Kapitel 38
Von Träumen und Frauen
Rowarn bezog im Haupthaus wieder sein altes Zimmer, das schon auf ihn wartete. Landi, die fürsorgliche Dienstmagd, hatte ihm einen Strauß aus Strohblumen und duftenden getrockneten Kräutern auf den Tisch gestellt, auf dem Bett lag frische Kleidung. Bald darauf kam Korela zu ihm, und diesmal ließ Rowarn die kurze Untersuchungsprozedur widerspruchslos über sich ergehen.
»Wo ist Angmor?«, fragte er die Heilerin.
»In seinem gewohnten Haus«, antwortete sie. »Macht Euch keine Sorgen um ihn, junger Herr, es geht ihm besser als das letzte Mal. Er braucht lediglich Ruhe, und gegen die Schmerzen können wir ihm etwas geben. Eure übrigen Gefährten sind auch wohlauf.«
»Nicht alle«, sagte er leise.
Sie nickte. »Ja, es tut mir leid für Euren Freund. Aber jetzt, wo Lady Arlyn hier ist, wird es auch für den Fürsten Heilung geben.«
Rowarn wünschte sich, er könnte ihre Zuversicht teilen. Es erschütterte ihn, den einst so starken und vitalen Fürsten grau und leidend zu sehen. Auch Olrig schien fest daran zu glauben, dass alles gut würde. Sicher, es war noch nicht so lange her, seit Noïrun verwundet worden war. Aber Arlyns entsetztes Gesicht hatte genau das ausgedrückt, was auch Rowarn empfand.
Die nächsten Tage vergingen still. Nach dem ersten Wintereinbruch wurde es wieder wärmer, die Nachtfröste blieben aus, und Regen wechselte sich mit Sonne ab. Rowarn schickte Reeb und Laradim jeden Tag auf Patrouille rund um Farnheim, denn er traute dem Frieden trotz allem nicht so recht. Die Pferde wurden gut versorgt, Ausrüstung und Waffen ausgebessert. Olrigs Bein war fast verheilt, und er hinkte nicht mehr. Arlyn hielt Haus Farnheim für Reisende nach wie vor geschlossen, Heilungssuchende wurden jedoch nicht abgewiesen.
Rowarn verbrachte die Zeit abwechselnd bei Angmor und Noïrun, und bei den heißen Quellen, wo er am besten nachdenken konnte. Immerhin gab es etwas, worüber er froh sein konnte – er war nicht der Zwiegespaltene. Als Erbe von Ardig Hall war er zwar nach wie vor an das Tabernakel gebunden, doch nicht er würde eines Tages entscheiden müssen, ob dessen Macht entfesselt werden sollte – und wie es zu nutzen wäre. Vielmehr hatte er nun ein klares Ziel vor Augen: Femris daran zu hindern, die restlichen Bruchstücke in die Hände zu bekommen. Angmor hatte Olrigs Vermutung bestätigt, dass Femris am Leben war, dass er sich durch einen magischen Bann vor dem Tod geschützt hatte. Das verringerte Rowarns schlechtes Gewissen zwar nicht, aber es gab ihm Hoffnung, dass noch nicht alles verloren war.
»Ganz richtig ist das aber nicht«, sagte Graum einmal zu ihm, als sie sich bei den Häusern der Heilung begegneten und Rowarn auf die Frage des Dämons über das sprach, was ihn beschäftigte. »Wenn er der Zwiegespaltene ist, dann muss er das Tabernakel nutzen, so war es bestimmt. Du hast Erenatars Plan durch deinen Schwertstoß beinahe zunichte gemacht, aber wenn du Femris die Splitter vorenthältst, macht das für mich keinen Unterschied.«
»Ich weiß«, antwortete Rowarn. »Aber ich habe mich entschieden, das Tabernakel zuerst zu heilen, und dann, denke ich, wird die Entscheidung fallen, ob Femris der Ausersehene ist. Er mag der Zwiegespaltene sein, aber dennoch muss er sich das Tabernakel erst verdienen. Das jedenfalls ist meine Ansicht.«
»Femris hat den Krieg nur deswegen geführt, weil ihm Unrecht getan wurde«, wandte der Schattenluchs ein. »Woher willst du wissen, dass er sich wirklich endgültig der Finsternis zugewandt hat?«
»Angmor befürchtet, und er ist nicht der Einzige, auch Halrid Falkon ist der Ansicht, dass Femris mit dem Tabernakel den Schwarzen Annatai, den Herrn des Flammenthrons nach Waldsee holen will. – Keine Angst, ich spreche seinen Namen nicht aus«, setzte er eilig hinzu, als er sah, wie Graums Fell sich sträubte.
Graums lange Pinselohren zuckten. »Das wäre …«, setzte er zischend an, und Rowarn hob die Hand.
»Nun siehst du. Solange diese Möglichkeit besteht, solange werde ich alles tun, um Femris das Tabernakel vorzuenthalten, egal wie sehr ich mich damit ins Unrecht setze. Denn das kann nicht Erenatars Plan gewesen sein.«
»Dann wird es wohl auf eine letzte Auseinandersetzung zwischen dir und ihm hinauslaufen, für die du eine Menge Kräfte brauchst«, sagte Graum. »Ich möchte nicht in deiner Haut stecken, junger König von Ardig Hall, nein, das will ich wirklich nicht.«
Er wandte sich zum Gehen, doch unterwegs rief er noch etwas zurück. »Aber ich werde mein Fell für dich geben, Rowarn, und an deiner Seite bleiben, bis zum Schluss.«
»Danke«, murmelte Rowarn und war nicht sicher, ob er nicht doch lieber selbst der Zwiegespaltene hätte sein wollen. Statt leichter, war durch Graums Worte alles noch schwerer geworden.
Aber das half ihm nichts, er konnte nicht mehr zurück, er trug die Verantwortung. Zunächst galt es, diesen unseligen Krieg zu beenden.
Jeden Tag wartete er auf Nachrichten der Botenfalks, und seine Hände zitterten vor Aufregung, als er endlich einen Brief seiner Zieheltern erhielt. Er erkannte sofort Schneemonds geschwungene Handschrift, völlig gleichmäßig, als wäre jedes Wort gezeichnet. Er suchte sich eine stille Ecke in der Gaststube, erbrach das Siegel und las angespannt.
Lieber Sohn,
deine Muhmen grüßen dich.
Weideling ist still ohne dich, und wir vermissen dich sehr. Vor allem jetzt im nahenden Winter werden uns die langen Abende bei Kerzenschein und Geschichten fehlen. Es mag seltsam anmuten, aber bei keinem unserer Fohlen war der Trennungsschmerz so groß. Velerii-Kinder sind ja von Anbeginn recht selbstständig, mit dir aber war es etwas ganz Anderes, für dich waren wir zwanzig Jahre jeden Tag da, haben dich behütet und umsorgt.
Schattenläufer und ich haben uns jedenfalls entschlossen, noch ein Fohlen zu bekommen. Wir wollen wieder Kinderlachen und Fröhlichkeit um uns haben. Im übernächsten Frühling wird es soweit sein. Ich bin sicher, dass unser Kind dann schon in eine neue Zeit des Friedens geboren wird.
Glaube nicht, dass die Veränderungen unbemerkt an Inniu vorüberziehen. Wir verfolgen voller Bangen und Hoffen, wie sich die Lage immer mehr zuspitzt, und sind um jede Nachricht dankbar.
Wir freuen uns daher über deinen langen Brief, der uns aber auch zutiefst erschüttert hat und uns seit Tagen beschäftigt. Lass dir aber vor allem anderen gesagt sein: Wir sind sehr stolz auf dich. Was du mit deinen jungen Jahren bereits geleistet hast, ist kaum vorstellbar. Du bist ein wahrer und würdiger Erbe von Ardig Hall, und wir hoffen, dass du auch in deinem Herzen bereit bist, die Königswürde anzunehmen. Du hast ja geschrieben, dass du dein Erbe annehmen willst – aber du scheinst noch nicht sicher zu sein, ob du es auch bewältigen kannst. Sei guten Mutes! Wir haben unser Bestes gegeben, um dich auf diese Aufgabe vorzubereiten. Schattenläufer würde es natürlich nie zugeben, aber er hat ein wenig feuchte Augen bekommen, als er von deinen Heldentaten erfuhr.
Womit wir allerdings schwer zu kämpfen haben, ist die Neuigkeit über deinen Vater. Bitte verzeih uns, dass wir hier nicht näher darauf eingehen werden. Dazu müssen wir uns erst fassen. Vielleicht werden wir eines Tages darüber reden können, wenn wir uns wiedersehen.
