7 Während des nächsten Reisetages mussten sie wegen Ren mehrere Pausen einlegen. Welche Magie der Ostländer auch immer wirken mochte, sie war sehr stark, und Rhona machte sich allmählich Sorgen um ihn.

Als Keita einige Schritte entfernt ein Nickerchen an einem Baumstamm machte, hocke sich Rhona neben Ren. Sie hatten wieder menschliche Gestalt angenommen und Kleidung übergezogen für den Fall, dass richtige Menschen zufällig auf sie stoßen sollten. Der Weg, den sie überflogen hatten, wurde in dieser Jahreszeit viel genutzt, und Rhona hatte keine Lust, einen Menschen zu töten, nur weil er plötzlich unter Drachen geraten war und die Notwendigkeit verspürte, seine Nachbarn zu warnen.

»Was kann ich für dich tun, alter Freund?«, fragte Rhona.

Ren lächelte sie an. »Nichts. Es geht mir gut.«

»So siehst du aber nicht aus. Du wirkst eher, als hättest du mit meinen Vettern getrunken.«

»Gute Götter, so schlimm gleich?« Er grinste, und Rhona fühlte sich gleich besser. »Es geht mir gut«, beharrte er. »Wirklich. Mir fehlt nichts. Ich bin bloß erschöpft. Sobald ich die Kinder in die Ostländer gebracht habe, werden mich die Kraft meines Vaters und die Macht meines Elternhauses wieder aufrichten. Das verspreche ich.«

»Brauchst du irgendetwas?«

»Ist noch etwas zu essen da?«

Sie sahen sich an. »Dieser Barbar hat alles gegessen, was wir mitgebracht haben. Er saugt alle Nahrung um sich herum auf und kümmert sich um niemanden sonst.«

Ren kicherte. »Es könnte schlimmer sein. Er könnte zum Beispiel eine Plaudertasche sein.«

»Allerdings. Du weißt, wie sehr ich Plaudertaschen hasse.« Rhona stand auf. »Ich werde versuchen, etwas für dich aufzutreiben. Ich werde es sogar für dich braten.«

»Das wäre großartig. Vielen Dank.«

»Für dich tue ich alles, Ren von den Auserwählten.«

»Wirklich? Und warum?«

»Weil es dir gelingt, Keita im Zaum zu halten und für ihre Sicherheit zu sorgen. Allein dafür steht der ganze Clan tief in deiner Schuld.«

Rhona hob den Kopf und sog prüfend die Luft ein. »Wild«, sagte sie und lief los.

Vigholf packte das Reh bei der Kehle und schleuderte es gegen einen Baumstamm. Das Genick brach, und er warf das tote Tier zu Boden. Sein Magen knurrte. Er griff nach dem Tier, wollte es aufreißen und die noch warmen Innereien genießen.

Aber noch bevor seine Finger das geschmeidige Fell des Rehs berühren konnten, versengte ein Flammenstoß seine menschlichen Finger.

»Götterverdammt! Was sollte das denn?«

»Du bist der selbstsüchtigste Drache, der mir je begegnet ist«, klagte Rhona ihn an. »Und das heißt schon etwas, wenn man sich meine Sippe ansieht.«

»Was habe ich denn getan?«

»Ren muss essen.«

»Und? Lass ihn doch essen.«

»Du hast das gesamte Trockenfleisch und Brot aufgegessen, das wir mitgenommen haben. Ohne auch nur zu fragen, ob sonst noch jemand Hunger hat.«

Vigholf zuckte mit den Schultern. »Ich habe Keita gefragt. Aber sie …«

»Keita? Du hast Keita gefragt? Keita, die keine Magie wirkt, um ihre Nichten und ihren Neffen zu schützen? Keita, die überhaupt niemanden schützt? Keita, die über nichts anderes als über diese verdammten Kleider redet, die sie sich holen will – nicht kaufen, sondern sich holen, wohlgemerkt –, sobald sie in den Dunklen Ebenen ist?«

Vigholf räusperte sich. »Also … nun ja.«

Rhona kniff die Augen zusammen und schob ihn von dem Kadaver weg. »Das hier bringe ich zu Ren. Du kannst deinem Liebling Keita etwas anderes fangen.«

»Dieses Tier war nicht für sie bestimmt. Es war für mich. Ich bin hungrig.«

»Schon wieder?« Rhona sah ihn mit offenem Mund an. »Wie kannst du schon wieder hungrig sein? Du hast doch den ganzen Tag nichts anderes getan, als zu essen. Wenn ich es mir recht überlege, habe ich nie zuvor einen Drachen gesehen, der beim Fliegen isst.«

»Dann hast du einfach nicht genau genug hingeschaut.« Rhonas Augen wurden zu Schlitzen und Vigholf, der nicht in der Stimmung für einen Kampf war, hob abwehrend die Hände. »Da drüben im Tal sind noch weitere Rehe. Ich hol mir eines davon.«

»Gut.«

Rhona hockte sich neben den Kadaver und machte sich daran, ihn zu häuten.

