Kapitel 35

Das naurakische Erbe


Als Rowarn am Morgen erwachte, war er allein. Er richtete sich auf und blickte sich um, und unwillkürlich fühlte er einen Stich Eifersucht, als er Arlyn entdeckte, und eng an sie geschmiegt Graum. Beide schliefen tief, und die junge Frau hatte einen Arm um den Schattenluchs gelegt. Leise stand Rowarn auf, schüttete aus einem Beutel etwas Wasser auf seine Hand und rieb sich das Gesicht. Die Entscheidung stand bald bevor, und er war hin- und hergerissen zwischen Furcht und Ungeduld. Er wusste nicht, worauf er sich vorbereiten musste. Niemand war je in Femris’ Nähe gewesen, nicht einmal Tracharh oder Heriodon. Der Unsterbliche hielt große Distanz zu allen. War es Angst, weil er in Wirklichkeit nicht so stark war, wie er sich gab? Aber Rowarn hatte ihn erlebt, im magischen Zweikampf mit Angmor. Und er hatte Ylwas Mutter von eigener Hand getötet. Also was war der Grund?

Rowarns Blick fiel auf Tamron, der wach war und sein Pferd striegelte. Er war ebenfalls ein Unsterblicher, doch auch Tamron schien nichts über Femris sagen zu können. Er hatte ihm schon im Kampf gegenübergestanden, doch sie hatten Helm und Rüstung getragen, als sie aufeinander einschlugen, und konnten einander nicht von Angesicht zu Angesicht sehen.

Femris’ andauernde Erfolge waren wahrscheinlich auch darauf zurückzuführen, dass niemand etwas über ihn wusste. Dass er seine Macht gezielt einsetzte, um den Feind in Schach zu halten und die Untergebenen in Demut. Er schien niemals übers Ziel hinauszuschießen, sich nie eine Blöße zu geben. War er überhaupt ein fühlendes Wesen?

Rowarn ging zu seinem Vater, der still am Waldrand stand und aufs Land blickte. »Hast du schon darüber nachgedacht, ob Femris ein Dämon ist?«, fragte er ihn.

»Gewiss«, antwortete Angmor. »Aber es gibt außerhalb der göttlichen Sphären nur einen einzigen unsterblichen Dämon, und das ist der Düstere Vanna von Xhy.«

»Wer sagt, dass Femris tatsächlich unsterblich ist? Auch du lebst schon sehr lange. Ich glaube sogar, du bist viel älter als er.«

»Hm. Möglich.«

Gewiss war es so, Angmor wich lediglich aus. Rowarn spann den Faden weiter. »Als du für ihn gekämpft hast – wie bist du ihm begegnet? Wie nahe bist du ihm gekommen?«

»Ich war in Dubhan, wenn du das meinst«, sagte Angmor. »Und ich war in seiner Thronhalle. Aber ich kam ihm nie nahe genug, um seine Aura unmittelbar spüren und einschätzen zu können. Nicht einmal, wenn wir gegeneinander kämpften.«

»Habt ihr immer Helme getragen?«

»Zu Beginn nicht, doch du hast sein Gesicht selbst auf dem Feld gesehen, ich brauche es dir nicht zu beschreiben.«

Das brachte Rowarn auf einen anderen Gedanken. »Olrig erzählte einmal, dass er dein entstelltes Gesicht gesehen habe, und dann gibt es auch die Geschichte von dem Mädchen, das bei deinem Anblick wahnsinnig wurde. Wie hast du das gemacht?«

»Es war eine Larve«, antwortete Angmor. »Ich erinnere mich gut an meine Entstellung und kann diese Fratze vortäuschen. Manchmal wurde es notwendig, das Gerücht zu bestätigen, um kein Misstrauen aufkommen zu lassen.«

»So ähnlich könnte Femris es doch auch machen. Wenn wir herausfinden, wer er ist«, überlegte Rowarn, »haben wir auch seinen Schwachpunkt.« Dann lächelte er leicht. »Ihr habt viel gemeinsam, du und er.«

»Ich habe keine schwache Stelle«, behauptete der Visionenritter.