Kommen wir nun zu deiner Bitte. Wir haben bereits zweihundert gute Pferde zusammengetrieben, denn fünfzig werden euch nicht reichen. Diese Pferde gehören dir, Rowarn. Sieh sie als Geschenk von Weideling an den König von Ardig Hall an. Ein paar neue Rekruten aus dem Hinterland, die letzten Frühling noch nicht mit konnten, werden die Herde direkt nach Eisenwacht ins neue Heerlager treiben. Sie werden gewiss noch im Winter dort eintreffen, allerdings werden sie die Nordostpassage nehmen, also nicht den Weg, den ihr damals nach Ardig Hall eingeschlagen habt. Wir halten es für sicherer, so nah wie möglich an den Grenzen Gandurs zu bleiben, um den Dubhani aus dem Weg zu gehen. Zwei Mondwechsel werden sie daher unterwegs sein, aber gewiss nicht zu spät kommen. Die Pferde sind bereits gut ausgebildet, sie benötigen nur noch den letzten Schliff, um als Schlachtrösser eingesetzt zu werden. Die Rekruten sind unerfahren, aber ich denke, es sind treue, kräftige und brave Burschen und ein paar junge Frauen, die schnell lernen. Ich soll dir auch Grüße von Jelim ausrichten. Natürlich wollte sie die Herde begleiten, aber das lassen wir nicht zu, ihre Umstände sind schon viel zu weit fortgeschritten. Du kannst dir sicher vorstellen, welche Trauer ihre Ankunft bei Rayems Eltern ausgelöst hat. Aber sie haben Jelim wie eine Tochter bei sich aufgenommen. Das Enkelkind ist ein Trost für sie, und sie können die Niederkunft kaum mehr erwarten. Ich denke, in zwei Mondwechseln ist es soweit. Jelim ist übrigens dabei, eine Stadtwache aufzustellen, falls die Kriegswirren bis nach Inniu vordringen sollten. Es sind überall marodierende Banden unterwegs, wie du sicher weißt, und zudem die Truppen, die nach den Hütern der verbliebenen Splitter suchen. Doch mach dir keine Sorgen um uns, wir können Weideling verteidigen, und Jelim hat die jungen Mannen gut im Griff.
Lieber Ziehsohn, aus der Ferne senden wir dir unsere Grüße. Geh deinen Weg und glaube an dich.
Lúvenors Licht sei mit dir!
In Liebe
Schneemond und Schattenläufer
NS: Ich hoffe, der Falke verliert unterwegs nicht das Weidenöl. Es sind nur ein paar Tropfen, aber Arlyn kann sie bestimmt brauchen. Sollte er das Öl nicht mehr bei sich tragen, hast du die Erlaubnis, ihn zu rupfen und zu braten.
Rowarn las den Brief zweimal, während seine Finger mit dem kleinen Fläschchen Weidenöl spielten, das der Botenfalk wohlbehalten mitgebracht hatte. Immer wieder musste er schmunzeln, zugleich fühlte er tiefe Wehmut. Er sah auf, als Arlyn hereinkam. »Setz dich zu mir, ich habe etwas für dich.« Er reichte ihr das Weidenöl, das sie mit aufleuchtenden Augen entgegennahm, und las ihr den Brief laut vor. Mehrmals lachte Arlyn erheitert auf.
»Sie haben mir – aber auch dir ein äußerst großzügiges Geschenk gemacht«, bemerkte sie zum Schluss. »Zweihundert edle Pferde, damit kann man schon eine kleine Grafschaft kaufen, mitsamt einer Burg.«
»Besitze ich schon, wenngleich ein bisschen heruntergekommen«, meinte Rowarn mit einem schiefen Grinsen. »Aber ich bin wirklich sehr gerührt darüber, das hätte ich nie erwartet. Damit können wir die Reiterei ganz neu aufbauen, und später ... ach, soweit will ich noch nicht denken. Wer weiß, was aus mir wird. Ich kann mir noch nicht recht vorstellen, für den Rest meines Lebens König von Ardig Hall zu sein. Vielleicht gehe ich erst einmal fort wenn alles vorbei und Frieden eingekehrt ist.«
Sie blinzelte kurz, sagte jedoch nichts.
Eine Weile herrschte unruhiges Schweigen zwischen ihnen, das nah an Verlegenheit grenzte. Rowarn überflog deshalb noch einmal den Brief, und Arlyn betrachtete sinnend das kostbare, völlig farblose Öl. Mit diesem Fläschchen könnte sie ein Fürstentum kaufen. Oder hundert Leben retten. Rowarn runzelte die Stirn und rieb sich den Nasenrücken, als seine Gedanken diese Richtung nahmen.
»Rowarn, wir müssen reden«, sagte die Lady in diesem Augenblick, als hätte sie seine Gedanken erraten, und sah ihn fest an.
»Also gut«, murmelte er, wich dem eindringlichen Blick ihrer goldenen Pupillen aber aus. Davor fürchtete er sich schon die ganze Zeit und war ihr deswegen aus dem Weg gegangen. Er wollte nicht darüber sprechen, doch er wusste, die Lady würde diesmal nicht locker lassen. Also blieb er sitzen, besorgt und angespannt.
»Dieses Öl«, fuhr Arlyn ohne Umschweife fort, »ist nicht für Noïrun bestimmt.« Sie sprach mit ruhiger Stimme, aber dennoch schonungslos. »Ich kann ihm nicht mehr helfen. Er wird sterben. Vielleicht nicht in den nächsten beiden Tagen, aber innerhalb der nächsten zehn. Nur sein Wille hält ihn noch am Leben, doch eines Tages wird er auch dafür nicht mehr genug Kraft haben. Seine Verletzungen sind zu schwer, und wir können die Blutungen nicht stillen. Bald wird er nichts mehr zu sich nehmen können, und dann wird es nicht mehr lange dauern. Ich gebe ihm Schmerzmittel in Dosierungen, die ich eigentlich nicht verantworten kann, aber das spielt keine Rolle mehr.«
Rowarn schluckte schwer, seine Kehle war wie zugeschnürt. Er fühlte sich innerlich auf einmal ganz leer. »Ich weiß, dass du alles versucht hast«, sagte er rau und starrte auf den Brief. Die Schriftzeichen verschwammen vor seinen Augen zu einem Fluss aus dunklem Blut.
»In Valia gibt es keine bessere Heilerin als mich«, sagte Arlyn ohne Eitelkeit. »Aber so groß meine Kräfte auch sein mögen, ich kann nicht den Tod besiegen. Es tut mir leid.«
Er nickte. »Kann ich denn ... gar nichts tun?«
»Sprich mit ihm. Hilf ihm dabei, Frieden zu schließen, damit er sich nicht weiter sinnlos quält«, antwortete sie. »Er verzögert nur das Ende, doch es wird nichts ändern. Wenn du ihn begleitest, fällt es ihm hoffentlich leichter, loszulassen.«
Arlyn sah auf, als die Tür sich öffnete. Angmor kam herein, ein wenig unsicheren Schrittes. Seine Augen waren trüb, und er tastete sich vorsichtig vorwärts, doch er schien nicht vollständig blind zu sein, er fand sich einigermaßen zurecht und wich Hindernissen rechtzeitig aus.
»Ich muss wieder an die Arbeit gehen«, sagte die Lady und stand auf. »Angmor, setz dich zu deinem Sohn. Ich lasse euch etwas bringen.« Sie blieb vor dem Visionenritter stehen und betrachtete kritisch seine Augen. »Was siehst du?«
»Schemen und Schatten«, antwortete er. »Die Sicht ist völlig durcheinandergeraten. Aber ich fühle mich gut und habe keine Schmerzen mehr. Meine Sinne sind nur noch nicht wieder im Gleichgewicht.«
»In Ordnung. Wir sehen uns später.« Arlyn drückte kurz seinen Arm und ging nach draußen.
Angmor setzte sich zu Rowarn an den Tisch; kurz darauf kam eine Schankmaid und brachte Winterbier, Speck, Nüsse und gebratene scharfe Pilze.
Sie tranken und aßen eine Weile schweigend. Dann fuhr Angmor die Krallen ein und streckte die Hand aus, ohne den Kopf zu drehen. Seine Augen blickten starr geradeaus. Behutsam tastete er über Rowarns nasse Wange. »Was ist mit dir?«
»N-nichts weiter.« Rowarn versuchte, seine Stimme unter Kontrolle zu bekommen und ruhiger zu atmen.
»Ich hörte, ein Brief von den Velerii sei gekommen.«
»Oh, da ist alles in Ordnung, sie schicken zweihundert Pferde, und sie bekommen ein Fohlen, und Jelim erwartet bald ihr Kind, und Inniu scheint so zu sein wie immer, sie vermissen mich, aber sie sind auch stolz auf mich.« Rowarn sprach hastig, ohne Atempause.
