8 Morfyd die Weiße, Älteste Tochter und Drittgeborener Nachkomme der Drachenkönigin Rhiannon, Erbin der Königlichen Magie und Kriegsmagierin in Königin Annwyls Armee, stöberte ihren menschlichen Gemahl auf.
Sie ritt auf ihrem Pferd an marschierenden Truppen, herumhastenden Köchen, Spähern, dahinpreschenden Reitern und all den anderen vorbei, die zur Armee einer Menschenkönigin gehörten.
»Morfyd?« Ihr Menschengemahl Brastias, General in Königin Annwyls Armee, schob seine Männer beiseite und stellte sich vor sie. »Was ist los?«
»Wir marschieren jetzt auf das Tal von Euphrasia zu.«
»So schnell schon? Ich dachte, wir sollten noch ein paar …«
»Die Souveräne ziehen sich nicht zurück. Sie sind ausgerückt und unterwegs zum Tal.«
Brastias schaute auf das Gebiet, das seit fast fünf Jahren ihr Schlachtfeld war. Sein Lachen klang ein wenig bitter. »Ich hatte gehofft, dass sie vor unseren unbarmherzigen Angriffen davonlaufen.« Er schaute hoch zu ihr. »Aber sie eilen den Eisendrachen zu Hilfe.«
»Ja. Sie sind schon unterwegs.«
»Du hast sie gesehen.«
»Ich habe das gesehen, was die Götter mir gezeigt haben.«
»Könnten die Götter lügen?«
»Natürlich. Aber wir beide wissen, dass sie es in diesem Fall nicht tun.«
Brastias nickte. »Also folgen wir ihnen.«
»Nimm den Östlichen Pass. Wenn ich mich richtig an das Gebiet erinnere, müsstest du in der Lage sein, die Armee der Souveräne zu zerteilen.«
Er nickte und wandte sich an die Kommandanten von Annwyls Legionen. »Wir rücken aus. Sofort«, befahl er. »Nehmt nur das Allernötigste mit. Mehr nicht.«
»Und Annwyl?«, fragte einer der Kommandanten.
Damit Brastias seine Männer nicht belügen musste, antwortete Morfyd schnell für ihn. »Ich werde sie sofort benachrichtigen. Aber alle müssen sich unverzüglich auf den Weg machen. Verstanden?«
Der Kommandant kniff die Augen ein wenig zusammen, aber er wollte Morfyd nicht herausfordern. Auch wenn ihr Ruf nicht an den von Annwyl herankam – Morfyd hatte einfach nicht so viele Opfer vorzuweisen –, war doch allen klar, dass es sich bei Morfyd um eine Drachin handelte, mit der nicht zu spaßen war.
Die Männer gingen fort, um ihre Legionen zusammenzurufen, und Brastias legte die Hand um Morfyds Knöchel und drückte ihn sanft.
»Noch etwas?«, fragte er mit ruhiger Stimme.
»Nein. Annwyl und die anderen sind vor meinem inneren Blick verborgen.«
»Liegt das auch an deinen hilfreichen Göttern?«
»Ich weiß es wirklich nicht. Der Westen hinter den Bergen von Aricia ist schon immer vor meinem Blick und dem meiner Mutter verborgen gewesen. Ob es etwas mit den Göttern oder mit einer sehr mächtigen Zauberin oder einem Zauberer zu tun hat, weiß ich nicht.«
»Mach dir keine Sorgen, Liebes. Wenn es etwas gibt, worauf ich immer vertraut habe, dann ist es unsere wahnsinnige Königin.«
Morfyd beugte sich im Sattel herunter und küsste Brastias. Als sie sich wieder von ihm losmachte, flüsterte sie: »Pass auf dich auf, Liebster. Es gibt immer jemanden, der gegen unsere Königin und all jene arbeitet, die ihr treu ergeben sind.«
»Ja«, antwortete er traurig. »Das weiß ich.«
Sie verließ ihn und hatte vor, noch ein wenig im Hintergrund zu bleiben und abzuwarten. Warum sie das wollte, wusste sie nicht. Als sie zusah, wie Annwyls Männer unter ihrem Banner ausrückten und auf Blut und Tod zumarschierten, begriff Morfyd, dass ihr nichts anderes mehr übrig blieb, als das zu tun, wogegen sie sich immer gewehrt hatte, seit ihr klar geworden war, dass Annwyl mit Morfyds Cousine und Nichte davongelaufen war.
