Kapitel 26
Lady Arlyn
Angmor saß ab und ließ den Zügel lose herunterhängen. Aschteufel verharrte still, während der Visionenritter bis auf wenige Schritte an die große hölzerne, mit aufwendigen Schnitzereien versehene Eingangstür herantrat.
Rowarn stieg gleichfalls ab und versuchte notdürftig, sich ein wenig mehr Würde zu geben, indem er die grobleinenen Fetzen etwas zurechtrückte. Er bemühte sich um ruhige Haltung, doch es fiel ihm schwer, so voller Erwartung war er.
Zuerst kam eine Frau aus einem nahe gelegenen Kräutergarten auf sie zu, mit einer Schale frisch gepflückter Sträuße im Arm. Ihr ergrauendes Haar war halb unter einer Haube verborgen, und ihre Augen zeigten tiefe Lachfalten, als sie Angmor lächelnd begrüßte. »Wie schön, Euch einmal wiederzusehen, nach so langer Zeit! Damals war ich noch eine junge Frau, doch seht mich heute an!«
»Die Zeit hat Euch kaum etwas angetan, Rianda«, sagte der Visionenritter unerwartet liebenswürdig.
Sie winkte ab. »Das sagt ein Mann, der es nicht wagt, sein Gesicht zu zeigen.« Heiter zwinkerte sie. »Wartet einen kurzen Moment, ich gebe Arlyn Bescheid, dass Ihr eingetroffen seid. Sie erwartet Euch schon ungeduldig und hat mich beinahe jede Stunde gefragt, ob es noch kein Zeichen gibt.« Damit verschwand sie im Inneren des Hauses, und für einige angespannte Momente rührte sich nichts.
Dann öffnete sich die Tür. Jemand trat heraus, doch Rowarn konnte schlagartig nichts mehr erkennen, als in diesem Moment die Mittagssonne durch die Wolken brach und seine empfindlichen Augen blendete.
Zuerst sah er nur einen Schatten, der vor das gleißende Licht trat und davon in eine Gloriole gehüllt wurde. Nur langsam gewöhnten sich Rowarns tränende Augen an das helle Strahlen, und er rieb sich die Lider.
Allmählich schälte sich ein Wesen aus dem Glanz, und der Nauraka erkannte eine ätherische Frau mit hüftlangen tiefschwarzen Haaren und schwarzblauen Augen, deren Pupillen einen unwirklich goldenen Glanz hatten. Sie trug ein dunkelgrünes Gewand, das in der schmalen Taille von einem kunstvoll geflochtenen, schwarzen Gürtel mit langen Bändern gehalten wurde, an dem mehrere Beutel und Utensilien hingen. In den Händen hielt sie eine gläserne Schale mit duftendem Wasser, in dem Rosenblätter und Orchideen schwammen.
»åna farú do halum-mĕ, dan-meso āngmór«, sprach sie mit glockenheller Stimme und reichte dem Visionenritter mit einer Verbeugung die Schale. Rowarn kannte die Sprache nicht, aber sie klang wunderschön und seltsam vertraut. Die Frau wiederholte höflich den Satz in der Hochsprache Waldsees: »Sei willkommen in meinem Heim, ehrenwerter Meister Angmor.«
Der Visionenritter verbeugte sich ebenfalls, zog den rechten Handschuh aus, tauchte die Finger ins Wasser und benetzte damit die Stirn seiner Maske. Eine zeremonielle Geste, die Rowarn mehr als alles andere erstaunte, weil Angmor sie einfach annahm und erwiderte. »dene ă danu do círa fārnheĩm, årlyněvī«, antwortete er. »Ich entbiete meinen Gruß Arlyn, der edlen Herrin von Farnheim.«
Die Edelfrau hielt nun dem völlig verdatterten Rowarn die Schale hin, und er tat es Angmor gleich, verbeugte sich (viel zu schnell und ungeschickt, wie er fand), benetzte seine Stirn mit dem Wasser (wobei er die Hälfte versehentlich in seine Augen spritzte), und fühlte augenblicklich eine wohltuende Kühle, die zugleich wärmte, seinen Verstand klärte und jede Erschöpfung nahm. Er entspannte sich und atmete tief ein, sein Gesicht nahm einen erstaunten Ausdruck an. Mit der Nase sog er den herrlichen Duft ein, und plötzlich schien die Welt näher zu rücken, er sah die Farben intensiver, und ein Glücksgefühl breitete sich in ihm aus.
»Ich danke Euch, edle Herrin«, sagte er scheu. Er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte, kam sich schäbig und ungelenk, tollpatschig und dumm vor und trat deshalb wieder einen Schritt zurück. Einer Frau von solchem Adel war er noch nie begegnet. In seinem Inneren brauste die Wut über Angmor, weil der ihm nicht gesagt hatte, was ihn erwartete. Rowarn hatte geglaubt, auf alles gefasst zu sein, nach dem, was er gehört hatte und sich zusammenreimen konnte – aber nicht darauf. Eine wunderschöne junge Frau, die nach Rosen und Orchideen duftete, weich und warm wirkte, und ...
Er blinzelte und senkte den Blick, als er sah, wie ihr Mundwinkel leicht zuckte.
Dann ging sie an Windstürmer vorbei, der mit weit geblähten Nüstern die Luft einsog, prustete und ihr mit glänzenden Augen nachblickte. Vor der Trage hielt sie an. »Tamron, der Unsterbliche«, sagte sie. »Ich hörte bereits davon, dass er bei euch ist.« Sie benetzte ihre Finger und strich sanft über die Stirn des Bewusstlosen. »Ich werde sehen, was ich für ihn tun kann.« Sie hob leicht den Arm, und zwei Helfer kamen wie aus dem Nichts herbei. Sie hoben den Unsterblichen von der Trage und brachten ihn in eines der kleinen Häuser.
Zwei andere junge Männer holten mit höflicher Verbeugung die Pferde, und Aschteufel ging brav mit, als ihm ein Apfel vor die schnuppernden Nüstern gehalten wurde.