Angmor senkte leicht den gehörnten Kopf, als er nach seinem Krug griff und ihn näher zu sich zog. »Was ist es dann?«
Rowarn wäre am liebsten aufgestanden und fortgerannt. Seit wann interessierte sein Vater sich für seinen Gemütszustand? Seit wann interessierte es Angmor überhaupt, was andere dachten und fühlten? Das konnte er jetzt nicht brauchen. Das Letzte, was er sich wünschte, war das Mitleid eines Dämons.
»Rede mit mir«, verlangte Angmor.
Rowarn erkannte, dass er ungerecht war, und gab sich einen Ruck. »Es ... es ist wegen Noïrun. Arlyn sagte ...« Er konnte es nicht aussprechen, aber das war auch nicht notwendig. Jeder wusste es doch längst, nur er hatte es nicht wahrhaben wollen. Genauso wenig wie Noïrun selbst.
Angmor fuhr mit dem Finger über den Rand des Kruges. »So sehr liebst du ihn?«
Rowarn stand kurz davor, die Fassung zu verlieren. »Ich ... ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass wir im Frühjahr ohne ihn nach Eisenwacht gehen. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie es ohne ihn weitergehen soll. Ich meine ... sicher werden wir es irgendwie schaffen. Felhir ist sehr fähig, und da ist Olrig, und du bist dabei ... aber ...« Er unterbrach sich und schüttelte den Kopf.
Angmor dachte eine Weile still nach. Dann fragte er langsam: »Würdest du um mich ebenso trauern?«
Rowarn starrte seinen Vater tief betroffen an. »Ich weiß es nicht«, flüsterte er.
Angmor sagte nichts mehr.
Draußen focht die Sonne eine Schlacht gegen ein Heer von Wolken, die sich nicht entscheiden konnten, ob sie Schnee oder Regen mit sich führten. Riesige Schatten eilten über das feuchtkalte Land, der Wind rüttelte an den Bäumen und zerrte an den trockenen Farnwedeln. Schweigend saßen Vater und Sohn, bis Olrig zu ihnen kam; müde, aber nicht ohne ein Lächeln. Der Zwerg gab niemals auf. Es gelang ihm tatsächlich, die Stimmung ein wenig aufzuhellen, als Reeb und Laradim eintrafen, und sie sangen Lieder, bis das Mittagessen gebracht wurde, zu dem sich auch Arlyn und Graum hinzugesellten. Rowarn schaffte es nicht lange, seinen Trübsinn aufrechtzuerhalten, die anderen ließen es nicht zu, und selbst Angmor ließ sich dazu hinreißen, eine heitere Anekdote über seinen Freund Loghir zu erzählen, die noch nicht einmal Arlyn kannte.
Im Laufe des Tages trafen aus zwei Richtungen Boten ein. Sie bestätigten die Berichte der Velerii über marodierende Dubhani, die mordend durch das Land zogen, heute hier und morgen dort auftauchten und die Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzten. Auch nach den Hütern der Splitter wurde gesucht, denn viele Weise Frauen und Einsiedler waren gefangen und gefoltert worden, damit sie ihr Wissen preisgaben. Doch die Hüter waren gut verborgen, es gab keine Spur von ihnen.
»Dann muss ich sofort etwas unternehmen!«, rief Rowarn, nachdem die beiden Boten ihren Bericht beendet hatten, doch Angmor bremste ihn.
»Vor dem Frühjahr wirst du gar nichts tun. Wir fangen jetzt im Winter keine Schlacht an. Felhir wird den Banden auf seine Weise begegnen. Er weiß, was zu tun ist! Vertraue ihm. Und die Weisen wissen sich auf ihre Art zu wehren. Sie sind darauf vorbereitet, es ist nicht das erste Mal, dass so etwas passiert. Übernimm nicht die Verantwortung für alles, auch andere können in deinem Sinne tätig werden.«
»Aber ich bin doch schuld daran«, widersprach Rowarn. »Wenn ich nicht mit dem Schwert zugeschlagen hätte ...«
Angmor schnitt ihm das Wort mit einer Handbewegung ab. »Dann hätte Femris vielleicht dich erschlagen oder gefangen genommen, und mich und Arlyn dazu. Hör endlich auf damit! So schlecht ist unsere Lage nicht. Hab Geduld, du bist doch kein schnelllebiger Mensch. Halte dich an die Lehren deiner Muhmen!«
Graum kam herein, mit einem zerzausten Botenfalk in der einen und einer Schriftrolle in der anderen Hand. »Dieses Federvieh wollte mir die Nachricht beinahe nicht geben.« Er reichte die Rolle an Rowarn. »Aus Eisenwacht, es trägt das Siegel des Heermeisters. Heute ist der Tag der Nachrichten, das ist beileibe nicht der einzige Überbringer. Es hat sich wohl herumgesprochen, dass wir hier eingetroffen sind.«
Rowarn nickte den beiden wartenden Boten zu, die sich endlich über die angebotene Mahlzeit hermachen durften. »Entschuldigt uns.« Er ging zusammen mit den beiden Dämonen in den kleinen Raum neben der Küche, erbrach das Siegel und las hastig.
»Rede schon«, knurrte der Schattenluchs, der immer noch den zeternden Botenfalk festhielt.
»Wie du gesagt hast, Vater – Felhir kümmert sich um die versprengten Dubhani«, berichtete Rowarn und ließ die Rolle langsam sinken. »Und in der Splitterkrone ist der neue Heermeister eingetroffen.«
»Wer?«, fragte Angmor ungeduldig.
»Auch hier hast du Recht behalten. Es ist ein Dämon, den man den Gorgonier nennt.«
»Sherkun!«, entfuhr es Graum, und sein Backenbart sträubte sich, was den zappelnden Falken zur Verzweiflung trieb. Mit scharfem Schnabel hackte er panisch auf Graums fellige Hand ein, doch der schien es nicht einmal zu spüren. »Womit hat Femris ihn wohl geködert?«
»Er hat es sich gewiss eine Menge kosten lassen«, meinte Angmor, dessen Stirnwülste sich düster zusammengezogen hatten. »Sherkun ist groß und in der Blüte seiner Jahre, und ein Liebling unseres Gottes. Ein machtvoller Gegner. Ihn als Verbündeten zu gewinnen, dürfte Femris nicht leichtgefallen sein. Sherkun kümmert sich normalerweise nicht mehr um weltliches Geschehen, seit er die Insel Gorgonea in Besitz nahm und dort seine Schreckensherrschaft ausübt.« Er seufzte. »Wenn ich jünger wäre, hätte ich mich auf den Kampf gefreut.«
»Bah, ich stehe auch in der Blüte meiner Jahre«, versetzte Graum spöttisch. »Ich weiß genau, wo ich meine Krallen und Zähne bei ihm einsetzen werde, und Fashirh wird ebenfalls mit Freuden dabei sein. Die beiden haben noch eine alte Rechnung offen.« Er fuhr die Krallen der linken Hand aus und ein, und seine orangefarbenen Augen blitzten feurig. »Endlich einmal wieder ein ernstzunehmender Gegner!«
Rowarn funkelte ihn strafend an. »Begrüßt du das etwa?«
Der Schattenluchs zeigte seine scharfen Zähne. »Sherkun ist immerhin berechenbar, Rowarn. Er scheint zwar von seiner Statur her unüberwindlich, ist aber ein sehr geradliniger Dämon.«
»Aber er ist nicht dumm«, fügte Angmor hinzu. »Er lässt das Heer keinesfalls vor dem Frühjahr antreten. Sie werden in der Splitterkrone bleiben und Kräfte sammeln.«
»Das sagen auch die Zwerge, die dort immer noch lagern«, bestätigte Rowarn und wies auf die Schriftrolle. »Sie haben sich im Felsengebiet eingerichtet und werden den Winter über dort bleiben. Bisher werden sie aus Ennishgar versorgt.«
»Höre ich da Ennishgar?«, erklang Olrigs Stimme in der Tür, und er wedelte mit der Hand, die einige Seiten Papier hielt. »Larinda hat mir einen langen Brief geschrieben, in dem sie berichtet, wie das Zwergenheer in der Splitterkrone versorgt wird. Statthalter Lomhim zeigt sich sehr großzügig, und wie es scheint, die Gevatterin auch. Ich werde dies natürlich an Vizekönig Alwick der Kúpir weiterleiten.«
»Ardig Hall wird euch entschädigen«, versprach Rowarn. »Das heißt, falls ich jemals an das Vermögen herankomme ...«
»Mach dir keine Gedanken, junger König, das Zwergenvolk ist nicht arm und ich sehe nicht ein, warum Ardig Hall für alles aufkommen sollte«, winkte der Kriegskönig ab und war mit einem Fuß schon wieder aus der Tür. »Das muss ich gleich Noïrun erzählen, und außerdem muss ich ihm Grüße von Larinda ausrichten ... wobei ich ehrlich gesagt ziemlich rote Ohren beim Lesen bekommen habe ...« Seine weiteren Worte wurde abgeschnitten, als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel.
