16 Wo bist du, Bruder?
Ragnars Stimme in seinem Kopf weckte Vigholf auf. Gähnend setzte er sich und kratzte sich am Kopf. Noch eineinhalb Tage bis zu den Westlichen Bergen. Hast du Kontakt mit Keita aufgenommen?
Nein. Ich konnte weder sie noch sonst jemanden in den Dunklen Ebenen erreichen. Ich habe schon versucht, dich zu kontaktieren, aber dies ist das erste Mal, dass ich zu dir durchdringe. Ich glaube, das liegt daran, dass du weder in den Dunklen Ebenen noch hier bist. Die Gebiete schotten sich gegenseitig ab, aber ich weiß nicht, warum das so ist und wer dafür verantwortlich ist.
Es gibt Schwierigkeiten, Ragnar.
Was ist los?
Die Stammeskrieger haben gleich nach unserer Ankunft angegriffen, erzählte Vigholf, fügte aber rasch hinzu: Die Kyvich schützen die Tore, und die Cadwaladrs kämpfen wie wild. Alles ist gut.
Was ist mit den Kindern?
Königin Rhiannon war nicht glücklich über Keitas Idee, deshalb bleiben sie, wo sie sind. Aber ihnen geht es gut, einschließlich Keita.
Bestens, aber … warum bist du in den Westlichen Bergen, Bruder? Ich weiß, dass du während eines Angriffs eigentlich nicht das Weite suchst.
Was ich dir jetzt sage, wird dir nicht gefallen.
Sag es mir trotzdem.
Es geht um Annwyl. Sie ist weggegangen.
Ist sie verrückt?
Vigholf kicherte. Das könnte man so sagen. Sie sucht nach dem Rebellenkönig.
Nach Gaius Domitus? Ragnar seufzte. Wenn diese Frau getötet wird und Fearghus herausfindet, dass wir ihm und Briec nicht gesagt haben, warum Keita in Wirklichkeit zurückgeschickt wurde, und ihm nicht die Gelegenheit gaben, selbst nach seiner Gefährtin zu suchen, dann bin ich ein toter Drache. Das weißt du doch, oder?
Wir werden sie finden, Ragnar. Ich schwöre bei den Göttern des Krieges, dass wir sie finden werden.
Reist du allein?
Nein. Es ist Rhonas Auftrag. Ich begleite sie bloß.
Warum?
Ich dachte, ich könnte hier bessere Dienste leisten als in den Truppen auf der Insel Garbhán.
Ist das der einzige Grund?, fragte Ragnar neugierig.
Nein. Ich konnte sie einfach nicht allein ziehen lassen.
Vigholf schaute hinunter auf die schlafende Rhona. Sie lag auf der Seite und hatte die Hände unter die Wange geschoben. In der Nacht hatte sie es zugelassen, dass er sie festhielt, und er hatte noch nie so gut geschlafen.
Ich bin ihr sehr … zugeneigt, gab er zu.
Erwidert sie deine Gefühle?
Das wird sie bald.
Obwohl Vigholf seinen Bruder nicht sehen konnte, wusste er, dass Ragnar gerade die Augen verdrehte.
Wie lange werdet ihr unterwegs sein?, fragte Ragnar.
Keine Ahnung. Aber wir kehren nicht um, bevor wir Annwyl gefunden haben.
Und wenn sie sich schon in den Klauen von Gaius Domitus befindet …, warnte Ragnar.
Wir hoffen, sie zu finden, bevor sie den Rebellenkönig erreicht hat. Wir werden sie aufhalten und zurück ins Tal bringen.
Hoffentlich gelingt euch das. Gaius Domitus ist Fremden gegenüber nicht sehr wohlgesonnen.
Annwyl auch nicht.
Ragnar kicherte. Da hast du recht. Aber da ist noch etwas. In den Provinzen lauert Gefahr. Thracius hat einen Drachenmagier. Einen sehr guten. Geht ihm unter allen Umständen aus dem Weg, Vigholf.
Warum?
Seine Macht in diesem Gebiet ist unübertroffen, und er wird alles tun, um Vateria zu schützen.
Vateria? Was hat denn Vateria mit alldem zu tun?
Du kennst Annwyl. Ich kenne Annwyl. Wenn sie sich ein Ziel in den Provinzen vornimmt, dann Vateria. Sie ist diejenige, die nach Annwyls Meinung sterben muss.