Die Herrin Arlyn wandte sich wieder Angmor zu, ergriff seine rechte Hand und schloss kurz die Augen. »Auch du benötigst dringend Hilfe«, stellte sie fest. »Du wirst sie erhalten.«
Sie ging dann leicht in die Knie und streichelte den Kopf des Schattenluchses, der sich schnurrend und mit geschlossenen Augen an sie schmiegte. »Graum. Keiner ist treuer als du, mein Wunderschöner.«
Zuletzt trat sie noch einmal an Rowarn heran, berührte mit den Fingerspitzen seine Stirn und strich ihm über die Wangen. Ihre Berührung durchfloss ihn wie ein Gletscherbach, der nach der Schneeschmelze ins frühlingserwachende Tal floss. Sie war ihm unerwartet nahe, und ihn überflutete unverfälscht ihr Duft nach Nachtglöckchen und Flieder und Birkenmoos, vermischt mit den Rosen und Orchideen aus der Schale, die wie ein Teil von ihr schienen. Halb betäubt, konnte er sie nur einatmen, und die Sanftheit ihrer zarten Finger brachte seine Seele zum Klingen. Sein Herzschlag verlangsamte sich, die Zeit schien stillzustehen, und er konnte nichts tun, als sie ansehen. Noch nie hatte er solche Augen gesehen, so tief und doch so klar, strahlend in einem unglaublichen Licht und voller Wärme.
Die Sonne schien noch einmal aufzugehen, als sie lächelte. »Das Gasthaus für den jungen Herrn und den Luchs«, sagte sie, und allein der Klang ihrer melodiösen Stimme brachte Rowarn halb um den Verstand. »Folgt mir, ihr beiden.« Sie drehte sich um und verschwand im Haus. Graum maunzte und eilte ihr mit fröhlichen Sprüngen nach, wie ein verspieltes Katzenjunges. Dieser Ort und seine Herrin zeigten auch auf ihn ihre Wirkung.
Angmor stieß Rowarn leicht an, der immer noch reglos dastand, mit verträumtem Blick und halb offenem Mund. »Das also ist die Lady Arlyn«, verdeutlichte er, als hätte je ein Zweifel daran bestanden. »Ihre Heilkünste sind einzigartig, wie du feststellen wirst. Sie ist die Tochter eines Ordensbruders. Als ihre Eltern vor etwa hundert Jahren im Auftrag von Femris getötet wurden, war sie noch klein. Ihre menschliche Amme zog sie damals zusammen mit ihrer eigenen Tochter auf, und nun ist es deren Enkeltochter Rianda, die du vorhin gesehen hast, die ältere Frau, die ihr zur Seite steht.«
Was gerade zart zu keimen begonnen hatte, wurde von einem starken Windstoß entwurzelt und fortgerissen. Rowarn wurde blass, und er schlug die Augen zu Boden. »Sie gehört zu den Alten.«
»Ja.« Und dann tat Angmor etwas ganz Erstaunliches, unerwartet vor allem wegen seiner harschen Worte gestern Abend. Er legte behutsam eine Hand auf Rowarns Schulter und sagte sanft: »Wie du auch, Junge. Vergiss das nicht. Die Weltenjahre spielen keine Rolle. Du wirst es erleben.«
Rowarn war völlig verwirrt und verunsichert über die seltsame Nähe, die der Visionenritter ihm für diesen kurzen Moment gestattete. Und über seine Worte.
»Du solltest jetzt hineingehen. Die Herrin lässt man nicht warten.« Angmor versetzte ihm einen leichten Stoß, bevor er die Hand von der Schulter nahm.
»Ja, aber ... und ... Ihr?«
»Mir ist ein Ruheplatz im Gasthaus verwehrt, wie du vernommen hast.« Angmor deutete auf einen herannahenden Heiler, gekleidet in das traditionelle weiße Gewand, von einem grünen Gürtel gehalten. Der Mann verhielt mit einer höflichen Verbeugung und wies einladend in Richtung der Häuser der Heilung.
»Ich darf Euch führen, edler Herr Angmor«, sagte er. »Eure Unterkunft ist bereits gerichtet.«
»Geh nur«, wiederholte der Visionenritter zu Rowarn. »Man möchte fast annehmen, du würdest leichter zum Feind in die Splitterkrone schreiten als in dieses wunderbare Haus.« Er wandte sich ab und folgte dem Heiler auf einem der vielen Wege zu den kleinen runden Häusern.
Rowarn betrat ein großes, freundliches, helles Gebäude, das innen zum Großteil aus Holz bestand, mit zusätzlichen Querstreben und Balken, an denen getrocknete Blumen, Kräuter, Gewürze, Knollen und Schoten hingen. Von der Eingangshalle gingen viele Türen ab, zur Küche, dem großen Gastraum und anderen Kammern. In der Mitte erhob sich eine breite Holztreppe ins obere Stockwerk zu den Gastzimmern, mit der nächsten Stiege darüber. Rowarn sah auf der linken Seite einen kurzen Katzenschwanz hinter einer Tür verschwinden, durch die verlockende Düfte in die Diele drangen. Graum hatte anscheinend seinen bevorzugten Platz aufgesucht – die Küche. Und dort wurde er vermutlich nach Strich und Faden verwöhnt.
Aus dem Gastraum zur Rechten erklangen Wortfetzen, Gelächter und das Geräusch klappernden Geschirrs. Arlyn erwartete Rowarn am Fuß der Treppe, und er ging zögernd auf sie zu.
»Ich bitte um Verzeihung, ich habe mich noch nicht vorgestellt«, sagte er schüchtern. »Ich bin Rowarn von Weideling.«
Ihre Augen blitzten auf. »Der Zögling der Velerii.« Sie lächelte über sein Erstaunen. »Heldentaten sprechen sich schnell herum, junger Ritter. Es ist bekannt, dass Ihr den Heermeister von Ardig Hall zweimal gerettet und Euch mit Angmor zusammen Femris gestellt habt. Danach habt Ihr unseren Freund ebenfalls gerettet ...«
»Und mich dummerweise mit ihm zusammen gefangen nehmen lassen«, unterbrach Rowarn. »So groß waren meine Taten nicht.«
»Ihr seid aus der Splitterkrone entkommen«, erwiderte sie. »Das ist noch keinem gelungen. Und die Wunden, die ich nach der Niederlage am Steinernen Horn und dem Fall von Ardig Hall behandeln musste, sprechen eine andere Sprache über das, was Ihr zuwege gebracht habt. Ohne Euch wäre das gesamte Heer aufgerieben worden und Ardig Hall für immer gefallen. Es gibt also keinen Grund zur Bescheidenheit, Ritter Rowarn von Weideling. Ihr habt in Eurem frühen Alter mit Verstand und Muskelkraft mehr getan als alle großen magischen Helden des Krieges zusammen, Angmor und Tamron eingeschlossen.«
Er spürte, wie seine Augen feucht wurden, und biss sich auf die Oberlippe, während er Arlyns Blick auswich. »So ist es nicht«, stieß er brüchig hervor.
