisendrachen und die Souveräne nicht leicht zu besiegen waren. Der Anführer schüttelte den Kopf. »Ich sage dir nichts mehr, Hure.«
Annwyl schaukelte auf den Absätzen vor und zurück und meinte: »Ich kann dir wehtun – stundenlang. So wie du es mit mir vorhattest. Wir sollten nicht so tun, als hättest du eine Wahl in dieser Angelegenheit. Sag mir, wo ich Gaius Lucius Domitus finde. Sofort.«
»Nein.«
Ohne die Stimme zu heben, sagte Annwyl: »Izzy.«
Iseabail die Gefährliche, Tochter von Talaith und Briec, hackte das Bein des Kommandanten mit ihrer Kriegsaxt knapp unterhalb des Knies ab, und Branwen brannte die Wunde rasch mit ihrem Feueratem aus.
Die Schreie des Kommandanten hallten durch die Nacht, und Rhona trat vor. Sie wollte von Annwyl verlangen, damit aufzuhören, aber Vigholf ergriff sie am Arm und schüttelte den Kopf. Sie wusste nicht, ob er sie zurückhielt, weil er mit alldem einverstanden war oder weil er Angst hatte, dass Annwyl etwas gegen diese Unterbrechung unternehmen könnte.
»Wo finde ich Gaius Lucius Domitus?« Diesmal sang die verrückte Hexe ihre Frage beinahe.
Zitternd sagte der Kommandant: »Er lebt außerhalb der Provinzen in den Septima-Bergen. Aber er wird dich nicht freundlicher empfangen als Vateria. Er wird dich und deine Freundinnen töten, du Hure.«
»Wie fürsorglich«, spottete Annwyl. »Du warnst mich vor dem drohenden Unheil, nachdem ich dich bereits einiger Körperteile beraubt habe. Wenn ich es mir recht überlege, ist das fast zu fürsorglich. Sicherlich liegt es nicht daran, dass ich ihn nicht finden soll, weil er für deinen Oberherrn und seine Schlampe von Tochter eine große Bedrohung darstellt. Aber ich danke dir dafür, dass du nicht mehr lügst. Das weiß ich sehr zu schätzen.«
Annwyl stand auf, steckte ihr Schwert in die Scheide und nahm ihr anderes Schwert von Branwen entgegen. Sie trat einige Schritte zurück und ging auf Rhona und Vigholf zu, während Izzy hinter der Königin den Kommandanten erledigte, indem sie ihm mit ihrer Axt den Kopf abschlug.
Als Annwyl Rhona erreicht hatte, warf sie ihr die Schwerter zu. Rhona erschrak, aber es gelang ihr, die beiden Waffen zu fangen.
»Kommt ihr beiden mit uns?«, fragte Annwyl, während sie ihre Nase mit beiden Händen befühlte.
»Wir sind hier, um dich zurückzubringen«, sagte Vigholf. »Deine Armeen marschieren über den Östlichen Pass auf das Tal von Euphrasia zu. Es ist bald so weit, Annwyl.«
»Es ist schon so weit. Die Eisendrachen haben in der vergangenen Nacht angegriffen. Mit Belagerungswaffen.«
»Was?«, fragte Vigholf. »Woher weißt du das?«
Es knackte laut, als Annwyl ihre gebrochene Nase richtete; dann nahm sie Rhona die Waffen wieder ab. »Uns bleibt nicht viel Zeit. Kommt mit uns oder geht zurück. Ihr habt die Wahl. Aber ich muss zuerst Gaius Domitus aufsuchen.«
»Du wirst niemals zu ihm durchdringen«, sagte Rhona zu ihr. »Sie wissen schon, dass du hier bist. Vateria hat einen Suchtrupp nach dir ausgeschickt. Einen vergewaltigenden, plündernden Suchtrupp, der auf der Suche nach dir ganze Dörfer zerstört hat.«
»Machst du etwa mich dafür verantwortlich?«
Eigentlich tat sie das nicht, aber … »Annwyl, alles hat sich verändert. Wenn die Schlacht um Euphrasia wirklich schon begonnen hat, musst du unverzüglich zurückkehren.«
»Wenn ich jetzt zurückgehe, werden wir alle sterben oder zu Sklaven dieses Tyrannen werden.« Sie band sich die Schwerter auf den Rücken und klopfte Rhona auf die Schulter. Rhona war stolz darauf, dass sie weder zusammenzuckte noch wegsprang. Jahre der Übung.
