22 Dagmar folgte dem Hauptmann der Wachen zu den Kasernengebäuden. Als sie eintraten, gingen ihnen die Wachen und Soldaten aus dem Weg. Keiner redete mit dem anderen, keiner sprach sie an.
»Wir haben sie in der letzten Nacht gefunden. Sie … lagen einfach da.«
Dagmar betrachtete die Soldaten. Im Morgenlicht, das durch die Fenster hereinströmte, konnte man deutlich sehen, dass ihre Kehlen durchgeschnitten waren; andere Verletzungen gab es nicht. Es gab keine Hinweise darauf, dass sie sich gewehrt hatten. Vielleicht hatten sie keine Gelegenheit dazu gehabt.
»Habt ihr Anzeichen von Stammeskriegern innerhalb der Burgmauern bemerkt?«, fragte Dagmar den Hauptmann. »Vielleicht als sie die Leichen hier abgelegt haben? Das ist eindeutig die Arbeit ihrer Assassinen.«
»Das ist alles, Mylady. Wir glauben übrigens nicht, dass die Leichen hier abgelegt wurden, wie Ihr es nennt.«
»In der einen Sekunde war noch nichts hier«, sagte einer der Soldaten. »Und in der nächsten Sekunde … lagen sie da.«
»Sie sind einfach so aufgetaucht?«
»Ja, Mylady.«
Dagmar hob die Hände und brachte damit alle zum Schweigen. »Der Umstand, dass wir keine Ahnung haben, wie diese Leichen hierhergekommen sind, ist unwichtig. Wir wissen jetzt, dass sich Assassinen innerhalb der Burgmauern befanden. Das darf nicht wieder passieren.«
»Dafür werden wir sorgen.«
»Kümmert euch zuerst um die Leichen, und zwar schnell und leise. Wir können ihnen später eine würdige Beerdigung zukommen lassen.«
»Ja, Mylady.«
Dagmar begab sich zum Ausgang, ihre Hunde an ihrer Seite. Sie bedeutete dem Hauptmann mit einer Handbewegung, ihr zu folgen. »Redet mit niemandem darüber«, sagte sie zu ihm. »Ihr alle müsst es schwören.«
»Ja, Mylady. Aber warum?«
»Ich bin mir noch nicht sicher. Wir sollten erst einmal Stillschweigen bewahren, in Ordnung?«
»Einverstanden. Und die Assassinen?«
»Sucht jedes einzelne Zimmer nach ihnen ab. Wenn ihr etwas Auffälliges entdeckt, erstattet mir unverzüglich Bericht.«
»Und wenn wir die Assassinen finden?«
»Tötet sie. Und bringt mir ihre Leichen. Unauffällig.«
»Aye, Mylady.«
Dagmar ging zurück zur Burg und begab sich nach drinnen. Die Stammeskrieger waren heute ruhig gewesen. Doch irgendwie fühlte sie sich deswegen nicht besser.
»Kommandantin Ásta«, rief Dagmar, als sie die Kyvich-Hexe bei ihren Anführerinnen stehen sah.
»Lady Dagmar.«
»Ist alles in Ordnung? Gab es in der letzten Nacht irgendwelche Zwischenfälle?«
»Nein, Mylady.«
»Sicher?«
»Hast du denn von einem Zwischenfall gehört?«
»Nein«, log Dagmar. »Überhaupt nicht. Ich schätze, ich bin im Augenblick einfach nur etwas nervös.«
Die Kyvich lächelte sie an. »Irgendwie habe ich den Eindruck, Lady Dagmar, dass dich überhaupt nichts nervös machen kann.«
»O doch. Mein ganzes Leben ist voller Sorgen.« Sie zeigte in Richtung des Burgtores. »Gibt es einen Grund dafür, dass ihr den Stammeskriegern nicht in die Wälder gefolgt seid und ihnen dort den Garaus gemacht habt?«
»Das ist nicht unsere Aufgabe.«
»Wie bitte?«
»Wir sind hier, um die Kinder zu schützen. Der Rest geht uns nichts an. Wir werden sie nicht im Stich lassen, nur um eine Schlacht zu schlagen, zu der deine Leute zu feige sind.«
»Wenn also die Stammeskrieger die Tore einrennen und uns auslöschen …«
»Dann ist das nicht unsere Sache. Uns gehen nur die Kinder etwas an. Wenn du mich jetzt bitte entschuldigen willst …«
Verärgert ging Dagmar nach unten, wo sich die Kinder befanden.
»Was ist los?«, fragte Talaith, sobald sich Dagmar zu ihr an den kleinen Tisch setzte.
»Nichts«, log Dagmar erneut. »Ist hier alles in Ordnung?«
»Alles ist bestens.«
»Gab es in der letzten Nacht keine Zwischenfälle?«
»Nein. Überhaupt keine. Warum fragst du?« Talaith beugte sich über den Tisch. »Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist, Dagmar?«
»Ja, ja, alles ist gut.«
Talaith lehnte sich wieder zurück. »Wie ist es draußen?«
»Im Augenblick ist es ruhig, aber es ist klar, dass Annwyl sich jeden Stammeskrieger von hier bis zu den Grenzen der Wüstenländer zum Feind gemacht hat.«
»Sie geben also noch nicht auf?«
»Nein, aber wir werden es überleben«, versicherte sie Talaith.
»Das versichern mir meine Gäste andauernd.« Talaith schaute hinüber zu der Gruppe der Kyvich, die in diesem Zimmer ihren Wachdienst versahen.