Aber sie ist nicht wegen Vateria, sondern wegen des Rebellenkönigs dorthin gegangen.
Bisher hatte Annwyl nie bloß ein einziges Ziel, Vigholf. Vertraue mir – sie will Vateria tot sehen. Aber in Anbetracht der Macht ihres Magiers bis ich sicher, dass Vateria …
… schon weiß, dass Annwyl kommt, beendete Vigholf den Satz.
Genau.
Jetzt war es Vigholf, der seufzte. Einfach wunderbar.
Junius öffnete die Tür zum Schlafzimmer seiner Herrin. Er bedeutete seinen Wachen, draußen zu warten, und betrat den Raum.
Er blieb in einiger Entfernung vom Bett stehen und wartete schweigend. Die Dienerin trat an die Seite ihrer Herrin.
»Mylady?«, sagte sie leise. »Lord Junius ist hier und will Euch sehen.«
Die Sonnenstrahlen, die durch die von der Decke bis zum Boden reichenden Fenster fielen, beleuchteten ihren nackten Körper, als sie sich aufsetzte. Langes silbernes Haar umrahmte ihr wunderschönes Gesicht. Lady Vateria begrüßte Junius mit einem breiten Lächeln.
»Lord Junius. Was machst du denn so früh schon hier?«
»Wir werden bald Besuch bekommen, Mylady.«
»Besuch?«
»Jemand, dem du gern begegnen wirst, wie ich annehme.«
Lächelnd schlüpfte Vateria aus dem Bett und ging hinüber zu ihm. »Bist du sicher?«
»Unser Gott ist sicher, und das bedeutet, dass ich es auch bin. Ich habe deinen Patrouillen in den Westlichen Bergen eine Nachricht geschickt.«
»Werden die Boten rechtzeitig dort sein?«
»Ich bin der von unseren Göttern auserwählte Magier, Mylady. Für eine solche Aufgabe brauche ich keine Boten.«
Obwohl alle Drachen mit ihren Blutsverwandten stumm kommunizieren konnten, hatte Junius auf Befehl des Oberherrn und mit Zustimmung der Götter diese Fähigkeit innerhalb der Provinzen beschränkt. Nur die Botschaften, die ihm genehm waren, konnten die Region verlassen oder in sie eindringen. Auf diese Weise hatte Junius erfahren, dass es in den Reihen der Eisendrachen eine Rebellion gab, und er hatte sie bereits fast vollständig niedergeworfen. Auch wenn er noch nicht ganz fertig damit war, war doch die Situation völlig unter Kontrolle. Und sie würde es bleiben.
»Natürlich, natürlich.« Sie trat näher an ihn heran. Vor Aufregung glitzerten ihre Augen und ihre Brustwarzen richteten sich auf. »Ist sie wirklich so dumm und kommt hierher?«
»Ich glaube eher, ›verzweifelt‹ ist das richtige Wort. Sobald dein Vater und Laudaricus ihre Streitkräfte vereinen, wird nichts sie mehr aufhalten. Vielleicht stellt sie der Gott, der sie schützt, auf die Probe, wer immer das sein mag. Es wäre möglich, dass Annwyl die Blutrünstige nicht das bekommt, was sie haben will, bevor sie nicht herkommt und irgendeine Aufgabe erledigt.«
»Du meinst, sie will mich umbringen?«
»Sehr wahrscheinlich. Aber ich plane, sie vorher gefangen zu nehmen.«
Vateria schlang die Arme um Junius’ Hals, was bedeutete, dass er sie nun so berühren konnte, wie es das Protokoll vorschrieb. Das tat er, zog sie an sich und packte ihren Hintern.
»Ein weiteres Spielzeug für meine Sammlung«, seufzte sie.