»Gut, dass er das mit dem Gorgonier nicht mitbekommen hat«, sagte Graum und streckte sich. »Ich muss mich jetzt ein bisschen bewegen. Wartet nicht mit dem Abendessen auf mich.«
»Lass doch endlich den armen Falken frei«, forderte Rowarn ihn auf.
»Später«, grinste der Schattenluchs. »Ich werde noch ein bisschen mit ihm spielen, ist ein netter kleiner Flatterkerl.«
Rowarn gab es auf. Er wusste, dass Graum dem Tier nichts zuleide tun würde, doch er hatte nicht viel übrig für derbe Katzenspiele.
»Ich werde mich etwas hinlegen«, bemerkte Angmor, und tatsächlich waren seine Augen stumpf, er sah grau und alt aus. Selbst die mächtigen Widderhörner hatten ihren silbrigen Schimmer verloren. Rowarn fragte sich, ob er es verantworten konnte, dass sein Vater am Kampf noch teilnahm.
Den Rest des Tages war Rowarn mit seinen Gedanken beschäftigt. Er machte es wie Graum und ging nach draußen; tatsächlich klarte das Wetter zusehends auf, und es wurde wieder wärmer. So unternahm er einen langen Spaziergang und versuchte sich darüber klar zu werden, wie sie verhindern konnten, dass Femris’ Schergen überall in Valia Angst und Chaos verbreiteten. Selbst versteinert übte Femris durch seine treuen Befehlshaber immer noch Macht und Einfluss aus, um das Volk einzuschüchtern und die Anhänger von Ardig Hall zu demoralisieren, während die Dubhani sich in aller Ruhe auf den Angriff im Frühjahr vorbereiteten. In der Splitterkrone waren sie durch das Dämonentier sicher, und vermutlich konnten die Zwerge nicht alle Geheimgänge durch die Felsen finden, auf denen Vorräte transportiert wurden. Der Großteil des gegnerischen Heeres war also bei Sternfall gebunden. Sollte Rowarn doch einen Angriff auf die Lichtlose Burg wagen? Aber was wäre damit erreicht? Die in der Mitte eines Sees gelegene Burg konnte einer Belagerung standhalten und brauchte zur Verteidigung nicht viele Einheiten. Andererseits – mit Fashirh und der Hilfe der verbündeten Dämonen konnten sie möglicherweise doch hineingelangen. Der unterseeische Zugang war zwar sicher inzwischen versperrt, aber das konnte Dämonen vermutlich kaum aufhalten. Ja. Rowarn nickte sich selbst zu. Die versteinerte Statue und die Splitter sollten von Ardig Hall bewacht werden, während die Suche nach den Hütern fortgesetzt wurde. Das war der beste Weg!
Am Abend zog Rowarn sich frühzeitig auf sein Zimmer zurück, denn die Gaststube war ihm zu still. Reeb und Laradim waren von ihrer Patrouille noch nicht zurück, vermutlich waren sie in einem Gasthaus in Farnheim-Markt eingekehrt. Olrig hielt sich bestimmt bei Noïrun auf, Angmor ruhte, und Arlyn arbeitete bis spätnachts.
Mehrmals fing Rowarn einen Brief an die Velerii an und überlegte auch, was er Felhir schreiben sollte. Doch seine Gedanken waren zu zerstreut, immer wieder schweiften sie ab. Zu viel ging ihm durch den Kopf, und bei dem wenigsten wollte er verweilen.
Schließlich gab er auf und ging zu Bett. Eine Weile wälzte er sich unruhig, und dann schlief er doch ein.
Erstaunt fand Rowarn sich in Ardig Hall wieder, am Fuße der großen hundertstufigen Portaltreppe, die einst zum stolzen Schloss hinaufgeführt hatte. Seltsamerweise war es Tag, der Himmel klar. Rings umher lag das Land brach. Riesige Brandstellen und ein frisch aufgeworfener Hügel zeigten an, wo die Gefallenen der letzten Schlacht verbrannt und verscharrt worden waren. Das eine oder andere zusammengefallene Zelt von Femris’ Heerlager war zurückgeblieben, Fetzen von Fahnen und Kleidung lagen herum, Bruchstücke von Holzkarren und dergleichen mehr. Rüstungen und Waffen waren jedoch eingesammelt und mitgenommen worden. In einiger Entfernung blickte Rowarn auf die Überreste des zerstörten Lagers von Ardig Hall herab, und dazwischen lag das verwüstete Schlachtfeld. Hier würde sehr lange nichts mehr wachsen. Rowarn schauderte es, und vor seinem inneren Auge wurde die Schlacht wieder lebendig, die Schreie der Kämpfenden und Verwundeten hallten in seinen Ohren nach. Er hörte das Donnern der Pferdehufe, und sah sich selbst, als er mit Angmor zusammen das Feld verließ. Weit hinten, damals noch nicht sichtbar, sah er heute die aufgewirbelte Staubwolke der heranrückenden Verstärkung für Femris. Im Verlauf einer einzigen Stunde war Ardig Hall der Sieg sicher gewesen, nur um dann im Handstreich zunichte gemacht zu werden.
Aber so nah war der Triumph wohl noch nie gewesen. Doch zu welchem Preis! Rowarn wandte sich der Treppe zu und blickte nach oben, auf die immer noch rauchenden Ruinen des weißen Schlosses, die sich über mehrere Hügel erstreckten. Langsam stieg er die Stufen hinauf, fühlte den Wind durch seine Haare streichen, doch keinen magischen Bann, der ihn aufhalten wollte. Der Himmel neigte sich ihm entgegen, je höher er kam, tief wie das Meer, mit fernen leuchtenden Punkten. Und da hörte er wieder Olrigs Stimme in der Ferne, ein klarer Bass, begleitet von Noïruns leicht rauem Bariton.
»Perlmond bin ich, ein Friedensherrscher wollt ich sein, in Pflicht
und Ehr, doch das Meer tobt dunkel mit schäumender Gischt
hier in Ardig Hall.«
Rowarns Anspannung wurde immer stärker. Perlmond bin auch ich, dachte er, und den Frieden will ich, ja, gewiss. Doch ein Herrscher? Das bin ich nicht. Dies ist nicht mein Schloss, es ist das der Altvorderen, und ich betrete es voller Ehrfurcht. Ich bin Perlmond, aber ich bin fremd. Ich weiß nichts über meine Vorfahren.
»Und in meiner Erinn'rung, wenn die Nacht ist klar,
spür ich die See, tauch ein die Fluten und schwimm mit der Schar.
Oh! Kannst du sie sehn, die große Stadt aus Koralle und Stein?
Leuchtend und wiegend Blumentier, Anemon', Diamantenstern,
so steh ich und sehn mich, ewig klagend, die See ist so fern,
Darf niemals hoffen, je wieder dort zu sein.«
Rowarn seufzte und trat über die Schwelle. Hinter die Reste der Mauern, die noch standen.
Und Ardig Hall war noch viel größer als von außen ersichtlich. Ein mächtiges Reich für sich. Immer noch waren die Aufteilungen der Nebengebäude erkennbar, und ein Teil des mehrstöckigen Haupthauses war erhalten geblieben. Eine anrührende Erinnerung an die einstige Pracht. Rowarn fragte sich, ob er die Gemächer seiner Mutter wohl finden würde, wenn er dort hineinginge. Für einen Augenblick zögerte er, dann schüttelte er den Kopf. Nein, er wollte es nicht sehen. Nicht jetzt. Später, vielleicht. Wenn alles vorüber war.
Auf der linken Seite erstreckte sich, immer noch umgeben von nahezu intakten Mauern, ein zauberhafter alter Park, dessen älteste Bäume vermutlich vom ersten Perlmond gepflanzt worden waren. Selbst jetzt im Herbst standen viele Gewächse noch im Grün, und alles sah unberührt und wild aus, doch wie ein feines Spinnennetz zogen sich verschlungene Wege hindurch. Dies war die älteste und einzige noch erhaltene Grünanlage, alle anderen Gärten waren vernichtet worden, und die Baumleichen außerhalb des ummauerten Parks reckten die verkohlten Stämme anklagend in den Himmel.