»O doch, die hast du«, widersprach Rowarn gelassen. »Mich.«

Angmor drehte sich ihm zu, seine Hand, die noch keinen Handschuh trug, glitt flüchtig über Rowarns helle Haare. Eine unerwartete Geste, die den jungen Mann kurz erschreckte, doch er rührte sich nicht. »Du bist meine Stärke, Sohn«, sagte er sanft. »Die Verbindung zur Welt. Du vermagst, was ich nicht mehr kann.« Er wandte sich ab und ging zu Tamron. Leise besprach er sich mit dem Unsterblichen.

Rowarn blieb aufgewühlt zurück.



Die beiden Ritter bereiteten ein eiliges, kaltes Frühstück und räumten das Lager auf. Rowarn setzte sich zu Arlyn, die ihre Haare zu einem Zopf flocht. Dabei summte sie leise eine Melodie.

»Wie geht es dir?«

»Erholt«, antwortete sie. »Das sind Dinge, die man sieht, wenn man in die Welt hinausgeht. Ich werde damit fertig.«

Er nickte. Ja, sie würde mit allem fertig. Sie war unglaublich stark und gefestigt, nach all dem, was ihr als Kind widerfahren war. Woran andere zerbrachen, daran wuchs sie zu wahrer Größe. Und bewahrte sich ihre Herzlichkeit und Wärme, und ihren Humor. »Ich bin froh, dass du dabei bist. Und ich glaube, du machst dir beinahe so viel Sorgen um mich wie umgekehrt.«

Sie schmunzelte. »Jemand muss auf dich aufpassen, während du dich immer um andere sorgst.«

»Bald wird sich jeder nur noch um sich selbst sorgen können, wenn wir erst Dubhan erreicht haben.«

»Hast du Angst?«

»Noch nicht.« Er rieb sich die winzige Narbe am Handrücken. »Ich habe kein anderes Ziel, weißt du ...«



An diesem Tag erwartete sie unwegsames Gelände. Es gab keine befestigten Wege, geschweige denn Trampelpfade – es gab überhaupt nichts mehr. Die Pferde mussten über umgestürzte Stämme und Felsklötze klettern, sich zwischen Engpässen hindurchzwängen und immer wieder Bögen machen, weil der Abstand zwischen den Bäumen zu eng war.

Dubhan selbst war nach Angmors Aussage schon ganz nahe, bei freiem Weg wäre es im Galopp in weniger als einer Stunde erreichbar gewesen. Aber hier durch den Wald brauchten sie dafür fast den ganzen Tag. Die meiste Zeit mussten sie die Pferde am Zügel führen, und schlecht gelaunt und maulig folgten die Tiere.

»Sollten wir sie nicht einfach hierlassen?«, fragte Tamron schließlich, der es allmählich satthatte, sein bockiges Pferd ständig überreden zu müssen, weiterzugehen.

»Wir brauchen sie für den schnellen Rückzug«, antwortete Angmor. »Wenn sie uns alle auf den Fersen sind, brauchen wir uns nicht mehr zu verstecken, sondern dann werden wir einfach schneller als die anderen sein.«

»Es beruhigt mich zu hören, dass der Visionenritter an einen Rückweg glaubt«, bemerkte Laradim. »Dafür werde ich mein Pferd nach Dubhan tragen, wenn es erforderlich werden sollte. Hauptsache, es trägt mich lebend und in einem Stück zurück, und zwar flott.«

»Hört, hört!«, rief Reeb gut gelaunt. »Ich jedenfalls freue mich darauf, endlich wieder die Schärfe meiner Klinge prüfen zu dürfen, denn vor dem Feind davonzulaufen liegt mir nicht. Und mich mit Stechbiestern auseinanderzusetzen, auch nicht.«

»Ist Dubhan gut bewacht?«, fragte Rowarn.

»Nur eine Wachgarde, vielleicht zwanzig, dreißig Mann«, antwortete Graum anstelle seines Herrn. Der Schattenluchs bewegte sich seit einiger Zeit wieder in Dämonengestalt. »Femris erträgt die Nähe anderer kaum. Und es ist noch nie einer auf die Idee gekommen, Dubhan anzugreifen. Ihr werdet es begreifen, wenn wir dort sind. Die Burg kann sich sehr gut selbst schützen.«

»Und Ardig Hall«, fügte Angmor hinzu, »war immer nur auf Verteidigung bedacht. Die Könige und Königinnen haben versucht, den Frieden zu wahren, sie haben nie ein Heer gegen Femris geschickt.«

»Aber das könnte sich jetzt geändert haben, wenn Noïruns Vorhaben schon bekannt geworden ist«, sagte Reeb.