»Wärest du lieber allein hier unten?«
»Das würde keinen Unterschied machen. Sie sind nicht gerade geschwätzig.«
»Ich spreche nicht von deiner Unterhaltung, Talaith. Ich rede über die Sicherheit der Kinder. Bitte tu mir einen Gefallen und ertrage dein Elend noch ein wenig.«
»Großartig. Hier, nimm etwas Tee. Danach fühlst du dich besser.«
Während Talaith Dagmar Tee eingoss, sah diese zu, wie Ebba die Betten der Kinder absuchte.
»Hast du etwas verloren, Ebba?«, fragte sie.
»Ich kann die Schwerter der Kinder nicht finden. Du weißt, wie sie sind, wenn sie ihr morgendliches Training nicht bekommen. ›Schlecht gelaunt‹ beschreibt es nicht einmal annähernd.« Sie zwinkerte Dagmar zu und machte sich wieder auf die Suche, während sich Talaith über die Kyvich beschwerte. Sie klagte nicht über irgendetwas Bestimmtes, sondern nur darüber, dass diese Hexen hier waren.
Dagmar richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Kinder. Die drei saßen im Schneidersitz in einem Kreis auf dem Boden. Rhian zeichnete einige Symbole auf ein Blatt Pergament und schien viel niedergeschlagener als sonst zu sein; ihre Stirn war in Falten gelegt. Talan spielte mit einem der Hunde, und Talwyn las. Zur allgemeinen Überraschung tat Talwyn das so gern wie ihre Mutter. Sie konnte mindestens drei Sprachen lesen: die Sprache der Menschen in dieser Region, die Sprache der Drachen und, wie Ebba erzählte, auch die Sprache der Zentauren.
Während Dagmar sie beobachtete, hob die Siebenjährige den Kopf und sah Dagmar durch ihre schmutzigen, ungekämmten Haare hindurch an. Sie hatte schwarze Augen wie ihr Vater, und doch glich sie eher Annwyl, besonders als sie plötzlich lächelte.
In diesem Augenblick erkannte Dagmar die Wahrheit. Der Hauptmann der Wache würde die Assassinen niemals lebend finden.
Fearghus beobachtete, wie sich Ragnar über seinen Bruder beugte. Briec hatte sich nicht mehr bewegt, seit er getroffen worden war. Die Heiler hatten sich die ganze Nacht um ihn gekümmert, aber sie hatten niemand etwas gesagt, und er wurde allmählich nervös.
Nach einigen Minuten trat Ragnar an seine Seite.
»Und?«
»Es hat den Anschein, dass …«
»Ich habe keine Zeit für deine sorgfältig formulierten Antworten, Nordländer. Sag mir nur, ob mein Bruder überleben wird oder nicht.«
»Ich weiß es nicht. Er reagiert überhaupt nicht, atmet kaum und …«
»Und?«
»Sein Rückgrat ist gebrochen.« Ragnar schüttelte den Kopf. »Weder ich noch die Heiler wissen, was man tun kann. Vielleicht haben deine Mutter oder Morfyd …«
»Wissen sie denn überhaupt schon, was mit ihm los ist?«
»Nein. Wir sind abgeschnitten. Ich kann weder meinen Bruder noch Keita noch sonst jemanden kontaktieren.«
»Ich auch nicht.« Fearghus räusperte sich. »Wenn er überleben sollte … wird er wieder gehen können?«
»Ich habe keine Ahnung. Aber ich bezweifle, dass er je wieder fliegen wird.«
»Danke«, sagte Fearghus und ging aus der Kammer. Er bog um eine Ecke und versuchte seine Atmung unter Kontrolle zu bringen. Er durfte es nicht zulassen, dass seine Truppen – oder seine Verwandten – ihn so sahen.
»Fearghus?«
Er hob den Blick und sah seine Tante Ghleanna.
»Es ist sehr schlimm, nicht wahr?«, fragte sie.
»Es steht noch nichts fest. Wir halten es erst einmal geheim und sagen, dass er sich erholt.«
»Das ist schön und gut für die anderen, aber ich frage dich als deine Tante. Wie geht es meinem Briec wirklich?«
Er schüttelte den Kopf und bemühte sich, nicht die Kontrolle über sich zu verlieren. »Es sieht nicht gut aus. Ragnar und die Heiler … sie sagen, dass sie nichts mehr tun können.«
»Und was ist mit deiner Mutter?«
»Sie könnte seine Rettung sein, aber es ist nicht möglich, ihn hier herauszubekommen.«
»Wenn wir den Tunnel gegraben und den Angriff ausgeführt haben – den letzten Angriff wohlgemerkt –, dann bringen wir deinen Bruder zurück zum Berg Devenallt, damit deine Mutter ihn heilen kann.« Sie packte ihn am Arm. »Gib ihn nicht auf, Fearghus. Bitte.«
»Natürlich nicht.«
»Ich werde den Tunnelarbeitern Beine machen. Wir schaffen das.« Sie legte ihm die Klaue auf die Wange. »In unserem Clan geben wir niemanden auf, Junge. Vergiss das nicht.«
»Ja.«
Sie nickte, stapfte davon und befahl etlichen Rekruten, sich zum Tunnel zu begeben, während um sie herum die Höhlenwände unter dem andauernden Feuer der Eisendrachen erbebten, das ihnen den Weg nach draußen versperrte.
Aber Fearghus wusste, dass seine Tante recht hatte. Sie gaben niemanden jemals auf, und er würde sich daran halten.