Unwillkürlich zog es Rowarn zu diesem grünen Herzstück, denn ihm war, als könne er seine Mutter dort atmen hören und im See in der Mitte des Gartens schwimmen sehen. Dort musste sie glücklich gewesen sein, fern dem Krieg und der Bürde der Verantwortung, von den Erinnerungen ihres Volkes umgeben.
Ein kunstvoll geschmiedetes Tor verwehrte den Zugang zum Park. Die Dubhani hatten es seltsamerweise nicht angerührt, obwohl sie alles andere geschleift hatten. Vielleicht hatten sie zuletzt doch eine Art Respekt empfunden vor etwas, das hier schon seit Jahrtausenden lebte und doch unbekannt war, weil es aus anderen Gefilden Waldsees stammte. Rowarn wusste nicht, was das für Bäume waren, die über die Mauern hinausragten. Er legte die Hände an die Gitterstäbe und schaute staunend in den Zaubergarten, und auf einmal fühlte er sich nicht mehr fremd. Dieser Anblick war ihm ... irgendwie vertraut, als hätte er schon von ihm geträumt.
»Natürlich hast du das«, erklang in diesem Moment eine flötende Stimme neben ihm, und Rowarn fuhr zusammen. »Alle Nauraka, die das Meer verließen, tun das.«
Neben ihm stand eine Frau, wie aus dem Boden gewachsen. Oder vielmehr, vom Himmel gefallen, denn sie hatte etwas Vogelartiges an sich. Ihr rückenlanges, mähnenartiges Haar wirkte wie hauchfeine Daunenfedern, die Augen waren groß und rund, von mattem Orange, mit blauer Pupille. Der Mund war vorgewölbt und spitz, die Nase darüber gebogen. Selbst die Brauen wirkten wie feine Federn. Sie war klein, der Rücken wirkte ein wenig verkrümmt, die Brust vorgewölbt. Sie trug ein knöchellanges, schillerndes Gewand, unter dem bloße Füße mit langen Zehen hervorschauten. Um den rechten Fuß trug sie einen goldenen Ring, und davon führte eine Kette zu einem goldenen Armband am rechten Handgelenk. Sie konnte sich damit zwar bewegen, aber niemals rennen. Geschweige denn fliegen. Trotzdem hatte sie sich so lautlos genähert, dass Rowarn sie nicht bemerkt hatte, obwohl er scharfe und gut trainierte Sinne besaß.
»Erschrick nicht«, fuhr sie mit ihrer Vogelstimme fort, »ich will dir kein Leid tun. Wie könnte ich auch.«
»Wie ist das möglich?«, flüsterte Rowarn. »Träume ich?«
»Gewiss.« Die Vogelartige lächelte. »Ich bin Tialee, Leibdienerin von Königin Ylwa, und grüße dich, Rowarn von Weideling. Endlich hast du dich dazu entschieden, dein Erbe anzunehmen. Nun öffne dich ganz und gar dem Blut der Nauraka.«
»Aber wie ...«
»Folge mir.« Ohne seine Antwort abzuwarten, ging Tialee auf den unversehrten Teil des Schlosses zu. »Es gibt jemanden, der dich sprechen will.«
Rowarn ging ihr zögerlich nach. Mit gemischten Gefühlen betrat er über den Innenhof die Gemächer der Königin, die er sofort aus den Erzählungen seines Vaters erkannte. Noch immer wehte der Wind durch die Vorhänge, nun jedoch einsam und verlassen. Die Inneneinrichtung war größtenteils zerstört, das Mobiliar durcheinandergeworfen und zerschmettert. Aber den Brunnen gab es noch immer, und dort am Rand ... saß eine Frau.
Ihre ätherische Erscheinung war von Schleiern umweht, ihre blasse Haut schimmerte wie Seide. Ihr langes Haar hatte die Farbe von Kornähren, und ihre Augen hatten die Farbe der tiefen See an einem sonnigen Tag.
Sie sah so jung aus, kaum älter als Rowarn, und sie lächelte ihn strahlend an und erhob sich, als er ungelenk stolperte und stehen blieb. Sie war nur wenig kleiner als er.
»Rowarn«, begrüßte sie ihn. »So lange habe ich gewartet. Ich bin froh, dass du endlich den Weg zu mir gefunden hast.«
»M-Mutter«, keuchte er. »Aber das ist ...«
»Unmöglich? Nein. Wir haben uns schon ein paarmal berührt. Doch erst jetzt hast du dich ganz geöffnet und konntest den Pfad beschreiten.« Langsam ging sie auf ihn zu und blieb stehen, als er zurückwich. Mit amüsiertem Gesichtsausdruck und leicht schief gelegtem Kopf betrachtete sie ihn. »Wovor hast du Angst?«
»Du bist ein Trugbild«, stieß Rowarn hervor. »Schon einmal hatte jemand meinen Geist in seiner Gewalt, der sich meiner jedes Mal bemächtigte, wenn ich schlief ...«
»Heriodon ist tot, Rowarn, und du bist frei von ihm. Und ich bin kein Trugbild, noch bin ich eine List des Feindes. Ich bin Ylwa, deine Mutter. Tief in dir weißt du es und kannst es spüren.«
Er wollte es wirklich glauben. Aber es war einfach nicht möglich, sein Geist sponn ihm da etwas vor. Er wünschte es sich eben so sehnsüchtig, seiner Mutter zu begegnen, dass er glaubte, es wäre wahr. Dies war nur Einbildung. Selbstlüge. »Ich dachte, wenn man tot ist, ist alles vorbei ...«
»Oh nein«, lächelte die Königin. »Für die Mächtigen muss der Tod nicht immer das Ende bedeuten, mein Sohn. Ich werde es dir zeigen. Sieh dorthin.«
Plötzlich hatten sie Ardig Hall verlassen, und Rowarn fand sich an einem hell strahlenden Strand wieder, spürte feinen warmen Sand unter den nackten Füßen und roch Salz in der milden Brise, die vom heranrollenden Meer herkam. Der Himmel über ihm war fremd und keralinblau, die Farbe des Wittersteins, der nur in den tiefsten Bergen vorkommt. Rowarn sah an sich hinab; er trug nichts außer der Leibwäsche, genauso, wie er zu Bett gegangen war. Ein Traum, es konnte nicht anders sein.
Ylwa wies auf das Meer. Auf den sanften Wellen schaukelte ein Schiff, gläsern und durchsichtig, mit Segeln aus hauchfeinem Glasgespinst, die sich in der zarten Brise blähten. »Damit werde ich reisen, wenn dies hier abgeschlossen ist. Ich habe auf dich gewartet. Ich wusste, dass du eines Tages den Weg zu mir finden würdest.«
Er merkte, wie seine Augen feucht wurden. »Lass mich diesen Traum bis zum Ende gehen ...«, flüsterte er.
Sie lachte sanft. »Dies ist kein Traum, Rowarn. Nicht so, wie du glaubst. Du bist wirklich hier. Wir begegnen uns. Du kannst mich fühlen, wenn du es willst.«
Er streckte die Hand aus und berührte zaghaft ihren Arm. Ihre Schulter. Ihre Wange. »Mutter ...«, hauchte er fassungslos.
»Ja«, sagte sie zärtlich. »Ich bin es.« Behutsam zog sie ihn in ihre Arme, und er spürte ihre Nähe, und jetzt wusste er, dass sie nicht log. Dies geschah wirklich, obwohl es doch trotzdem ein Traum war, denn er erinnerte sich, an ihren Duft und ihre Wärme; genau so, wie sie ihn das erste Mal nach seiner Geburt im Arm gehalten hatte.
»Was für ein Geschenk«, stieß Rowarn hervor, während er es wagte, die Arme um seine Mutter zu legen.
Sie streichelte seinen Kopf, seinen Nacken. »Ich habe dich immer vermisst, mein Kind. Es verging kein Tag, an dem ich nicht an dich dachte. Und ich wartete stets ungeduldig auf die Rückkehr des Weißen Falken, und wenn er endlich eingetroffen war, musste er mir tagelang immer wieder erzählen, was er in Erfahrung gebracht hatte. Ich habe dich durch seine Augen heranwachsen sehen, und ich wartete sehnsüchtig auf den Tag, dich endlich in meine Arme schließen zu dürfen.« Sie ging ein wenig auf Abstand, um ihm in die Augen zu sehen. »Du bist so groß und schön geworden, ich kann es kaum fassen. Und du hast die Augen deines Vaters ...«
»Zum Glück nicht seine Hörner«, entfuhr es ihm, und es ging ihm durch und durch, als sie hellauf lachte.
»Und auch nicht seinen Humor«, stellte sie erheitert fest.
Rowarn strahlte. Es gefiel ihm, nach seiner Mutter geraten zu sein, und eine Erleichterung war es zudem.