»Mit diesem wirst du etwas vorsichtiger sein müssen, fürchte ich. Menschen zerbrechen leichter als unsere eigene Art.«
»Ich weiß, ich weiß. Aber das Spielzeug, das ich schon habe, langweilt mich. Ich sehne mich nach einem anderen.«
»Dir ist langweilig, obwohl du fast jeden Tag zum Spielen in den Kerker gehst.«
Sie senkte den Kopf und lächelte. »Nicht jeden Tag.« Dann kaute sie kurz auf ihrer Unterlippe herum. »Wann?«, fragte sie. »Wann wird sie hier sein?«
»Bald, dessen bin ich mir sicher. Und dann gehört sie ganz dir.«
Vateria stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. »Du bereitest mir so viel Freude, Lord Magier.«
»Es ist eine Schande, dass dein Vater mich trotz meiner Verbindungen und der reinen Blutlinie der Eisendrachen, der ich entstamme, als so weit unter dir stehend ansieht.«
»Mach dir um Daddy keine Sorgen. Er betet mich an und gibt mir immer alles, was ich haben will. Und jetzt« – sie führte ihn zu ihrem Bett – »gibst du mir das, was ich haben will.«
»Guten Morgen!«
Rhona knurrte und legte die Arme schützend über den Kopf. »Geh weg.«
»Wir müssen weiter, Frau. Steh auf und segne mich endlich mit deiner Gegenwart.«
Rhona musste trotz ihrer Verärgerung lachen. Sie ließ es zu, dass der Blitzdrache sie auf die Beine zog. Aber Vigholf war ein außerordentlich starker Kerl von einem Drachen und riss sie gleich an seine Brust. Ihre Körper prallten aufeinander, und beide zuckten zusammen. Sie starrten einander an, bis Vigholfs Blick über ihr Gesicht schweifte und schließlich bei ihrem Mund innehielt. Sie erinnerte sich daran, dass er sie am vergangenen Abend bedrängt hatte, ihn zu küssen, und sie wusste, dass er nun wieder daran dachte. Fand er sie wirklich anziehend, oder war sie einfach nur verfügbar? Und – warum machte sie sich plötzlich Gedanken darüber? Es sollte ihr gleichgültig sein! Sie sollte ihm vielmehr diesen Ausdruck aus dem Gesicht prügeln, bevor er etwas Dummes tat und sie tatsächlich küsste.
Gute Götter! Ihre eigene Schwäche machte sie zornig.
Rhona befreite ihre Arme aus Vigholfs Griff und versuchte, die Situation herunterzuspielen. »Es ist zu früh am Morgen, um sich schon derart lächerlich zu machen.«
»Dazu ist es nie zu früh«, scherzte er und trat einen Schritt zurück. »Hast du gut geschlafen?«
Sie reckte die Schultern und versuchte verzweifelt zu vergessen, wie gut ihre Körper zusammenpassten. »Ja.«
»Ich auch. Ich glaube, wir sollten in der nächsten Nacht wieder zusammen schlafen, damit es so bleibt. Es ist in unser beider Interesse.«
Rhona schüttelte den Kopf und ging um ihn herum. »Ich brauche etwas zu essen.«
Vigholf sah in die Berge. Kurz darauf entfesselte er einen Blitz, und ein Bock mit mehreren Brandlöchern im Fell stürzte vom nächsten Hang und fiel vor Rhonas Füße.
Grinsend sagte Vigholf: »Etwas zu essen.«
Rhona nickte und unterdrückte ein Lachen. »Danke.« Es gefiel ihr, wie stolz er aussah.
»Gern geschehen.«
Sie aßen und zogen dann weiter; die Pferde folgten ihnen.
»Heute Morgen habe ich etwas von meinem Bruder gehört«, sagte Vigholf.
»War er wütend?«
Das war nicht die Frage, die Vigholf von ihr erwartet hatte. »Warum sollte er es sein?«
»Weil du nicht zurückgekehrt bist. Weil du nicht auf dem Rückweg nach Euphrasia bist und eure Truppen für die Vernichtung der Eisendrachen vorbereitest. Weil du dich aus reiner Dummheit mit mir auf einem Todesmarsch befindest, um eine verrückte Königin zu retten.«
»Äh … nein. Nichts davon scheint ihm Sorgen zu bereiten. Er hat es sogar verstanden.«
»Was hat er verstanden? Dass du dieses rasende Verlangen hast, jede Frau zu beschützen, die du kennenlernst?«
»Also … ja. Ja, das versteht er.«
Rhona lachte und biss in das Fleisch.
»Du solltest das alles positiver sehen«, sagte er zu ihr. »Ich bin sicher, am Ende wird alles gut werden.«
Sie blieb stehen. »Warum glaubst du das?«
»Einer von uns muss doch positiv denken«, erklärte Vigholf beim Weitergehen. »Ansonsten werden wir beide bald tot sein.«
Dankbar nahm Keita den Weinkelch entgegen, den ihr Freund ihr reichte, und rutschte ein wenig zur Seite, damit er sich neben sie setzen konnte. In ihrem Rücken befand sich die Wand des Treppenhauses, das hoch zu den Schlafzimmern der Burg führte.