Sie musste jetzt den Kontakt zu ihrer Mutter herstellen.
Als sie nur noch drei Meilen von der Insel Garbhán entfernt waren, hielt Ren plötzlich inne, und die drei anderen Drachen hinter ihm hielten an. Der Ostländer sah so müde aus, dass Vigholf ihn wohl hätte tragen müssen, wenn die Dunklen Ebenen noch weiter entfernt gewesen wären.
»Was ist los?«, fragte Rhona Ren.
»Sie wissen, dass ich hier bin. Die Kyvich. Und sie sind nicht erfreut darüber.«
»Warum nicht?«
»Vielleicht wissen sie, was ich mache. Ich habe keine Ahnung.«
»Ihr wartet hier.« Rhona zeigte auf Vigholf. »Pass auf sie auf, während ich den anderen mitteile, dass wir hier sind. Wir dürfen auf keinen Fall riskieren, dass die Kyvich wegen Ren Panik bekommen. Wenn meine Verwandten einen verdammten Blitzdrachen nur sehen, können sie …«
Plötzlich stieß Rhona ihn beiseite. Ein gewaltiger Stahlspeer war unmittelbar auf ihn zugeflogen. Rhonas braune Klauen fingen ihn mitten im Flug ab; die Stahlspitze war nur noch wenige Zoll von Vigholfs Kehle entfernt. Die beiden starrten einander an.
»Danke«, murmelte er.
»Gern geschehen«, erwiderte Rhona; dann traf eine große Faust Vigholf am Hinterkopf und stieß ihn vorwärts.
Rhona flog aus dem Weg, als Vigholf wegen des Schlags einer silbernen Klaue gegen seinen Hinterkopf plötzlich auf sie zutaumelte. Dann tauchte eine zweite Faust auf – dieses Mal eine schwarze, traf den Blitzdrachen und zwang ihn zurück. Aber das waren keine feindlichen Drachen, die ihnen zu den Dunklen Ebenen gefolgt waren – es waren Onkel Addolgar der Silberne und – gute Götter! – ihr Vater!
Während die beiden Männer Vigholf erbarmungslos verdroschen, drückte Rhona ihren Speer in Keitas Hände und beachtete deren königliches Aufkreischen nicht, als die Waffe sie fast zu Boden gezogen hätte. Rasch warf sich Rhona zwischen die kämpfenden Männer.
»Daddy! Addolgar! Nein!«
Ihr Vater hielt sofort inne, aber Addolgar trat Vigholf ins Gesicht, und der Blitzdrache überschlug sich in der Luft.
Sie zuckte zusammen; der Nordländer tat ihr leid. Aber ihren Vater wiederzusehen …
Herzlose Frau! Er wurde von dem Verwandten dieser Dirne zusammengeschlagen, und anstatt ihm zu Hilfe zu eilen, war sie damit beschäftigt, irgendeinen verdammten Feuerspucker zu umarmen. War das etwa Loyalität?
Der ältere Silberdrache hatte sein Breitschwert hervorgeholt und zielte damit auf Vigholfs Kopf. Vigholf zerrte seinen Hammer aus der Halterung am Rücken und wirbelte ihn durch die Luft, um damit den Schwerthieb zu parieren. Sollte er dabei allerdings zufällig den Kopf des Drachen erwischen …
Doch bevor Vigholfs Hammer irgendetwas treffen konnte, wurde er gepackt und mit starker Klaue festgehalten, genau wie das Schwert des anderen Drachen.
»Meine Tochter hat befohlen, dass ihr aufhört«, sagte der große schwarze Drache, dessen Schuppen rote Spitzen hatten. »Also werdet ihr aufhören. Auch du, Addolgar.«
Der Silberdrache knurrte und zog sein Breitschwert weg. »Jemand hätte uns warnen sollen, dass du herkommst, Nordländer. Ich dachte, du bist eine Bedrohung. Habe nicht gleich erkannt, dass du bloß weiterer Blitzdrachenabschaum bist.«
»Ich bin so froh über den Waffenstillstand mit euch«, murmelte Vigholf und wischte sich das Blut ab, das aus seinen Nasenlöchern tropfte.