Gemeinsam schritten sie nebeneinander den Strand entlang, und er genoss es; Traum oder nicht, es war ein überaus kostbarer Moment. Um sie war nur Weite, Sand und Meer, und immer gleichauf das schaukelnde gläserne Schiff. Es war absolut still, denn es gab hier sonst nichts, nur sie beide. Selbst das Meer schwieg.
»Ich bin stolz auf dich«, sagte die Königin nach einer Weile. »Du gibst uns allen große Hoffnung. Niemand hätte das je für möglich gehalten, doch du bist ein lebendiger Beweis, dass Regenbogen und Finsternis einst wirklich EINS gewesen sind.«
Rowarn richtete den Blick in die Ferne. »Und trotzdem bleiben sie für immer unvereint«, wandte er ein. »Immer, wenn sich die beiden Essenzen in mir durchmischen, wird mir übel, und ich bin außer Gefecht gesetzt. Ich bin ZWEI, obwohl ich nicht der Zwiegespaltene bin.« Er schüttelte leicht den Kopf. »Das ist sehr bizarr.«
Ylwa hob eine leere Muschelschale auf und rollte sie zwischen den Handflächen. »Wohl wahr. Bis zum Schluss habe ich nicht geglaubt, dass du lebensfähig sein könntest. Ich hatte große Angst vor der Geburt, doch als ich dich dann sah ... begriff ich, dass der Kampf um das Tabernakel sich dem Ende näherte, dass du die entscheidende Wendung herbeiführen würdest. Du und Femris, ihr beide seid aneinander gebunden, bis das Tabernakel wieder zusammengesetzt ist.«
»Aber was ich nicht verstehe ... wieso habt ihr Femris das Tabernakel vorenthalten? Es steht ihm zu. So hat es Erenatar doch bestimmt.«
»Hast du nicht schon darüber nachgedacht und entschieden?«
»Ja, und ich habe die Meinung eines Dämons dazu gehört. Nun bitte ich dich um deine Meinung.«
Ylwa nickte. »Erenatar hat zwar bestimmt, dass der Zwiegespaltene das Tabernakel aktivieren kann. Doch er darf es nicht missbrauchen. Femris hätte niemals die Vorherrschaft über Tamron erlangen und ein eigenes Ziel wählen dürfen. Der Zwiegespaltene ist nicht, was er sein sollte. Und du weißt, wonach ihn verlangt. Das dürfen wir nicht zulassen, und das kann auch nicht in Erenatars Sinne sein, der weder Finsternis noch Regenbogen bevorzugt. Wir haben uns zur Pflicht gemacht, das Tabernakel solange von Femris fernzuhalten, bis er zur Vernunft gekommen ist und sich in seine wahre Bestimmung fügt. Damit können wir unsere Schuld sühnen, das Tabernakel vor der Zeit an uns gebracht zu haben, und bewahren das harmonische Gleichgewicht zu Femris.«
»Was soll ich also tun? Wer ist nun im Recht?« Rowarn blieb stehen. »Ich weiß nicht, ob euer Handeln gerechtfertigt ist, aber ich habe auch die Dunkelheit in Femris gesehen. Er ist machthungrig, er foltert und tötet ohne Gnade. Das Tabernakel gehört ihm, aber er würde seine Macht missbrauchen, und deswegen ... habt ihr vielleicht doch gut daran getan. Ich weiß es einfach nicht. Seit vielen Tagen quäle ich mich damit herum und renne im Kreis. Meine Entscheidung habe ich dreimal gefällt und ebenso oft verworfen, ich bin hin und hergerissen, und Graum hat mich ins Schwanken gebracht.«
»Deine Aufgabe liegt klar und deutlich vor dir«, antwortete seine Mutter. »Als Erstes wirst du die restlichen Splitter finden, und dann musst du mit ihnen zu Femris, um die anderen drei zu holen.«
»Aber ... die drei Splitter hat Femris bei seiner Versteinerung in den Händen gehalten! Ich kann sie nicht erreichen.«
»Das wirst du, sobald die Teile wieder an einem Ort zusammengeführt sind. Die Splitter müssen vereint werden, nur darauf kommt es an. Das Artefakt hätte niemals zerbrochen werden dürfen.« Ylwa hob die Schultern. »Was es jedoch bewirken kann, weiß niemand. Der Tod hat mich nicht weiser gemacht und mir nichts offenbart, was mir nicht bereits bekannt gewesen wäre. Das kommt vielleicht noch, wenn ich mit dem Schiff abreise. Ich weiß genauso wenig wie meine Vorfahren, wofür das Tabernakel gedacht ist. Aber du wirst es erfahren.«
»Also läuft es darauf hinaus, wie Graum gesagt hat? Auf ihn und mich?«
»Ja, Rowarn. Ganz am Ende vielleicht. Weil du der bist, der du bist.«
»Aber wie viel Aussicht auf Erfolg habe ich denn?«, fragte Rowarn verzweifelt. »Keiner konnte Femris je besiegen, nicht einmal Angmor ...«
»Dubhan ist der Schlüssel, Rowarn«, unterbrach die Königin eindringlich. »Ich sage es dir noch einmal: finde die Splitter und bring sie dorthin! Du hast mächtige Verbündete. Du musst dich Femris nicht allein stellen! Ihr könnt es gemeinsam tun, denn auch Angmor ist an das Tabernakel gebunden, und Arlyn hat sich ebenfalls als gebunden offenbart. Geht noch einmal nach Dubhan – und das muss bald geschehen.«
Sie nahm ihn an der Hand, und dann waren sie wieder in Ardig Hall und schritten durch das geöffnete Tor des alten Parks. Ylwa führte ihren Sohn über die verschlungenen Wege bis zu einem Grab, das nicht alt sein konnte, und neben dem mit gesenktem Kopf Tialee kauerte, Ylwas Leibdienerin.
»Hier also?«, wisperte er.
Seine Mutter nickte. »Tialee wird wachen, bis du nach Ardig Hall zurückkehrst. Dann sollst du sie freilassen.« Sie strich über sein Haar. »Ich muss jetzt gehen, mein Sohn, es wird Zeit.«
Das Herz wurde ihm schwer, aber zugleich war es von Dankbarkeit erfüllt, von seiner Mutter Abschied nehmen zu dürfen. »War es ... sehr schlimm?«, fragte er leise.
»Mein Tod? Aber nein.« Sie lächelte sanft. »Er grämt sich deswegen, nicht wahr? Dein Vater.«
Er nickte stumm.
»Sage ihm, dass ich den Similu sofort durchschaute. Natürlich sah er aus wie mein Liebster, aber er war eben nur aus Lehm. Dachte mein stolzer Dämon wirklich, so eine plumpe Nachahmung könnte mich auch nur für einen Moment täuschen? In dem Moment, als er durch meine Tür brach, wusste ich, dass Femris von meiner Beziehung zu Nachtfeuer erfahren hatte und nach Rache verlangte. Der Similu bestand nur aus Zorn und Hass, doch natürlich ahnte sein Schöpfer nicht, wie weit die Täuschung tatsächlich ging, nämlich dass wir ein gemeinsames Kind hatten. Den Erben von Ardig Hall. Er kann dich nicht besiegen, Rowarn. Das alles erkannte ich in dem Moment, bevor der Similu mich tötete.« Sie lächelte gelassen. »Ich entfernte meinen Geist bereits aus meinem Körper, als er das Schwert in mich stieß, sodass ich keinen Schmerz spürte, und mein Leib ergab sich sofort und freudig dem Tod, weil meine Aufgabe erfüllt war. Du und dein Vater, ihr habt nun die Pflicht, Hüter zu sein. Und ich darf endlich ins Meer zurückkehren.«
Rowarn nickte. Er ergriff ihre Hände, führte sie an seine Lippen. »Er hat mir von dir erzählt«, flüsterte er. »Er vermisst dich so sehr.«
»Ich vermisse ihn auch«, sagte sie. »Sag ihm, dass er keine Schuld trägt. Und wenn ... er dereinst ans Meer geht, wird er mich wiederfinden, eines späten Tages.« Sie berührte zart sein Gesicht und küsste ihn auf die Stirn. »Geh nun, mein Sohn. Du weißt, wo meine sterbliche Hülle ruht. Sie wird ein Teil deines neuen Gartens sein, und ein wenig von mir werden die Bäume in sich tragen. Ardig Hall wird wieder erstrahlen. Du wirst ein guter König sein. Ich kann nun in Frieden abreisen, und es wird auch Zeit. Selbst für Mächtige kommt der Moment, an dem sie über die Schwelle treten müssen, und ich habe schon sehr lange gewartet.«
»Geh beruhigt«, sagte Rowarn. »Ich danke dir für alles. Ich werde dich nicht enttäuschen.«
Er sah, wie sich das Tor zum Strand mit dem gläsernen Schiff wieder öffnete. Ylwa lächelte ihm ein letztes Mal zu und winkte, dann wandte sie sich um und ging.