»Ihr seid nun hier«, sagte sie sanft und berührte seinen Arm. »Zeit, um an Geist und Seele zu gesunden. Hier wird Euch nichts heimsuchen, und es gibt nichts, dessen Ihr Euch schämen müsst.«
»Außer der Lumpen, die ich an mir trage.«
»Ihr wisst, woher Ihr sie habt, und ich auch. Jeder weiß es. Ihr habt Angmor und Tamron befreit. Ein goldenes Gewand würde Euch nicht besser stehen und wäre nicht angemessener.«
Er wollte nicht mehr darüber reden, er wollte gar nichts mehr. Nur noch in ein Bett und alles vergessen, am besten sich selbst. So vergnügt der Tag begonnen hatte, nun hatte die Wirklichkeit ihn wieder eingeholt. »Ich werde nicht lange bleiben können.«
»Darüber habe ich zu entscheiden«, beschied ihm Arlyn. »Ihr habt Euch in meine Obhut begeben, und erst, wenn ich Euch für gesund erkläre, habt Ihr die Erlaubnis zu gehen. So ist es Gesetz an diesem Ort, damit keine ansteckenden Krankheiten Verbreitung finden können.« Sie hob die Hand und strich erneut über seine Stirn. »Auch die des Geistes, Ritter Rowarn. Gerade die.«
Er zuckte zusammen, als sie plötzlich die Hände klatschend zusammenschlug und rief: »Landi! Wir haben einen Gast in Obhut zu nehmen. Führe Rowarn von Weideling zu seinem vorbereiteten Zimmer und frage ihn nach seinen Wünschen.« Sie nickte Rowarn mit einem kurzen Lächeln zu. »Wir sprechen uns später.« Damit ging sie um die Treppe herum in einen hinteren Bereich des Hauses, der im Dämmerlicht verborgen lag.
Eine Dienstmagd kam auf Rowarn zu, ein rosiges, üppiges Geschöpf mit blitzenden blauen Augen. Sie mochte etwa Mitte Dreißig sein und hatte etwas Herzliches und Mütterliches an sich. »Dann kommt mal mit, junger Herr, damit alles zu Eurer Zufriedenheit geregelt werden kann.«
Sie stiegen die Treppe hinauf in den ersten Stock, und von dort führte Landi Rowarn in ein nach Südosten gelegenes Zimmer, das ihn an Weideling erinnerte. Gemütlich und hell, mit einem einladenden breiten Bett und Baldachin darüber, einem Tisch und Stuhl, Waschkommode und Kleidertruhe. Und ein Schaukelstuhl vor dem Fenster. In einer Vase standen frische Wiesenblumen. Aus dem Kasten vor dem Fenster spitzten verschiedene zarte Farne und bunte Blüten herein.
»Wenn Ihr ein anderes Zimmer wünscht, gebt nur Bescheid«, sagte die Magd, während sie die dicke Decke zurückschlug und das Federkissen aufschüttelte. »Wir haben für so ziemlich alle Bedürfnisse Räumlichkeiten eingerichtet.«
»Es ist alles perfekt, ich werde mich sehr wohl fühlen«, sagte Rowarn schnell.
»Das wird die Herrin freuen. Ihr werdet gleich Gelegenheit zu einem reinigenden Bad hier nebenan haben.« Landi wies auf eine schmale Tür. »Bitte lasst Eure Kleidung einfach hier liegen. Ich werde sie abholen, während Ihr badet, und Euch angemessenen Ersatz bereitlegen.« Sie musterte ihn abschätzend von oben bis unten, als würde sie Maß nehmen, schenkte ihm dann noch einmal ein aufmunterndes Lächeln und verließ den Raum, indem sie die Tür hinter sich schloss.
Rowarn hatte kaum Zeit sich umzusehen, als es klopfte, und er sagte: »Herein.«
Eine junge Frau, etwa Anfang dreißig, im Gewand einer Heilerin trat ein. »Herrin Arlyn hat mir aufgetragen, nach Euch zu sehen und Euch zu untersuchen.«
»Ich bin gesund, mir fehlt nichts«, versicherte Rowarn, dem jetzt ganz und gar nicht nach einer gründlichen Befragung war, und noch weniger nach einer Untersuchung.
»Das dürft Ihr getrost mir überlassen, junger Herr«, lächelte die Heilerin. »Ich bin übrigens Korela. Ich stehe seit acht Jahren in Farnheims Diensten, habe meine Ausbildung mit sechzehn Jahren begonnen und studiere regelmäßig neue Krankheiten und Heilmethoden.«
»Ich ... äh ... ich bezweifle Euer Können nicht ...« Rowarn wünschte sich, er könnte fliehen, hinunter zu Windstürmer, und fort von hier. Er wollte, konnte hier nicht bleiben.
»Also dann, lasst uns beginnen.« Korela stellte sich vor ihn. »Zieht Euch aus und lasst mich Euch ansehen.«
Rowarn bewegte sich keinen Fußbreit.
Korela lachte. »Wollt Ihr lieber von einem Mann untersucht werden?«
Er grinste schüchtern. »Ich will überhaupt nicht untersucht oder befragt werden.«
»Aber so sind unsere Vorschriften. Ihr habt es schnell hinter Euch, ich verspreche es. Ich sehe Euch nur an und stelle ein paar Fragen.«
»Warum muss das sein?«
»Ihr habt mehrere Schlachten, lange Gefangenschaft und Flucht hinter Euch, Misshandlung, Erschöpfung und Schmerz durchlebt. Das muss Spuren hinterlassen, edler Herr. Lady Arlyn ist sehr gewissenhaft. Es dauert wirklich nicht lange. Das Lendentuch könnt Ihr selbstverständlich anbehalten.«
»Ich habe keins«, bekannte er.
Die Heilerin winkte ab. »Dem kann abgeholfen werden.« Sie legte ihren Schulterbeutel ab und zog ein frisches weißes Tuch hervor. »Ich warte draußen. Ruft mich, wenn Ihr soweit seid.« Sie drohte ihm scherzhaft mit dem Finger. »Fliehen könnt Ihr nicht, und ich werde auch nicht zu lange warten, also beeilt Euch besser.«
»Also gut.« Er wartete, bis sie draußen war, warf die Lumpen von sich, wickelte das Lendentuch um sich und rief Korela wieder herein. »Ich hoffe, Ihr schätzt mich auf einen guten Preis.«
Die Heilerin lachte hell. Während sie ihm Fragen stellte, tastete sie seine Schultern ab, horchte an seinem Rücken und der Brust, legte nacheinander die Hand auf bestimmte Stellen über dem Herzen, über dem Nabel, am Rücken neben den Lendenwirbeln, und ließ sie dort einige Zeit verweilen, schweigend und mit geschlossenen Augen. Sie betrachtete die kaum verheilten, unbehandelt gebliebenen Narben der Schlacht und besah sich genau das winzige Mal der Chalumi an seiner rechten Hand. »Legt Euch aufs Bett, ich muss mir Eure Fußsohlen ansehen«, ordnete sie dann an.