»Onkel Addolgar hat in mindestens drei Kriegen gegen die Nordländer und auch gegen deinen Vater gekämpft«, erklärte Rhona. »Du darfst es also nicht persönlich nehmen, wenn er dich als wertlosen Abschaum ansieht.«
Vigholf starrte sie an. »Sollte das etwa eine hilfreiche Bemerkung sein?«
»Ich werde euch eskortieren«, sagte der schwarze Drache zu ihnen allen. Sein Grinsen erinnerte Vigholf an Rhona. »Dann kommt der Blitzdrache sicher an, ohne auf dem Weg zur Rede gestellt zu werden. Das arme, kleine, schwache Ding.«
»Daddy«, sagte Rhona. Es klang wie ein ganz leichter Tadel.
Der Drache lachte, nahm der überforderten Keita den Stahlspeer ab und warf ihn Rhona zu. Dann flog er auf die Insel. Keita und Ren waren direkt neben ihm. Vigholf packte Rhona am Arm. »Daddy?«
»Sei froh, dass er hier ist, Blitzdrache. Er ist einer der wenigen, die stark genug sind, meinen Onkel Addolgar aufzuhalten.«
Rhona überflog die Tore und landete im Innenhof der Burg.
Das Gebiet um die Burg herum war nicht mehr so, wie Rhona es in Erinnerung hatte. Statt des fröhlichen Ortes mit all den Händlern im Hof und vor den Burgmauern fand sie nun einen militärischen Außenposten vor. Waffen, die zur Verteidigung gegen eine Belagerung dienten, säumten die Innenseite der Mauern, und jemand hatte damit begonnen, einen Burggraben anzulegen. Nur ein kleiner Teil war bisher fertiggestellt, doch schon schwamm etwas Lebendiges und ziemlich unfreundlich Aussehendes im trüben Wasser.
Nein. Das war nicht der Ort aus ihrer Erinnerung.
Rhona nickte ihren Cousinen und Vettern zu, lächelte Onkel und Tanten an, aber es war ihr Vater, zu dem sie lief und in dessen Arme sie sich warf.
»Mein Mädchen«, flüsterte Sulien der Schmied und hielt sie fest. »Mein wunderschönes Mädchen.«
»O Daddy, ich habe dich so vermisst.«
»Ich dich auch.« Er trat zurück, betrachtete sie und lächelte. »Du bist so schön geworden.«
Sie gab ihm den stählernen Speer, der fast den Blitzdrachen aufgespießt hätte. »Das ist keiner von deinen«, bemerkte sie.
»Du kennst meine Arbeit.« Er beugte sich vor und flüsterte: »Der hier ist minderwertig.« Er deutete auf den Ersatzspeer, der noch auf ihrem Rücken befestigt war. »Und wo ist dein eigener Speer?«
Rhona warf einen Blick hinüber zu dem Blitzdrachen, der hinter ihrem Vater gelandet war. »In Stücke gehauen«, meinte sie vorwurfsvoll.
»Das war ein Unfall«, gab Vigholf zurück. »Ich habe dir doch schon gesagt, dass es mir leidtut.«
»Aber du hast es nicht ernst gemeint!«
»Mach dir keine Sorgen«, besänftigte ihr Vater sie. »Ich habe etwas für dich.« In seinen braunen Augen glitzerte es. »Etwas viel Besseres.«
Rhona grinste und verspürte eine tiefe Erregung. »Was? Sag es mir.«
»Komm erst einmal an. Ich vermute, dass du aus einem bestimmten Grund hier bist. Wenn du alles erledigt hast, findest du mich in der Schmiede.«
Ihr Vater lächelte sie an und strich ihr mit seiner Klaue über die Wange. »Ich bin froh, dass du wieder hier bist, Kleines. Wirst du lange bleiben?«
»Vermutlich machen wir uns schon morgen auf den Rückweg.«
»Dann müssen wir das Beste aus der Zeit machen, die uns verbleibt.«