»Es ist beunruhigend still, mein Freund«, bemerkte Keita, nachdem sie einen Schluck Wein genommen hatte.
Ren nickte. »Ich weiß. Die Stammeskrieger werden dieses Territorium vor ihrem Angriff gut ausgekundschaftet haben. Sie werden sich irgendwo verstecken und ihren nächsten Ausfall planen.«
»Wir hätten die Kinder von hier wegbringen müssen. Verdammt seien diese idiotischen Hexen!«, sagte sie noch einmal und erntete dafür einen bösen Blick von einer der Kyvich, die in der Nähe standen. Keita streckte ihr die Zunge heraus wie eine ungezogene Dreijährige.
»Ich glaube, ich hätte an den Kyvich vorbeikommen können«, meinte er, »aber nicht an deiner Mutter. Du wirst es nicht gern hören, doch ich glaube, sie hatte recht. Wenn wir jetzt mit den Kindern weglaufen, werden sie für immer auf der Flucht sein. Stattdessen sollten wir ihnen beibringen, standhaft zu sein.«
»Aber wenn ihnen etwas zustößt und ich vorher meine Brüder nicht gewarnt habe …«
»Die Kinder schaffen das. Sie könnten nicht besser geschützt sein.«
»Vermutlich nicht.«
»Was macht dir sonst noch Sorgen, Keita?«
»Ich habe versucht, Kontakt zu meinen Brüdern aufzunehmen, nur um …«
»… um etwas über Ragnar zu erfahren, in den du unsterblich verliebt bist, auch wenn du es dir selbst noch immer nicht eingestehen kannst?«
»Wenn du meinst. Aber sie antworten nicht.«
»Ich glaube, wir werden erst wieder von ihnen hören, wenn all das hier vorbei ist.«
Keita sah ihren Freund an. »Warum sagst du das?«
»Von Anfang an, noch vor der Geburt der Kinder, interessierten sich die Götter für diese Familie, Keita. Ich weiß nicht, warum ihr so faszinierend für sie seid, aber so ist es nun einmal. Ich glaube, dass Verbindungen zwischen euch abreißen, gehört irgendwie dazu.«
»Glaubst du etwa, dass einer der Götter Annwyl nach Westen geschickt hat?«
»Würde dich das wirklich überraschen? Annwyl mag ihre verrückten Momente haben, aber würde sie nach Westen gehen, um einfach so zur Märtyrerin zu werden? Ich kenne diese Frau noch nicht lange, aber das sieht Annwyl gar nicht ähnlich.« Er nahm Keita den Kelch aus der Hand und trank einen Schluck. »Nein, ich fürchte, die Götter treiben ihr Spiel, und wir stecken mittendrin.«
»Ich muss zugeben, Ren, dass ich ziemlich sauer auf diese Götter bin. Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, wozu sie eigentlich da sind – außer natürlich um mich so schön zu machen, wie ich bin.«
Ren lachte, küsste ihre Haare und gab ihr den Kelch zurück. »Ich weiß es auch nicht, Keita.«
Neben einem Fluss fanden sie eine Stelle, an der sie ein paar Stunden schlafen konnten. Sie hatten frisches Wasser, in der Nähe befand sich eine Höhle, in der sie Schutz finden konnten, falls es nötig werden sollte, und überdies graste eine Viehherde in der Nähe.
Vigholf war satt von dem Lamm, das er verspeist hatte, und lehnte sich mit dem Rücken gegen sein Gepäck.
Rhona streckte die Hände aus. »Ich will ihn sehen.«
Vigholf hielt seinen Hammer hoch. »Ihn?«
»Aye.«
Er warf ihr die Waffe zu, und sie fing sie mit beiden Händen auf. »Warum benutzt jemand freiwillig etwas so Schweres und Unhandliches?«, fragte sie.
»Schwer? Mein alter Hammer war schwer. Dieser, den dein Vater gemacht hat, ist leicht wie eine Feder.«
»Leicht ist etwas anderes, Nordländer.« Sie stand mit dem Hammer auf und geriet ins Taumeln.