Verdutzt gehorchte er, und nacheinander nahm sie seine Füße und berührte die Unterseiten mit bestimmtem Druck an verschiedenen Stellen. Ein paarmal sagte er leise »Au«, was ihn völlig überraschte.
Korela nickte und starrte ihm dann noch abwechselnd in die Augen, die er weit offen halten sollte, ohne zu blinzeln. Zuletzt forderte sie ihn auf: »Jetzt stellt Euch wieder hin, ich muss mir Eure Haltung noch einmal genauer ansehen. Ihr hinkt nämlich.«
»Ich hi...«
»Ja. Dachte ich es mir doch, dass Ihr das noch gar nicht bemerkt habt. Also, steht auf. Dann sind wir fertig.«
Er erhob sich, und sie tastete seine Beine ab, dann die Hüfte. Er zuckte zusammen. »Autsch!«
»Ah, da haben wir es ja. Ihr habt Euch die rechte Hüfte verrenkt, wahrscheinlich durch zu langes, gekrümmtes Kauern.«
»Aber ich habe das nie ...«
»Natürlich nicht, ihr harten Krieger kennt ja keinen Schmerz, ich weiß. Aber das ist eine Sache, die kann ich gleich in Ordnung bringen. Legt Euch noch einmal auf den Rücken und entspannt Euch.«
Rowarn hatten jeden Widerstand aufgegeben. Brav legte er sich wieder hin. Gleich darauf strichen ihre kräftigen Finger knetend über seinen Körper, sie drehte ihn hin und her, und dann stellte sie etwas mit seinen Beinen an. Plötzlich spürte er einen Ruck an der rechten Hüfte, einen kurzen Schmerz – und auf einmal Erleichterung.
»Fertig«, sagte Korela zufrieden und richtete sich auf. »Ihr könnt Euch aufsetzen.«
Er schwang die Beine über den Rand und sah sie fragend an. »Kann ich auf einen guten Preis am Markt hoffen?«
Sie schmunzelte. »Wie alt seid Ihr? Zweiundzwanzig?«
»Zwanzig.«
»Körperlich nicht, momentan. Seit dem Frühjahr habt Ihr einiges durchgemacht. Entbehrungen, Überanstrengung, Leid. Ganz abgesehen von diversen Kämpfen, die Ihr ausgetragen habt.«
Rowarn blinzelte eingeschüchtert zu ihr auf. Das hatte sie alles gesehen?
»In Euren Augen, und gefühlt an Euren Füßen«, gab Korela zur Antwort. Die Frage musste auf seinem Gesicht gestanden haben. »Ihr seid körperlich völlig gesund, aber über Gebühr erschöpft und verspannt. Viele Eurer Beschwerden, wie ein dauernder Druck im Kopf, ein Ziehen hier und dort, rühren daher. Wir können sie beseitigen, durch lösende Bäder und Massagen. Ich werde es veranlassen. Außerdem braucht Ihr gute, kräftigende Nahrung, ihr seid viel zu mager. Ansonsten könnt Ihr zufrieden sein.«
Rowarn atmete erleichtert aus. Hoffentlich war es jetzt vorüber.
»Bis auf eine Sache«, fügte die Heilerin jedoch hinzu. Sie näherte sich ihm, und erstaunt bemerkte er die Sorge in ihren Augen. »Jemand hat Euch mehrmals entsetzliche Schmerzen zugefügt, ohne Euch körperlich zu verletzen«, sagte sie leise. »Schmerzen, die einen normalerweise umbringen. Nicht einmal bei Todkranken habe ich jemals so etwas gesehen. Ein junger Mann wie Ihr ... Es tut mir sehr leid.«
Rowarn schluckte. »Das ist vorbei«, sagte er dann heiser.
»Nein, ist es nicht«, widersprach sie ernst. »Wenn ich Euch einen Rat geben darf – geht nicht wie ein Soldat darüber hinweg, der zu kämpfen gewohnt ist. Das ist etwas anderes. Ihr solltet mit der Herrin darüber sprechen. Sie kann Euch helfen, damit fertig zu werden.«
»Es ist vorbei«, wiederholte er hart. »Und ich verpflichte Euch dazu, kein Wort mehr darüber zu verlieren.«
»Ihr macht einen Fehler«, sagte sie ernst. »Aber es ist Eure Entscheidung. Ich bin nur für Euren Körper zuständig.« Sie nickte ihm zu und verließ das Zimmer.
Als Rowarn aus dem Bad kam, lag tatsächlich frische Kleidung für ihn bereit. Feine Stoffe in abgestuftem Dunkelblau, seiner Lieblingsfarbe. Beinkleider, Hemd und Wams, dazu neue Stiefel und Leibwäsche. Sogar an den Gürtel und Stiefel hatte man gedacht. Auf dem Wams und an den Säumen waren zarte Stickereien mit glänzendem Garn aufgenäht. Kleidung für einen Edelmann. Und es passte alles hervorragend, als wäre es nur für ihn gemacht.
Rowarn fühlte sich einerseits wie neugeboren, andererseits beschämt. Er ging nach unten und fragte in der Küche nach der Herrin. Im Kräuterraum, hinter der Treppe, wurde ihm beschieden. Also wagte er sich ins Halbdunkel und fand tatsächlich eine kleine schiefe Tür.
Auf das Klopfen erklang ein »Nur herein«, und vorsichtig trat er ein. Er musste sich bücken und wäre beinahe über die unerwartet hohe Schwelle gestolpert. Dahinter befand sich eine helle, kleine Kammer mit zwei viereckigen Fenstern an zwei Wänden, durch die Tageslicht einfiel. Der Raum war bis unter die Decke voller duftender Kräuter und Blüten, die von Holzbalken herabhingen, neben Flaschen und Dosen in allen Größen in Regalen sortiert oder in Körben aufbewahrt wurden.
Arlyn saß auf einem dreibeinigen Schemel an einem kleinen Holztisch in der Mitte des Raums und sortierte Kräuter. Sie trug eine hellgrüne Schürze und das Haar mit einem langen Tuch leicht zusammengebunden. Ihre schlanken Finger waren fleckig und grün und braun verfärbt. Sie sah aus wie eine junge Kräuterfrau, nicht wie die edle Herrin von Farnheim.