Angmor versetzte: »Stellt euch nicht zu viel unter Dubhan vor. Femris hat es nur für sich gebaut, er kann nicht einmal eine Hundertschaft innerhalb der Mauern unterbringen. Wenn Fabor und die anderen gut gearbeitet haben, sind die Truppen, die irgendwo in der Nähe von Dubhan lagern, inzwischen anderweitig gebunden, und wir können durch die Hintertür hinein.«

»Da gibt es eine Hintertür?«

»Ja.«

Und Graum stieß einen langen, klagenden Laut aus.



Am Nachmittag erreichten sie den namenlosen See, in dessen Mitte sich der Felsen mit der Burg Dubhan erhob.

Die Uferböschung war nur zwei bis drei Speerwürfe vom Wald entfernt. Der Bewuchs war hier dicht, und man wurde nicht so leicht von der anderen Seite entdeckt. Der Eingang der Burg lag auf der südlichen Seite, die Verbindung zum Festland konnte mit einer ausklappbaren Zugbrücke hergestellt werden. Mehrere Pfeiler waren dazu in den Seegrund gerammt, als Stützen für die einzelnen Teile. Ein Wunderwerk, wie Angmor bemerkte, das mehr Mittel verschlungen hatte als der ganze Rest der Burg. Wachen waren von hier aus nirgends zu sehen, auch auf den Zinnen nicht.

»Niemand wagt sich sonst freiwillig hierher«, erklärte Tamron. »Das Land ringsum ist nicht besiedelt, seit die Burg errichtet wurde, es ist namen- und herrenlos. Innerhalb der Burg halten sich selbstverständlich Wachen auf, aber nicht außerhalb, solange man nicht mit einem Aufgebot erscheint.«

Arlyn hob fröstelnd die Schultern. »Das liegt an dieser furchtbaren Aura, die die Burg verströmt«, stellte sie schaudernd fest. »Sie ist Schutz und Abwehr genug, darin hast du recht gehabt, Angmor. Es ist noch viel schlimmer, als ich vermutet hatte, und ich kann es kaum ertragen.«

Die Lichtlose selbst, wie sie hieß, war nicht besonders auffällig. Die Bezeichnung »Burg« war schon ein wenig kühn, denn im Grunde war es nur ein einziger, viereckiger Turm, der sich mitten aus dem Fels erhob, trutzig und schwer, aus schwarzem Gestein errichtet, das sich glatt und fugenlos ineinanderfügte. Tatsächlich aber schien das Sonnenlicht Dubhan nicht erreichen zu können; selbst am Tag war der Turm so finster, dass er jegliches Licht zu verschlucken schien. Ein wenig unwirklich erhob er sich aus dem stillen, blauen See um ihn herum, umgeben von der Ausstrahlung einer ungesunden Aura, die das Gebüsch ringsum an den Ufern fahlgelb und kränklich färbte. 

Es war völlig still, abgesehen von einem kleinen Wasserfall in der Nähe, der von einem Abfluss des Sees gespeist wurde. Das Geräusch übertönte ihre Stimmen, solange der Wind günstig stand.

»Schwer anzugreifen«, bemerkte Fashirh. »Wie tief ist der See?«

»Drei Mannslängen oder mehr«, sagte der Visionenritter. »Damit unsere Soldaten hineinkönnen, müssten wir die Zugbrücke herunterlassen. Keine leichte Aufgabe.«

»Und wie kommen wir da rüber?«, fragte Rowarn.

»Ich kann gut schwimmen, wie du weißt«, sagte Arlyn.

»Ich auch«, merkte Tamron an. »Dort hinten ist Schilf. Ich werde uns einige Rohre zurechtschneiden, damit können wir tauchen und trotzdem atmen.«

Angmor nickte. »Das wäre das Beste. Es gibt Katakomben unterhalb des Turms, mit einem direkten Zugang hinein. Mit einem kurzen Tauchgang lässt sich der Eingang erreichen.«

»Ausgeschlossen!«, weigerte sich Graum, und das Fell sträubte sich ihm. »Ich gehe da nicht rein!«

»Graum, du siehst zwar aus wie eine Katze, aber du willst doch nicht im Ernst behaupten, dass du wasserscheu bist?«, lachte Arlyn.