Rowarn fuhr hoch und starrte mit aufgerissenen Augen um sich. Sein Herz raste, und seine Hände zitterten, als er sein Gesicht betastete, dann das Bett und die Wand, um ganz sicher zu sein, dass dies die stoffliche Wirklichkeit war.
»Ich bin zurück«, stieß er hervor und merkte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Er fühlte sich, als wäre er den ganzen Tag gerannt und ohne Pause auf einen Berg hinauf- und wieder hinuntergeklettert, und hielte nun das erste Mal an. Sein Atem ging stoßweise, und er brauchte eine lange Zeit, bis er wieder zur Ruhe kam. Dann war er so erschöpft, dass er sich am liebsten wieder hingelegt und geschlafen hätte. Doch draußen kroch bereits der erste fahle Schein der Dämmerung herauf, und er wusste, er würde keinen Schlaf mehr finden.
Aufgewühlt stand Rowarn auf. Immerhin schüttelte es ihn nicht so durch, dass er sich übergeben musste, doch weit entfernt davon war er nicht. Er zog einen Überwurf über und lief barfuß aus dem Haus. Der erwartete Kälteschock, von dem er sich Belebung erhofft hatte, setzte jedoch nicht ein, denn der beginnende Morgen war verhältnismäßig mild. Nebel dampfte von den Kaskadenfällen herüber, und der See schien in Watte eingepackt zu sein. Es war völlig windstill, und Rowarn beobachtete, wie seine Atemwölkchen langsam von seinem Mund schwebten und sich sacht verflüchtigten. Er trabte zum See hinunter, zog sich am sandigen Ufer aus und tauchte unter den Nebel ins warme Wasser.
Warum habe ich das nicht schon längst getan, dachte Rowarn und zog das Wasser tief durch seine Kiemen. Er entspannte sich sofort, sein Geist befreite sich von aller Düsternis, und er dachte nur noch an die beglückenden Momente der Begegnung mit seiner Mutter.
Das Wasser war warm und nicht tief, durchsetzt von glitzernden Teilchen und Myriaden winziger dahintreibender Tierchen, gläsern, milchig und pulsierend, mit hauchfeinen Wimperbeinchen und Zangenärmchen. Schlanke, silberne Fische jagten mit weit geöffnetem Maul zwischen ihnen hindurch, verfolgt von Regenbogenwelsen. Sie alle fürchteten sich nicht vor Rowarn, als er zwischen ihnen hindurchtauchte, wichen ihm nur träge aus und beachteten ihn nicht weiter. Der Boden war sandig, und vielfarbige Hummer staksten darüber, eifrig mit langen Tastscheren nach Nahrung wühlend.
Rowarn ließ sich dicht über dem Grund dahintreiben; das war besser als die Tiefe Ruhe, denn er zog durch eine Welt, die weitab der gewohnten lag, fern aller Sorgen von dort. Er konnte sich geborgen fühlen, ohne sich Gedanken um andere machen zu müssen. Die Verlockung war groß, nun einfach hierzubleiben und allem weiteren Schmerz auszuweichen. Er hatte schon viel erreicht; er hatte seine Eltern gefunden, was ihm am meisten am Herzen gelegen hatte. Mochten sich andere um alles Weitere kümmern. Bisher waren sie auch ohne ihn ausgekommen, also warum sollte auf einmal alles von ihm abhängen?
Etwas streifte Rowarns Bein, und er sah sich um. Ein mannslanger Glattschlängler hatte sich ihm angeschlossen und erwiderte Rowarns Blick aus starren, runden gelb umrandeten Augen. Sein langes, spitzes Maul war mit Zähnen gespickt. Die Fische und Krebse in der Nähe ergriffen mit blinkenden Schuppen die Flucht, und für einen Augenblick geriet das Wasser in Unruhe. Rowarn blinzelte, als mattes Streulicht sich durch den Nebel über der Oberfläche tastete und ins Wasser stach; die Sonne war aufgegangen. Draußen begann ein neuer Tag.
Ich muss zurück, dachte er. Ich darf hier nicht ewig verweilen, in diesem Zwischenreich des Zwielichts. Ich muss beenden, was ich begonnen habe, so verlockend es auch wäre, sich davonzuschleichen. Meine Mutter hat nicht an den Gestaden auf mich gewartet, damit ich mich jetzt davonmache. Jeder hat seine Aufgabe zu erfüllen, und das Tabernakel ist die meine. Ich habe sie mir nicht ausgesucht, sondern sie mich – aber das ändert nichts. Ich würde überallhin die Schuld mit mir nehmen, meine Freunde und alle, die ihr Vertrauen in mich gesetzt haben, im Stich gelassen zu haben. Arlyn hat es einmal zu mir gesagt: die Welt ist rund. Egal, wohin ich gehe, eines Tages bin ich wieder dort, von wo ich aufgebrochen bin, und ich bin immer noch derselbe.
Doch diese Pause hatte ihm gut getan. Er fühlte sich erholt und getröstet, seine Gedanken waren geordnet und der Verlockung, zu verschwinden, Einhalt geboten. Auch wenn er hier unten Geborgenheit fand, in der Welt des Sees würde er immer allein sein.
Rowarn schwamm langsam zurück und ließ sich im flachen Wasser ans Ufer treiben, um solange wie möglich im Warmen zu bleiben.
Als er auftauchte und sich über den dahintreibenden Nebel erhob, stockte ihm der Atem.
Arlyn stand vor ihm, das Gesicht von Sonnenlicht übergossen. Sie schien gerade im Begriff loszuschwimmen und verharrte überrascht. »Rowarn! Ich habe dich gar nicht gesehen, es dampft hier so stark, dass man das Wasser direkt unter sich kaum erkennen kann ...« Sie machte keinerlei Anstalten, ihre Blöße mit den Händen zu bedecken, sondern blieb völlig entspannt stehen.
Rowarn quetschte den letzten Rest Wasser aus den sich zurückbildenden Kiemen und sog pfeifend Luft in die Lungen. Er musste mehrmals husten, bevor er herausbrachte: »Verzeih, ich habe auf nichts um mich herum geachtet, weil ich zu dieser Zeit sonst immer allein bin ...« Zuerst durchfuhr ihn Schrecken, dann Scheu. Und wieder Schrecken, als sein Kopf sich nunmehr leerte und das gesamte Blut in seine Lenden schoss. Er stand wie zur Steinsäule erstarrt, weil auch der Dunst nicht verbergen konnte, was Arlyns unverhüllter Anblick in ihm auslöste. Zwecklos, es unterdrücken zu wollen. »Es-es tut mir leid«, stammelte er.
Sie lächelte wie der erste Sonnenstrahl dieses Morgens. »Du brauchst dich für nichts zu entschuldigen«, sagte sie.
Das sah er anders. Er empfand sein Begehren als respektlos. Doch er konnte nichts dagegen tun. Es wurde eher noch schlimmer, je länger er sie ansah. Er sollte schnell wieder abtauchen und zusehen, dass er ans andere Ende des Sees schwamm, und am besten von da aus gleich weiter hinaus ins Meer. Wenn es jemals an der Zeit war, dass die Nauraka von Valia in ihre ursprüngliche Heimat zurückkehrten, so war dies gewiss der richtige Moment.
Rowarn konnte denken, was er wollte, seine Beine gehorchten ihm nicht, und stattdessen stotterte er weiter: »Ich ... gehe jetzt besser ... und dann vergessen wir einfach, was ... äh ...«
Arlyn sah ihn unverwandt an, betrachtete ihn in aller Ruhe, völlig ohne Verlegenheit. Und mit einem Ausdruck der Neugier, als ob sie ihn zum ersten Mal sähe. Nun ja, so hatte er sich ihr schließlich auch noch nicht offenbart. Dann suchte ihr Blick den seinen, als hoffte sie darin eine Antwort auf eine Frage zu finden, die er jedoch nicht kannte.
»Ich habe keine Angst«, sagte sie langsam und klang erstaunt. Als könnte sie ihre Erkenntnis nicht richtig erfassen, setzte sie immer wieder Pausen. Vielleicht auch, um die Worte besser zu ertasten, weil sich in diesem Moment eine wunderbare Wandlung in ihr vollzog. »Ich finde dich ... wunderschön. Bisher ahnte ich nicht, dass man so ... fühlen kann. Dass ich selbst jemals so empfinden könnte ... ist wundervoll. Und ... dass du ... mich ... begehrst ...«
Ein Wassertropfen rann ihren zart geschwungenen Hals hinab, rollte über ihre linke Brust, erklomm die in der kühlen Luft hoch aufragende Brustwarze und verweilte auf der Spitze, funkelnd im frühen Tageslicht. Das lange Haar klebte an ihr wie ein dünnes, schwarzes Kleid und modellierte ihre sanften Rundungen nach.