»Ich ... wollte mich bedanken«, begann Rowarn verlegen. Linkisch strich er über das Wams. »Für ... alles.«
Sie lächelte und musterte ihn anerkennend. »Die Farbe steht Euch sehr gut, und Ihr habt eine Statur, bei der man nicht lange nach etwas Passendem suchen muss. Ich hoffe, es gefällt Euch.«
»Aber ja, natürlich. Und auch alles andere. Es ist nur ...«
»Ja?«
»Ich ... ich kann das nicht bezahlen. Ich ... bin mittellos«, gestand er. Er musste sich dessen nicht schämen. Aber er wollte auch kein Missverständnis aufkommen lassen.
Arlyn schmunzelte. »Macht Euch deswegen nur keine Gedanken. Der Orden der Visionenritter kommt dafür auf. Ihr schuldet Farnheim gar nichts.«
»Der Orden? Ich bin kein Mitglied und ...«
»Ich sagte, wie es geregelt wird. Gebt Euch damit zufrieden.«
Es war zum Verzweifeln. An was für einen Ort war er hier nur geraten? »Lady Arlyn ...«
»Arlyn.«
»Wie bitte?«
»Nicht Herrin oder Lady. Einfach Arlyn.« Sie legte die Kräuter beiseite und breitete leicht die Hände auseinander. »Ich lege nicht viel Wert auf solche Förmlichkeiten.«
»Bei allem Respekt, meine Lady, aber das schickt sich nicht«, widersprach er förmlich. »Ihr seid von einem Alten Volk und noch dazu von hohem Adel.«
»Ich bin aber kaum älter als Ihr.«
»Nur ein paar Jahrzehnte ...«, meinte er.
Ihre schwarzblauen Augen blitzten auf. »Angmor hat mich verraten!«
»Gleich zu Beginn«, gab Rowarn zu.
»Das sieht ihm ähnlich.« Der Goldschimmer ihrer Pupille vertiefte sich. »Es spielt keine Rolle zwischen uns. Wir von den Alten Völkern bleiben lange jung. «
»Ich ...«
»Ritter Rowarn, Ihr seid kein Mensch, nicht einmal zur Hälfte. Ihr gehört genauso zu den Alten wie ich. Auch Ihr werdet in hundert Jahren unverändert jung sein.«
Er schüttelte heftig den Kopf. »Ich fühle mich jetzt schon um sechzig Jahre gealtert.«
Arlyn schmunzelte. »Dann ist der Abstand ja noch geringer.« Sie stand auf, kam um den Tisch und streckte die Hand aus. Sie war nur eine Fingerlänge kleiner als er. »Also gut, bleiben wir förmlich, solange Ihr Zeit benötigt, meine Gastfreundschaft und mein Willkommen anzunehmen, Rowarn von Weideling. Ihr werdet sehen, es ist gar nicht so schwer, wenn Ihr Euch Euren Freunden im unbefangenen Umgang mit mir anschließt. Zwischen den Alten Völkern muss keine derartige Distanz herrschen, das ist nur dann der Fall, wenn sie verfeindet sind oder einander nicht von grundauf vertrauen. Ich aber weiß, Euch vertrauen zu können, da Ihr in Angmors Begleitung hierher gekommen seid, und ich habe bereits die hell strahlende Aura Eurer guten Seele geschaut. Vertraut daher mir, dass Euch hier nichts Schlechtes widerfahren kann. Nehmt meine Freundschaft an, wann immer Ihr wollt.«
Er errötete bis unter die Haarwurzeln. »In ... in Ordnung«, sagte er scheu und ergriff die dargebotene Hand. Sie war so warm und weich, und es war, als führe ein Blitzstrahl in ihn. Freunde, dachte er unglücklich. Ich kann das nicht. Nicht, solange es mir den Atem abschnürt, wenn ich sie ansehe, solange mein Herz zu rasen beginnt, wenn ich ihre Stimme höre, und meine Gedanken unerhörte Wendungen nehmen, wenn sie mich berührt. Wäre ich nur nie hierhergekommen!
»Aber ich muss bald wieder fort«, presste er hervor.
»Darüber werde nach wie vor ich entscheiden, das ist kein Scherz«, widersprach sie. »Eure Freunde brauchen Euch zudem.«
»Wohl eher umgekehrt«, meinte er trocken. »Und Angmor hat oft genug betont, dass er nicht mein Freund ist.«
»Ach, wirklich? Nun, auch das sieht ihm ähnlich. Wisst Ihr, warum man ihm den Beinamen der Waldlöwe verliehen hat?«
»Ich dachte, weil er genauso schnell und unsichtbar angreift. Ein Barde soll ihn mit dem Beinamen bedacht haben.«
»Das ist die schmeichelhafte Erklärung.« Arlyns Tonfall war spöttisch. »In Wirklichkeit hat ihm mein Vater den Namen gegeben, lange vor meiner Geburt. Habt Ihr eine Vorstellung, was Waldlöwen für Geschöpfe sind?«
Rowarn hob die Schultern. »In Inniu sind sie unbekannt.«
»Es sind griesgrämige, miesepetrige, launische Wesen, die einsam vor sich hingrummelnd in abgeschiedenen Bauten leben und niemanden an sich heranlassen«, erklärte Arlyn. »Die Freuden des Lebens sind ihnen abhold, und sie maßen sich an, das Schicksal der ganzen Welt auf ihren Schultern tragen zu müssen.«
»Ihr sprecht über einen Visionenritter!«, sagte Rowarn schockiert.
»Ich bin die Tochter eines Visionenritters«, versetzte sie heiter. »Ich kannte sie alle, und Angmor mein Leben lang.«
»Eines hat Arlyn in ihrer Aufzählung allerdings vergessen«, erklang die Stimme von Rianda, die gerade hereinkam, den Arm voller Tannenruten. »Der Waldlöwe ist das gefährlichste aller Raubtiere. Selbst die Bepheron fürchten ihn. Er ist lautlos, Zähne und Krallen messerscharf, und kein Opfer überlebt den Angriff, geschweige denn, dass es den tödlichen Schlag überhaupt kommen sieht oder spürt.«
»Aber aus dem Grund hat Angmor den Namen nicht erhalten«, bemerkte Arlyn und nickte Rowarn zu. »Was verehrt Ihr alte Helden, Herr Ritter, wenn Ihr doch längst selbst einer seid und ihnen allen weit voraus.« Damit ließ sie ihn stehen, wandte sich der älteren Frau und den Kräutern zu und beachtete ihn nicht mehr.