»Nein, es ist nur – nein.« Graums Schnurrhaare spreizten sich ab. Die Krallen sprangen aus den weichen Ballen. Er sah aus, als müsse er sich jeden Moment übergeben.

»Er kann nicht schwimmen«, sagte Angmor.

»Er?«, fauchte der Schattenluchs.

»Wir«, verbesserte Angmor.

Die anderen starrten die beiden Dämonen an.

»Was ist?«, rief Graum. »Ja, wir können nicht schwimmen, na und? Will ich etwa einen Fisch heiraten?«

Arlyn hielt sich die Hand vor den Mund und prustete los.

»Dann solltet ihr es besser schnell lernen, das Schwimmen«, sagte Tamron bedächtig. Er bemühte sich, seine Mundwinkel nicht zu stark zucken zu lassen.

»Das geht nicht«, erwiderte Angmor. »Es liegt in unserer Beschaffenheit. Unsere Masse ist hochverdichtet. Wir sind fast so widerstandsfähig wie Gestein, aber leider auch so schwer. Wir können unmöglich unsere Körper an der Oberfläche des Wassers halten.«

Nun machten die anderen verdutzte Gesichter.

»Das erklärt einiges«, meinte Rowarn. »Unter anderem dein hohes Gewicht, das mir schon einige Male zu schaffen machte.«

»Dann brauchen wir ein Boot«, überlegte Arlyn.

»Zu auffällig, und wir müssten erst eins bauen. Femris hat Boote, aber natürlich in den Katakomben. Es gibt für uns beide nur einen Weg.« Angmor blickte Graum streng an.

Der schwoll fast auf doppelten Umfang an, so sehr plusterte sich sein Fell auf. »O nein«, flehte er. »Bitte, tu mir das nicht an! Ich mag das Wasser nicht, mein Fell saugt sich voll, und dann bin ich doppelt so schwer und ...«

»Graum

»Ja, Herr.« Der Schattenluchs wand sich und winselte ergeben.

»Was habt ihr vor?«, fragte Tamron.

»Wir werden gehen«, antwortete Angmor, »und zwar unter Wasser, den Grund entlang. Durch die Lebensessenz können wir nicht ertrinken.« Er richtete den Blick auf Rowarn. »Du aber wirst tauchen, und zwar ohne hinderliches Schilfrohr, denn du bist der Schnellste von uns allen. Sichere uns dort drüben ab und gib uns Deckung.«

»Wie stellst du dir das vor?«, protestierte Rowarn. »Das ist viel zu weit zum Tauchen, selbst für mich!«

»Du kannst nicht ertrinken, Sohn«, erklärte Angmor.

Rowarn hob empört die Hände. »Du vergisst, dass ich nur ein Halbdämon bin. Ich besitze nämlich Herz und Lungen, im Gegensatz zu den hier anwesenden Dämonen.«

»Naurakische Lungen.«

»Aber wie ...«

Ehe Rowarn sich versah, hatte sein Vater ihn gepackt, schleppte ihn durch eine Lücke in den Büschen ein gutes Stück in den See hinein und drückte ihn dann unter Wasser. »Finde es heraus«, sagte er.

Rowarn hatte nicht einmal Zeit zu einem Schrei, geschweige denn zum Atemholen gehabt, und er musste schnell den Mund schließen, um nicht Wasser zu schlucken. Wütend stemmte er sich gegen den erbarmungslosen Griff seines Vaters, schlug um sich und wartete darauf, dass die anderen endlich eingriffen. Merkten sie nicht, dass Angmor ihn umbrachte? Warum ließen sie das zu?

Seine Lungen brüllten nach Luft, und Todesangst griff nach Rowarn. Er trat und schlug um sich, aber der Griff lockerte sich nicht. Ihm wurde schwindlig, in seinen Ohren rauschte es, sein Blick trübte sich. Seine Bewegungen wurden fahriger und hörten schließlich ganz auf, als er keine Kraft mehr hatte. Sein Mund öffnete sich und sog das Wasser in sich ein.

Klapp.

Und dann ...

Klapp.

... atmete er aus.

Klapp.

Und wieder ein.

Klapp.

Und aus.

Rowarns Blick klärte sich. Der dumpfe Druck und das Rauschen in seinen Ohren verschwanden und machten einem unglaublichen Wohlgefühl Platz. Verdutzt blickte Rowarn nach oben, sah seinen Vater glasklar über sich stehen, als wäre keine Wasserbarriere zwischen ihnen. Zaghaft hob er die Hand.