Vigholf beobachtete sie eine Weile, dann fragte er: »Wie geht es dem Ostländer denn?«

»Er ist müde. Todmüde.«

»Du machst dir Sorgen um ihn.«

»Jawohl.«

»Ihr beide scheint … euch nahezustehen.«

Rhona riss das Fell mit bloßen Händen ab. »Ja, ich vermute, das stimmt.«

»Wie nahe?«

Sie warf das Fell beiseite und schaute auf zu Vigholf. »Was?«

»Wie nahe stehst du diesem Mann, den deine Schwestern den schönen Ausländer nennen?«

»Warum fragst du?«

»Warum willst du es mir nicht sagen?«

»Vielleicht, weil es dich nichts angeht?«

»Und warum sollte es mich nichts angehen? Was verbirgst du vor mir?«

Rhona stand auf und rieb sich das Blut des Rehs von den Händen. »Ich verberge gar nichts vor dir, aber mein Leben geht nur mich etwas an. Nicht einmal meine Mutter stellt mir solche Fragen.«

»Ich bin nicht deine Mutter.«

»Nein. Und daher hast du sogar noch weniger Recht dazu.«

»Dann beantworte mir die folgende Frage«, sagte er rasch, bevor sie weggehen konnte. »Habt ihr eine … Beziehung?«

Sie stieß ein kleines, schnaubendes Lachen aus. »Nein. Zumindest nicht so, wie du meinst. Wir sind … alte Freunde.«

»Aha.«

»Wir sind zwei alte Freunde, die keine Beziehung haben. Belass es dabei.«

Aber Vigholf war sich nicht sicher, ob er das konnte.

Rhona röstete das Reh mit ihrer Flamme und drehte den Kadaver hin und her, bis er an allen Seiten hübsch gebräunt war. Dann warf sie ihn sich über die Schulter. In diesem Moment fragte Vigholf: »Willst du eine Beziehung haben?«

Rhona erstarrte. Seine Fragen wurden immer seltsamer. Aber schließlich war der Barbar ein seltsamer Kerl.

»Eine Beziehung?«

»Einen eigenen Gefährten.«

»Darüber habe ich noch nicht eingehend nachgedacht. Warum?«

»Einfach so.«

»Du fragst mich das einfach so?«, fuhr Rhona ihn an.

»Ja.«

»Kein Grund, mich so anzuknurren.« Sie wandte sich von ihm ab.

»Aber«, sagte er zu ihrem Rücken, »du hättest nichts gegen einen Gefährten?«

Rhona drehte sich wieder zu ihm um. »Warum stellst du mir diese ganzen Fragen?«

»Weil ich neugierig bin.«

»Dann stille deine Neugier bitte mit einer anderen Frau.«

»Warum? Was ist denn so falsch an dir?«

»Nichts ist falsch an mir, ich würde mich einfach niemals mit einem Mann zusammentun, der nicht in der Schlacht mit mir kämpft.«

»Ich kämpfe schon seit fünf Jahren mit dir.«

»Aber nicht freiwillig.«

»Das ist doch Ochsenmist! Wann habe ich je gesagt …«

»Frauen … im Kampf an meiner Seite?« Rhona ahmte Vigholfs tiefe Stimme nach, so wie sie es immer tat, wenn sie die Drillinge zum Lachen bringen wollte. »Wann ist denn die Hölle auf die Erde gekommen?«

Er blinzelte. »Oh. Na gut. Ich habe so etwas früher einmal gesagt, aber …«

»Aber was?«

»Aber damit habe ich nicht dich gemeint. Diese Worte habe ich niemals über dich gesagt. Du hast mich von Anfang an beeindruckt.«

»Wie großmütig von dir«, zischte sie und drehte sich wieder um. »Du Trottel.«

Rhona machte ein paar Schritte, aber Vigholf setzte ihr nach und trat vor sie. »Ich weiß, dass ich gesagt habe, dass es so etwas wie eine Kriegerin gar nicht gäbe. Aber«, fügte er rasch hinzu, als sie ein zischendes Geräusch von sich gab, »du und deine Schwestern habt mich eines Besseren belehrt. Es ist schade, dass ich nicht dasselbe über deine Meinung sagen kann, der zufolge alle Nordländer Barbaren sind.«

»Ihr seid alle Barbaren.«

»Sogar Ragnar?«

»Nun ja … nein. Er ist anders. Ein Sonderfall.«

Vigholfs linkes Auge zuckte, und plötzlich hatte sie Angst um Ragnars Sicherheit. Doch nach kurzer Pause fuhr Vigholf fort: »Hat denn einer meiner Brüder versucht, eine von euch zu entführen und zu einer Inbesitznahme zu zwingen?«

Rhona verdrehte die Augen. »Nein.«

Er machte einen Schritt auf sie zu. Der Raum zwischen ihnen wurde immer kleiner. »Haben sich einige von uns nicht als ausgezeichnete Strategen in der Schlacht erwiesen? Sind wir tatsächlich Berserker, die man zwischen den Schlachten anketten muss?«

»Wohl nicht.«

Noch ein Schritt. »Sind wir nicht höflich und aufmerksam zu allen Kriegerinnen, selbst wenn sie mit Bierhumpen nach uns werfen, Streit anfangen und sonstige verrückte Dinge tun?«

Sie stieß den Atem aus. »Die meisten von euch, ja.«

»Wie wäre es dann, uns eine Chance zu geben? Mir eine Chance zu geben?« Noch ein Schritt. »Weil wir uns alle so sehr bemühen.«

Jetzt berührten sie sich fast, und seine grauen Augen schauten auf sie herunter.

»Ich will dieses Fleisch zu Ren bringen«, sagte sie. »Er muss etwas essen, bevor wir wieder in die Luft aufsteigen können.«

»In Ordnung.«

Aber er bewegte sich nicht und hörte auch nicht damit auf, sie auf diese seltsame Weise anzusehen. Sie konnte nicht erklären, was das für eine Weise war – aber es war seltsam. Also zwang sich Rhona dazu, um ihn herumzugehen, und machte sich langsam auf den Rückweg zu ihrer Cousine und ihrem Freund.

Doch wenn sie ehrlich war, wäre sie am liebsten gelaufen. Sie hatte keine Ahnung warum.

Dragon Sin: Roman
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