Rowarn, der sich überflüssig vorkam, verließ die Kammer und ging einigermaßen verdattert durch den Gang nach draußen, wo er fast mit Angmor zusammenstieß, der gerade durch die Haupttür herein wollte.
»Wo bist du schon wieder mit deinen Gedanken, Junge?«, knurrte er.
»Ich ... äh ... Arlyn ... erklärte mir Euren Beinamen«, stammelte er und biss sich innerlich fluchend auf die Lippe, weil er wieder einmal redete, ohne nachzudenken.
»So«, brummte der Visionenritter. »Diese alte Geschichte.« Er verharrte kurz. »Ihr Vater war ein unverbesserlicher Leichtfuß«, fügte er hinzu.
Rowarn schwieg vorsichtshalber.
Angmor schien weitergehen zu wollen, dann sagte er doch noch etwas. »Und er war der Beste von uns. Ein guter Freund zudem. Loghir hat gern und viel gelacht. Seine Art der Weltsicht ... nötigte Respekt ab. Das hat er an Arlyn weitergegeben. Den Adel und die Grazie hat sie von ihrer Mutter.«
»Sie ist einzigartig«, wisperte Rowarn, mehr zu sich selbst.
»Wie jeder von uns, Rowarn«, sagte Angmor ruhig. »Nur manche eben ein wenig mehr.« Er setzte endgültig den Weg fort und verschwand im Haus.
Rowarn trat unter dem Vordach hinaus in die Sonne und blieb eine Weile unbeweglich stehen. Die Luft war frisch und würzig, und der inzwischen wolkenlose Himmel versprach einen schönen Spätsommer. Auch die Bäume waren dieser Ansicht, denn die Blätter zeigten lediglich einen ersten Hauch von Gold und Rot, und der Laubfall hatte noch nicht eingesetzt. Weit hinten, auf halbem Wege zwischen Park und See, sah Rowarn Graum sich im Gras wälzen und gähnend herumlümmeln. Dem Schattenluchs ging es offensichtlich gut. Entlang des Weges nach Farnheim-Markt breiteten sich die Kräutergärten aus. Dort standen auch Kaninchenställe, weiter hinten Bienenstöcke.
Rowarn ging in den Park und erfreute sich an den stillen Wandelwegen. Nur wenige Gäste waren zu dieser Stunde hier unterwegs, und man begegnete sich nicht unmittelbar, sah sich nur aus der Entfernung. Es gab so viele Wege, und immer gab es einen Baum oder Busch, der für einen kurzen Moment Abgeschiedenheit bot. Ab und zu kam Rowarn an einer Bank vorbei, auf der ein Genesender saß, und er neigte höflich den Kopf zum Gruß und erhielt Antwort durch sachtes Armheben.
Einfach nur spazieren zu gehen, wann hatte er das zuletzt getan? In Weideling, vor ... ja, eine lange Zeit schien vergangen. Das war ein anderes Leben gewesen.
»Ein so junger Mann, und ganz ohne weibliche Begleitung? Hier in diesem Park? Mir deucht, ich begegne einem Gesicht der Vergangenheit.«
Rowarn verharrte, als er die krächzende Stimme hörte, und entdeckte einen alten Mann auf einer Stuhlsänfte, neben einer Bank. Rings um die Bank wuchsen Schraubenbüsche mit zierlichen roten Blättern und zarten weißen Herbstblüten. Es war eine kleine Laube, abgeschieden mitten im Park. Der Mann wies auf die Bank neben sich. »Sei mein Gast, wenn du nichts gegen ein wenig Unterhaltung mit einem wunderlichen alten Mann hast.«
Rowarn lächelte. Er mochte den Greis auf Anhieb; in jeder Falte seines Gesichts ruhten ein Jahrzehnt Leben und ein Dutzend Erfahrungen. Seine blauen Augen wirkten hellwach, und in den Winkeln blitzte der Schalk hervor. Das Gesicht zeigte die Freundlichkeit eines knorrigen alten Baums, der den verirrten Wanderer vor dem Sturm einlädt, eine Weile bei ihm zu verweilen. Zweifelsohne hatte er verstanden, das Leben zu genießen, und war seiner Bemerkung nach auch ein Frauenfreund gewesen. »Ja, gern«, antwortete Rowarn erfreut und setzte sich neben den Alten.
»Also, was verschlägt einen vitalen jungen Burschen hierher, mit düsterem Gesicht und traurigen Augen?«, fragte der Greis.
»Sieht man es mir so sehr an?«, gab Rowarn erschrocken zurück.
»Ich habe viele Gesichter wie deines gesehen«, antwortete der alte Mann. »Auch mein eigenes, wenn ich hin und wieder in einen Spiegel blickte, doch das ist lang her. Du willst also Kraft sammeln, um Rache zu nehmen.«
»Das habt Ihr gut erraten.« Rowarn wollte nicht glauben, dass er so leicht zu durchschauen war. Was mochte Arlyn dann erst von ihm denken ...
Der Greis schmunzelte. »Es ist nicht schwer. Liebeskummer sieht anders aus, dann ist das Gesicht nicht düster, sondern herzzerreißend verschwommen im Selbstmitleid.«
Rowarn grinste. »So etwas kann mir nicht passieren. Ich verliebe mich einfach nicht.« Ein kleiner brauner Käfer versuchte, auf seinen Stiefel zu klettern, rutschte ab und fiel auf den Rücken. Damit ergab er sich allerdings nicht in sein Schicksal. Kraftvoll hob er die Flügeldeckel an und stemmte sich hoch, strampelte mit den Beinen, pumpte Luft auf eine Seite, bis er kippte und wieder stand. Seine gefiederten Antennen vibrierten, als er sich orientierte, und richteten sich auf die Stiefelspitze. Nächster Versuch.
»Sicher?«
»Aber ja. Könnt Ihr mir überhaupt sagen, wann man gewiss sein kann, dass man verliebt ist?«
»Sobald du die Frage stellst«, lautete die Antwort, und der Alte gackerte.
Das fand Rowarn nun weniger komisch, aber er war selbst schuld, denn er hatte es herausgefordert. »Nun, und wann wollt Ihr mir meine Rache ausreden?«
»Überhaupt nicht. So viel Lebensatem habe ich nicht mehr, um ihn für verlorene Ratschläge zu verschwenden.«
Eine große, grünblau schillernde Raublibelle mit leuchtend roten, filigranen Flügeln surrte heran. Plötzlich schoss sie zu Boden und schnappte sich mit ihren kräftigen Fangarmen den Käfer, der es gerade bis auf die Stiefelspitze geschafft hatte. Er strampelte mit den Beinen, doch sie hielt ihn unerbittlich fest und flog mit der Beute davon.