Angmor ließ ihn los, drehte sich um und ging.

Rowarn stieß sich ab und durchbrach mit einem Schrei die Wasseroberfläche. Es war ihm gleichgültig, ob er damit den Feind aufmerksam machte oder nicht. Er glaubte, Wasser spucken zu müssen, aber die Rückwandlung war bereits abgeschlossen. Die Kiemenklappen an seinem Hals pressten den letzten Rest Flüssigkeit aus, dann bildeten sie sich zurück und waren schon verschwunden, noch bevor Rowarn ans Ufer zurückgestapft war. Seine Lungen füllten sich tief mit Luft.

»Bleib stehen!«, schrie er Angmor an, der auf dem Weg zu den anderen war. Arlyn, Tamron, Graum, Reeb und Laradim sahen Rowarn zuerst neugierig, dann erschrocken an, wichen sofort ein paar Schritte aus dem Sonnenlicht in die Baumschatten zurück und taten so, als wären sie nicht anwesend.

Der Visionenritter verharrte und drehte sich langsam zu ihm um. Es war Rowarn egal, dass sein Vater ungefähr viermal so viel wog wie er und ihn um mehr als Haupteslänge überragte. Er baute sich vor ihm auf, zornentbrannt und kurz davor, gewalttätig zu werden. Die Raserei drohte ihn zu übermannen.

»Deine Art, mir Lehren beizubringen, gefällt mir nicht!«, schnaubte er mit bebender Stimme.

»Ich bin dein Vater, nicht dein Lehrmeister«, erwiderte Angmor.

»Du bist nicht mein Vater!«, schrie Rowarn außer sich. »Du hast mich nur gezeugt! Du ...« 

Er wurde kalkweiß, als Angmor sich erneut zum Gehen wandte. »Bleib gefälligst stehen!«, brüllte er. »Wag es nicht ...« Er unterbrach sich, schloss kurz die Augen, öffnete und schloss mehrmals die Fäuste, bis er sich wieder einigermaßen in der Gewalt hatte. 

Mit heiserer, aber scharfer Stimme fuhr er fort: »Wag es nicht, dich abzuwenden, wenn dein Sohn mit dir spricht.«

Für einen Moment herrschte tödliche Stille. 

Dann blieb Angmor tatsächlich stehen und kehrte sich ihm zu.

»Also, dann rede.«

Rowarn ging auf ihn zu, den Finger drohend erhoben. Er war tropfnass, die schulterlangen Haare klebten an ihm, und er zitterte vor Zorn und Kälte. »Ich bin dein Sohn, weil du mich gezeugt hast, aber das macht dich noch lange nicht zu meinem Vater! Das musst du dir nämlich erst verdienen. Ich weiß, dass Dämonenmänner keine Ahnung davon haben, deswegen erkläre ich es dir, dieses eine Mal.« 

Er musste eine kurze Pause machen, weil sein Atem so heftig ging, dass er kaum genug Luft für die weiteren Worte hatte. »Schattenläufer ist mein Vater, denn er hat mich aufgezogen. Er hat mich in seinen Armen gewiegt, meine Windeln gewechselt und mir meine ersten Schritte und Worte beigebracht. Er hat mit mir gespielt, mich unterrichtet und mich bestraft. Er war immer für mich da, streng, fürsorglich und gütig. Der Zweite, der sich Vater nennen dürfte, wäre Noïrun, denn er hat mich nicht nur zum Ritter ausgebildet, er hat mich auch an seinem Leben und seinen Gedanken teilhaben lassen und mich sehr viel über das Wesen der Menschen und eine Menge andere Dinge gelehrt. Auch wenn er mein Befehlshaber war, hat er meine Sichtweise respektiert. So weit bist du noch lange nicht!«

Angmor hörte schweigend zu, ohne sich zu rühren.