»Bist du sicher, dass du keine Hilfe brauchst, schwache Frau?«
»Danke, es geht. Ich hätte bloß im Dorf nichts von dem Wein trinken sollen. Aber ich brauchte etwas, um das Geschrei in meinem Kopf über unseren Auftrag zum Verstummen zu bringen.«
Gute Götter, sie war wirklich hinreißend, wie sie seinen Hammer umherschwang. Auch wenn ihr das Gewicht nicht zusagte, stellte sie sich doch sehr gut an.
»Ein Hammer ist eine richtige Waffe«, sagte er zu ihr. »Eine Waffe für Erwachsene.«
»Lass meinen Speer aus dem Spiel. Er hat mir sehr gute Dienste geleistet, bis du ihn zerstört hast.«
»Das war ein Unfall!«
»Natürlich.«
»Ich höre da einen gewissen Sarkasmus heraus«, beschwerte er sich, als sie sich über ihn stellte und den Hammer auf seinen Bauch fallen ließ. »Autsch! Du bösartiges Weib!«
Rhona lachte und setzte sich neben ihn. »Ich bin nicht annähernd so müde, wie ich es eigentlich sein sollte.«
»Gut. Dann kannst du mir vielleicht Annwyl erklären.« Vigholf fand es hinreißend, wie groß Rhonas Augen nun wurden.
»Warum fragst du mich nicht, ob ich dir das Wasser erklären kann? Oder die Luft?«, meinte sie.
»Ich verstehe nicht.«
»Du bittest mich, dir das Unerklärbare zu erklären. Annwyl ist für alle ein Rätsel. Sie ist die Bastardtochter eines Monster-Tyrannen und sollte eigentlich noch in dem kleinen Dorf leben, aus dem ihr Vater sie herausgezerrt hat. Welcher Monarch will schon seine Tochter in seiner Nähe haben, wenn er bereits einen Sohn als Erben hat? Sie ist außerdem die Schwester eines noch schlimmeren Tyrannen, der sie an einen anderen Tyrannen verkauft hat, damit die beiden ihre Königreiche vereinigen konnten. Sie sollte diesen zweiten Tyrannen heiraten und ein paar Nachkommen hervorbringen, um alle glücklich zu machen. Aber es kam nie zu dieser Hochzeit, und am Ende vernichtete sie den Bruder, der so viele andere gefoltert hatte.«
»Und was sagt uns das alles?«
»Das sagt uns, dass sie eine verblüffende und gleichzeitig erschreckende Persönlichkeit ist. Annwyl tötet, ohne vorher zu fragen, sie regiert mit eiserner Faust und hat wenig Geduld. Sie kann grausam, aber auch liebenswert sein; sie kann herzlos sein und sich gleichzeitig zu viele Sorgen machen. Sie ist vollkommen loyal, verlangt dieselbe Loyalität auch von allen anderen und ist am Boden zerstört, wenn sie diese nicht erhält. Ich kann dir Annwyl nicht erklären, Vigholf, und deshalb will ich es erst gar nicht versuchen.«
»Ich vermute, dabei sollten wir es belassen.«
Sie schien erleichtert und richtete den Blick gen Himmel. »Sind das Wolken?«
Vigholf zuckte die Achseln, betrachtete Rhona eingehend und schenkte dem Himmel oder den Wolken nicht die geringste Aufmerksamkeit. »Keine Ahnung.«
Sie sah ihn an. »Das liegt vermutlich daran, dass du mich anstarrst und nicht dorthin siehst, wo die Wolken sind.«
»Ich mag es, dich anzustarren.«
»Na gut.«
»Was heißt das?«
»Nichts. Wir sollten schlafen. Morgen haben wir einen langen Tag vor uns.«
»In Ordnung.«
Rhona stand auf und ging hinüber zu ihrem Schlafsack. Als sie sich ausgestreckt hatte, lag Vigholf bereits neben ihr.
»Was machst du da?«
»Ich schenke dir meine Wärme.«
»Darum habe ich aber nicht gebeten.«
»Ich schenke sie dir trotzdem. So großartig bin ich.«
»Ja, aber …«
»Psst. Du weckst die Pferde auf.«
Rhona schüttelte den Kopf. »Du gibst wohl niemals auf, oder?«
Nein, das tat er nicht. Aber als Vigholf den Arm um ihre Hüfte legte, beschwerte sie sich nicht.