Der Schatten des ertrinkenden Tages
Löscht das Licht der Erkenntnis.
Doch sehen kannst du erst
In Finsternis.
»Ihr seid Dichter!«, rief Rowarn überrascht.
»Ich gab mich der Illusion hin«, antwortete der Alte lächelnd. »Doch ich kam gut damit zurecht.«
»Habt Ihr viele Länder bereist?«
»Das kann man wohl sagen. Ich bin jetzt zweiundneunzig Jahre alt, und seit siebenundsiebzig Jahren auf Wanderschaft. Trotzdem kenne ich noch kaum etwas von Waldsee. Ich glaube, das kann man nur, wenn man ein Titan oder ein Gott ist. Oder ein Vogel, der sich einmal darum herum wagt und unterwegs nicht gefressen wird oder an Hunger stirbt.«
Rowarn grinste stillvergnügt. Es war eine Wohltat, dem Alten zu lauschen. »Werdet Ihr mir eine Geschichte erzählen?«
»Bist du nicht schon ein bisschen zu alt dafür?«
»Bitte. Man sagte mir, ich solle mich erholen und entspannen. Wie könnte ich das besser als in Gegenwart eines Poeten? Noch dazu, wenn er so weit gereist ist wie Ihr?«
»Na schön.« Der Dichter ließ sich nicht lange bitten. »Aber ich werde dir keine Geschichte von mir erzählen. Diese hier ist älter als ich, schon über hundert Jahre.«
Rowarn setzte sich aufmerksam hin und sah den Poeten erwartungsvoll an.
»Mein Vater«, begann der alte Mann, »lebte einst in einem kleinen Land namens Readu. Kaum jemand kennt es, denn es liegt in einem Hochtal mitten in einem schroffen Gebirge, fern von Valia. Die Menschen dort waren arm, aber sie hatten ihr Auskommen und lebten in Frieden und nah an den Göttern. Mein Vater begann mit zwölf Jahren zu dichten und gelangte schnell zu Ruhm.«
»Ihr habt Euer Talent also von ihm geerbt«, meinte Rowarn.
»Möglich, mein junger Freund.«
Die Geschichte des Poeten
Als mein Vater zwanzig Jahre alt war, kam Hakkur nach Readu. Er stammte von einem Alten Volk ab und erhob Anspruch auf Land und Leute. Hakkur baute sich einen Palast und einen Thron und krönte sich selbst zum Tyrannen. Er war grausam und willkürlich, und alle zitterten vor ihm. Das Volk durfte nichts mehr besitzen, nicht einmal mehr seinen Glauben. Er nahm den Untertanen alles und gab nur das Notwendigste, damit das Volk arbeiten und ihm dienen konnte. Mein Vater sah sich das eine Weile an, und dann begann er, andere Weisen zu dichten. Er verteilte Pamphlete, schrieb Kampflieder und hielt flammende Reden auf Marktplätzen. Als Hakkur erkannte, dass das Volk sich wieder etwas angeeignet hatte, nämlich Glaube und Hoffnung an meinen Vater, und dass sich Widerstand regte, da ließ er ihn verhaften und verurteilte ihn zu öffentlicher Hinrichtung durch das Beil.
Das Volk sollte der Hinrichtung beiwohnen, und so viele wie möglich wurden zusammengetrieben. Als mein Vater oben auf dem Schafott stand, kurz bevor der Henker seinen Kopf auf den Klotz zwingen konnte, erbat er von Hakkur, dem gütigen und gerechten Herrscher, noch den Gefallen ein paar letzter Worte. Das konnte der Tyrann ihm schlecht verwehren, denn selbst in diesem Land hatten Verurteilte ein Anrecht auf Abschied. Und als er sah, wie meinem Vater die Knie vor Angst schlotterten, glaubte er, der Verurteilte würde niedersinken und um Gnade betteln. So gab er der Bitte großzügig statt. Mein Vater, die Arme auf den Rücken gefesselt, stellte sich aufrecht hin und sagte:
Das Schwert kann einen Mann vernichten
Nicht aber seine Feder.
Selbst wenn die scharfe Klinge sie zerteilt
Bleibt es immer noch eine Feder.
Dann ging er freiwillig auf die Knie und legte den Kopf auf den Klotz, und der Henker hob das Beil. Da aber bemerkte der Tyrann die eisige Stille, die plötzlich herrschte, und er blickte in die zürnenden Augen des Volkes, und wie er dies alles sah und erkannte ...
»Was geschah? So erzählt doch weiter!«
»Mein Vater starb unter dem Beil, und ich wurde nie geboren.«
Rowarn stockte der Atem, und er starrte dem Dichter ins faltenreiche Antlitz. Als er sah, wie dessen Mundwinkel zuckten, prustete er los. »Ihr seid ein Schelm, kein Dichter!«
»So hat mein Vater es mir erzählt«, lachte der Alte. »Er erklärte dazu, dies sei das erste Gebot des Handwerks.« Unvermittelt wurde er wieder ernst. »Nun höre, was wirklich geschah. Im letzten Moment, als der Henker gerade zuschlagen wollte, gebot Hakkur ihm Einhalt. Dann begnadigte er meinen Vater. Der hat das aber nicht mehr mitbekommen, denn zu dem Zeitpunkt war er bereits vor Schreck ohnmächtig geworden.«
Rowarn wartete ungeduldig in der neuerlichen Pause, gab aber keinen Ton von sich.
»Mein Vater kam in der Dunkelheit in der Gosse wieder zu sich. Es regnete in Strömen, und er fror entsetzlich. Er war nackt, sie hatten ihn grün und blau geschlagen und ihm die Finger gebrochen, jeden einzelnen. Sie hatten ihm alles weggenommen, nur seine Haut ließen sie ihm.«
»Wie grausam ...« Rowarn schüttelte es.