Rowarn fuhr fort: »Das, was du sein könntest, wäre mein Lehrmeister zu sein, doch das hast du schon einmal abgelehnt. Darum sage ich dir jetzt eines: Halte dich auch daran! Hör auf, mir Lektionen dieser Art zu erteilen, hör auf, mir Vorschriften zu machen oder Ratschläge zu geben! Entscheide dich! Entweder bist du mein Lehrmeister, dann sei es auch voll und ganz und gib dir Mühe, mir dein Wissen zu vermitteln – oder du wirst mir künftig schlicht sagen, was ich wissen muss, und alles andere mir überlassen!«

Als die Pause diesmal länger andauerte, fragte Angmor: »Bist du fertig?«

Rowarn atmete tief durch, setzte zu einem Nicken an, dann hielt er inne. »Eines noch. Egal, wofür du dich entscheidest – mein Vater zu sein, mein Lehrmeister, oder keins von beidem: Ich bin weder Aschteufel noch Graum, Fashirh oder Tracharh, mit denen du umspringen kannst, wie es dir beliebt. Du bist ein großer Mann, ein gefürchteter Herrscher und ein Mächtiger, all das ist mir bewusst. Dir gebührt Hochachtung und Respekt und ja, auch Verehrung. Doch das gibt dir nicht das Recht, mich so zu behandeln. Wenn du das noch einmal machst, werde ich Rechenschaft von dir fordern, denn meine Ehre gehört dir nicht, und ebenso wenig der ganze Rest von mir.« Nun ließ er die Hand sinken, wandte sich ab und ging, immer noch wütend, zurück zum See. Dann lief er entgegengesetzt zur Brücke das Ufer entlang und verschwand hinter einer Böschung außer Sichtweite.



Erst am frühen Abend kehrte Rowarn zum Lager zurück, doch er setzte sich nicht zu den anderen; er wollte auch nichts von der kargen, kalten Mahlzeit haben. Still saß er mit angezogenen Knien am Uferrand und warf kleine Kiesel ins Wasser. Die anderen ließen ihn in Ruhe, nicht einmal Arlyn kam in seine Nähe. Seine Haltung machte deutlich, dass er niemanden sehen wollte, mit keinem sprechen. Zu viel ging in seinem Kopf herum, und er musste sich fassen, damit sie morgen den Kampf gegen Femris aufnehmen konnten. Das war das Einzige, was wichtig war, darauf musste er sich konzentrieren. Alles andere musste er beiseiteschieben.

Er sah nicht auf, als sein Vater kurz nach Einbruch der Dunkelheit neben ihm erschien.

»Darf ich mich zu dir setzen?«

Rowarn nickte schweigend und wies neben sich. 

Eine Weile brüteten sie still nebeneinander, vielleicht wartete jeder darauf, dass der andere etwas sagte.

Schließlich begann Rowarn: »Ich habe mich vergessen und im Tonfall vergriffen. Dazu hatte ich dir gegenüber nicht das Recht. Dafür entschuldige ich mich.« Er drehte den Kopf und blickte Angmor ins vom Mondlicht matt beleuchtete Gesicht. »Aber nicht für das, was ich gesagt habe. Jedes einzelne Wort meinte ich so und meine es noch immer.«

Angmor erwiderte seinen Blick und entblößte seine Reißzähne in einem Lächeln. 

»Du bist ein Mann und ein König geworden, Rowarn«, sagte er mit dieser merkwürdig sanften Stimme, die so gar nicht zu einem Dämon passen wollte. »Ich bin sehr stolz auf dich. Es gibt nicht viel in meinem Leben, worauf ich stolz sein kann. Aber du bist das Beste, was ich je zustande gebracht habe. Ich wünschte, deine Mutter könnte das noch erleben. Und ich danke dem Schöpfer Ishtru, dass ich es erleben darf.«

Rowarn schluckte. Er wusste nicht, was er nun sagen sollte. Dies nahm eine Wende, die er nicht erwartet hatte, und die ihn zutiefst berührte. Erschütterte. Verlegen wandte er sich ab, setzte das Spiel mit den Kieseln fort.

»Ich weiß nicht, ob ich noch dein Lehrmeister sein kann, so viel, wie du schon weißt«, sprach Angmor nach einer Weile weiter. »Aber ich würde mir gern die Ehre verdienen, dein Vater zu sein, wenn du es mir erlaubst.«

Rowarns Schultern zuckten. Er konnte jetzt nicht sprechen, weil er mit den Tränen kämpfte. Stumm nickte er.

Lange Zeit saßen sie schweigend nebeneinander am Ufer des Sees und blickten auf die sternglitzernden Wasser. Auf dem Felsen in der Mitte ragte hoch Dubhan auf, die Lichtlose.