»Arlyn ...« Rowarns Stimme bebte. »Sag so etwas nicht ...« Die edle Lady so zu erblicken, raubte ihm jegliche Fassung. Sie als schön zu beschreiben, wäre eine Beleidigung für sie gewesen. Arlyn war vollkommen, und doch kein Bild oder eine Statue, sondern lebendig, atmend. Unterhalb der rechten Brust entdeckte Rowarn ein entzückendes kleines Geburtsmal, dessen Zwilling sich neben dem zierlichen Nabel fand. Rowarn wollte die Male küssen, eines nach dem anderen. Er wollte die Knospen ihrer Brüste mit seinen Lippen zum Erblühen bringen. Er wollte ...
Rowarn wurde fast ohnmächtig, weil er vor Aufregung vergaß, zu atmen, während diese Gedanken wild durch seinen Kopf wirbelten und er gleichzeitig versuchte, äußerlich gelassen zu bleiben.
»Ich fürchte mich nicht«, wiederholte Arlyn, nun nicht mehr erstaunt, sondern mit einem beglückten Klang in der Stimme, und ihre Augen strahlten golden auf, als ihre Pupillen sich erweiterten. Sie trat einen Schritt auf ihn zu. »Willst du mich, Rowarn?«
Er schnappte endlich nach Luft. »Was für eine Frage«, krächzte er verzweifelt. »Das siehst du doch. Wenn ich jetzt nicht gehe, Arlyn, wirst du diesen Ort nicht mehr als Jungfrau verlassen.«
»Dann geh nicht«, bat sie. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, doch nicht aus Kummer, denn sie lächelte, voll staunender Verwirrung. »So lange schon will ich dir nahe sein. Jedes Mal, wenn ich deine Wärme spürte, wenn ich deinen Körper sah ... so hatte ich nie zuvor empfunden. Und wenn du mich berührtest, wünschte ich mir, es möge nie enden.«
Als hätte er zu ihr gesprochen und nicht umgekehrt. Der Herzschlag sprengte ihm beinahe die Brust, seine Rippen schmerzten. »Arlyn«, flüsterte er. »Oh, Arlyn ...«
»Doch bisher war meine Angst immer größer als mein Begehren«, fuhr sie fort, als wollte sie sich entschuldigen. »Der Schatten der Vergangenheit lag stets auf mir, ich wusste nicht, ob ich es kann. Ich wollte ... dich nicht enttäuschen, wenn ich ...«
»Was redest du da?«, unterbrach er. »Wie könntest du mich je enttäuschen ...«
Da tat sie mutig den letzten Schritt und schloss die Arme um ihn. »Wie gut du dich anfühlst«, murmelte sie.
Das war es. Rowarns ganzes Sein zersprang in tausend Stücke, die in schwirrenden Kreiseln durch die Welt wirbelten. Sein Kopf zerbarst in eine Wolke Schmetterlinge, die im frühen Sonnenlicht aufglühend davonflatterten, und sein Herz und den in seligen Klängen herausströmenden Jubel an goldenen Bändern mit sich führten. Die träge dahinziehenden weißen Himmelsnomaden verwandelten sich in Blütenblätter, die wie ein bunter Regen sanft herniederrieselten.
Vorsichtig legte Rowarn seine Arme um Arlyn; er konnte es immer noch nicht fassen, ihr endlich so nahe sein zu dürfen. Dies war kein Traum; zumindest hoffte er das. Er spürte ihre samtene Haut, sog ihren Orchideenduft ein. Dieses göttliche Wesen in seinen Armen, edelste aller Frauen, sie stand so weit über ihm. Der König von Ardig Hall zu sein, was zählte das schon bei der Herrin von Farnheim! Wie könnte er sie damit beeindrucken? Er hatte kaum mehr als zwanzig Jahre in dieser Welt verbracht. Sie war hundert und mehr Jahre alt, hatte den einzigartigen Ort Farnheim aufgebaut und war eine Legende als Heilerin unter allen Völkern. Und diese Frau fragte ihn, ob er sie wolle?
»Ich gehe nur so weit, wie du es mir erlaubst«, versprach er. »Du sollst keine Angst haben, nie wieder.«
Sie verstärkte den Druck ihrer Arme. Sein Atem ging schwer, auch vor Angst, sie zu erschrecken. Doch seine heftige Reaktion schien sie nicht zu erschrecken; nein, es war ... alles so, wie es sein sollte.
Rowarn schloss die Augen und nahm Arlyn in sich auf, atmend, warm und lebendig. Die Frau, die er anbetete, liebte und begehrte seit dem ersten Moment, als er sie erblickt hatte. Keine Nacht war vergangen, ohne dass er von diesem Moment hier geträumt, in die Kissen geseufzt und sich nach ihr gesehnt hatte, voll melancholischer Gewissheit, dass seine Sehnsucht sich nie erfüllen würde.
»Sag mir«, wisperte sie an seinem Mund und schwebte wie eine riesige schillernde Seifenblase in den Sturm seiner Gedanken, brachte diesen allein durch den glockenhellen Klang ihrer Stimme zur Ruhe, »hat dir dein Vater außer den Augen eigentlich nichts vererbt?«
Ihre Lippen waren nah, warm und voller Verlangen, ihr Atem beschleunigt, die Nasenflügel erwartungsvoll geweitet.
Da besann er sich endlich und fand zur gewohnten Sicherheit zurück. Er wusste, was zu tun war. Seine Hände strichen ihren Rücken entlang, um sie darauf vorzubereiten, was nun folgen würde. »Doch, das hat er«, raunte er und küsste sie auf die unvergleichliche Dämonenweise.
»Mehr ...«, seufzte Arlyn, als Rowarn sie irgendwann wieder zu Atem kommen ließ. Sie erblühte wie eine Sonnenblume, lächelte entrückt. In ihre Augen war jener ganz besondere Glanz getreten, den Rowarn am meisten liebte bei den Frauen, und den er sich immer bemühte hervorzuzaubern.
Er küsste ihren Hals, verharrte kurz, und als sie erwartungsvoll den Atem anhielt, glitt er tiefer, tastete sich zuerst zu dem kleinen Muttermal vor und setzte das Zungenspiel dann weiter oben an ihrer Brust fort.
Während er ihr all die Dinge ins Ohr flüsterte, die schon so lange in seinem Herzen darauf warteten, offenbart zu werden, zog Rowarn Arlyn sanft mit sich in das warme Wasser am sandigen Ufer.
Und die Augen der Eliaha verfolgten ihn von da an nie mehr.
»Wir müssen los, die anderen warten sicher schon«, wisperte Arlyn schließlich und rekelte sich in seinen Armen, ohne Anstalten zu machen, sich zu erheben.
»Sollen sie warten«, murmelte er. Zärtlich berührte er ihr Gesicht. »Lass mich dich noch eine Weile ansehen. Als ob Waldsee lebendig geworden wäre! Ich sehe blühende Landschaften in deinen Augen, ich höre die Weltenmelodie in deiner Stimme. Deine Haare leuchten wie der Abendhimmel, dein Körper schimmert wie ein Mondstein. Ich habe fast Angst, meine Augen abzuwenden, weil du dann vielleicht nicht mehr da bist und ich alles nur geträumt habe.« Er küsste ihre Handfläche. »Du bist alles für mich, Arlyn. Ich hätte nie zu hoffen gewagt, dass wir wirklich zusammenfinden. Ich werde dich nie wieder loslassen ... wenn du es erlaubst.«
»Im Gegenteil, ich werde dir niemals erlauben, mich zu verlassen.« Sie hielt ihm ihre Lippen entgegen, und er küsste sie mit neu erwachender Leidenschaft, doch sie entwand sich ihm leise lachend. »Also schön …Doch lass uns tiefer ins Wasser gehen«, forderte sie ihn auf. »Du hast mich wie ein Dämon geliebt, nun liebe mich wie ein Nauraka. Keine Sorge, ich entstamme einem Alten Volk, das stets nah am Meer lebte; ich werde nicht so schnell ertrinken.«
Seine Augen leuchteten auf, und er nahm sie mit sich, zog sie in seiner Umarmung in die Tiefen hinab. Ihre Haare schwebten wie feiner Tang durch das von Sonnenstrahlen durchflutete Wasser, während sie völlig frei von der Schwere des Landes durch das schimmernde Zwielicht glitten.