»Ich werde nicht schlecht von dir denken, wenn du zu deinen Kameraden im Tal zurückkehrst. Aber ich werde es zu Ende bringen – mit dir oder ohne dich.«
Annwyl stapfte davon. In diesem Augenblick sagte Vigholf: »Die Westlichen Stammesleute greifen die Insel Garbhán an, Annwyl. Und dort befinden sich deine Kinder.«
Die Königin blieb sofort stehen, und alle Muskeln in ihrem Körper schienen sich zu verkrampfen. Sie atmete mehrfach tief durch und sagte dann: »Ich gehe – mit oder ohne euch.«
Zu Rhonas Entsetzen machte sich die Königin auf den Weg in den Wald, weiter gen Westen. Rhona hätte es nie für möglich gehalten, dass Annwyl ihre Kinder angesichts der Bedrohung durch die Stammeskrieger ihrem Schicksal überlassen könnte. Doch sie drehte nicht um, und Iseabail und Branwen folgten ihr wortlos. Rhona machte sich nicht die Mühe, ihre Cousine zurückzurufen. Sie wusste, dass Brannie ihre Entscheidung getroffen hatte. Aus welchem Grund auch immer folgte sie dieser verrückten Königin auf ihrer wahnsinnigen Suche, und Rhona konnte nichts dagegen unternehmen.
Nun, vielleicht gab es doch noch einen Weg …
»Du willst mit ihr gehen«, sagte Vigholf. »Ich sehe es dir an.«
»Was soll ich denn sonst tun?«
»Wir könnten ins Tal und zum Krieg zurückkehren. Sogar der Tod in der Schlacht ist besser als dieser Wahnsinn.«
»Ich kann nicht zurückkehren. Sie hat meine Cousine. Und sie hat Briecs Tochter.« Sie legte die Hand auf Vigholfs Unterarm. »Aber du musst nicht mitkommen. Sag den anderen, was passiert ist, und sag ihnen …«
»Ich lasse dich nicht allein.«
»Vigholf …«
»Ich lasse dich nicht allein. Nicht mit ihr.«
»Dann bist du ein Narr.« Sie sah der Königin nach, die gerade im Wald verschwand. »Das wird eine Reise ohne Wiederkehr, Vigholf.«
»Das wird es, wenn du weiterhin so eine negative Einstellung hast.«
Trotz allem musste sie leise lachen. »Wie bitte?«
»Denk positiv. Man kann nie wissen. Vielleicht überleben wir ja doch. Und was wirst du dann mit mir machen? Du wirst mich behalten.« Er blinzelte ihr zu und folgte den anderen, wobei er nach den Pferden pfiff, die sie auf dem Berg gelassen hatten.
Rhona sah sich noch einmal im Lager um; ihr Blick blieb schließlich an den verwüsteten Überresten des Kommandanten hängen.
Sie war noch immer angewidert von alldem – Rhona hatte noch nie viel für Folter übriggehabt –, aber sie folgte der Verrückten Königin der Insel Garbhán und betete, dass sie selbst ein nicht so schreckliches Schicksal erleiden würde wie der Kommandant.
Sie hasste den Gedanken, ihren Cadwaladr-Ahnen ohne Beine und Finger gegenübertreten zu müssen. Sie würden Rhona dafür bis in alle Ewigkeit verspotten.