»Mein Vater weinte und klagte die ganze Nacht. Am Morgen hörte der Regen auf, die Wolken verzogen sich, und die Sonne erschien am klaren Himmel. Und mein Vater stand auf und ging.«
Der Tonfall ließ darauf schließen, dass die Geschichte beendet war. Rowarn blinzelte verblüfft. »Er ging?«
»Ja. Und das Volk sah ihn gehen. Und bald folgte ihm der Erste. Der Zweite. Schließlich alle. Sie ließen alles liegen und stehen, nahmen nichts mit, nicht einmal die paar Fetzen Kleidung auf dem Leib, denn der Tyrann hatte ihnen ja gesagt, dass ihnen nichts gehören würde, und sie wollten nicht als Diebe gehen, sondern als freie Menschen. Genauso wie mein Vater. Wie ein Lauffeuer sprach es sich herum, und von allen Seiten strömten sie herbei und auf der Hauptstraße von Readu zusammen, die aus dem Gebirge führte. Hakkur hatte zweihundert Soldaten, aber das Volk war zwanzigfach in der Mehrzahl, und alle waren nackt und unschuldig wie am Tag ihrer Geburt. Die Soldaten konnten nichts tun. Und am Ende ließen auch sie alles zurück und gingen mit den anderen.«
Rowarn schluckte trocken. »Und ... was wurde aus dem Tyrannen?«
»Er herrscht immer noch über Readu«, antwortete der Poet. »Ein einsamer Herrscher in einem menschenleeren Land. Hin und wieder verirren sich Reisende dorthin, Abenteurer, Barden und Poeten. Manchmal bewirtet er sie, manchmal köpft er sie. Doch am Ende ist es immer dasselbe: Niemand bleibt, und so ist er am Ende einsam wie zuvor.«
»Warum bleibt er?«
»Readu gehört ihm. Wenn er geht, gehört ihm nichts mehr.«
»Also hat er Angst.«
»Gewiss. Wer keine Angst hat, braucht anderen keine einzujagen.«
Eine Weile schwiegen sie, und Rowarn dachte über die Erzählung nach. Einerlei, ob der Poet geflunkert hatte, dass sein Vater der Held gewesen war: Es war eine gute Geschichte. Eine, wie sie auch Schneemond und Schattenläufer hätten erzählen können. Ihm einst als Kind erzählt hatten.
»Ihr seid ein weiser Mann«, meinte Rowarn bewundernd.
»Nicht halb so weise, wie du es verdienst«, erwiderte der Poet. »Aber nun wollen wir keinen tiefgründigen Gedanken nachhängen, an diesem schönen Nachmittag. Jedoch einen Vers musst du mir noch gestatten, bevor du mich verlässt. Du bist ein guter Zuhörer, und ich höre mich gemäß meiner Berufung nun einmal gern reden.«
»Ich bin gespannt, verehrter Poet«, sagte Rowarn neugierig.
Der Kranich breitet die Flügel aus
Doch das Gras ist höher.
»Ich muss zugeben, ich verstehe nichts von dem, was Ihr sagt«, gestand Rowarn fröhlich. »Aber ich finde, es klingt wunderbar.«
»Es ist doch ganz einfach«, sagte der Poet. »Der Kranich kann sich strecken, doch nicht mehr wachsen. Nun?«
Rowarn lachte. »Soll ich es auch mal probieren?«
»Nur zu«, forderte der Poet ihn auf.
Wenn mein Kater faucht
Weiß ich, mir droht Gefahr
Wenn der Häher anschlägt
Weiß ich, der Beute droht Gefahr
Wenn mein Magen knurrt ...
»Genug!«, rief der Dichter und hob kichernd die Hand. »Bevor du mich verspeist, geh essen! Und sieh zu, dass du immer satt bist, damit du nie wieder in Versuchung kommst zu dichten!« Er lachte fast Tränen.
»Verzeiht, ich bin unhöflich«, lächelte Rowarn. Er freute sich, dass er dem Alten Vergnügen bereitete. »Doch ich kann es wirklich kaum mehr aushalten. Werden wir uns wiedersehen?«
»Aber natürlich. Ich bleibe für immer hier«, sagte der Poet sanft und wies vor sich auf einen Baumfarn am Ende des Weges, kurz bevor der Wald begann. Der schmale, kerzengerade Stamm war völlig glatt. Erst der Wipfel wurde von einem weit auseinanderstrebenden Schopf feingefiederter, mannslanger Blätter gekrönt. Ein königlicher Ruheplatz.
Unter weiten Flügeln
Lege ich mich zur Ruhe
Und spüre das weiche Moos
Über den Wolken.
»In wenigen Tagen schon«, fügte der alte Mann hinzu.
»Das tut mir leid«, sagte Rowarn betroffen.
»Aber nein«, widersprach der Poet. »Es könnte nicht friedvoller sein, und ich habe alles getan, geschrieben und gesagt. Nun ziehe ich mich in mich selbst zurück und sammle alles auf einen einzigen Punkt, der nicht größer ist als der Kopf einer Stecknadel. Dies werde ich dann an die Feder eines Vogels heften und mit ihm über die Welt fliegen, bis an die fernen Gestade, die man die Silbernen nennt. Was kann es Besseres geben, sag selbst? Das ist wahre Unsterblichkeit, mein junger Freund.« Er reichte Rowarn die Hand zum Abschied.
Vier Pfade
Musst du noch beschreiten,
Und ich beneide dich darum nicht.
Doch bin ich voller Eifersucht,
Woran du,
Aber ich nicht mehr,
Teilhaben wirst.
Er schmunzelte gütig und in erfülltem Frieden. »Wenn du einem Vogel begegnest, der dir hartnäckig folgt, so sei versichert, dass deine Geschichte bald in fernen Landen Zuhörer finden wird.« Er zwinkerte.
»Lebt wohl, Dichterfürst«, sagte Rowarn und drückte herzlich seine Hand. »Ich werde nicht nach dem Punkt auf dem Flügel suchen, doch ich werde den Vogel grüßen und ehren, und ich werde ihm einen Wurm spendieren, damit ihn nicht vorzeitig die Kräfte verlassen.«
Rowarn machte sich auf den Weg zurück zum Haus; ihm war fast schlecht vor Hunger. Heute Mittag nach der Ankunft hatte er noch geglaubt, nichts herunterbringen zu können, aber jetzt war sein Magen anderer Ansicht. Einige Gäste saßen draußen in der Sonne und ließen es sich bei Bier, Wein und Speck mit Nussbrot in fröhlicher Gemeinschaft wohl sein. Der junge Nauraka suchte einen Tisch für sich. Neugierige Blicke richteten sich auf ihn, aber niemand sagte etwas, und dafür war er dankbar.
Eine Schankmaid brachte ihm unaufgefordert einen Krug schäumendes Bier und stellte einen Teller mit erlesenen Speck- und Wurstsorten vor ihn, Käse, dazu eingelegte Sauerfrüchte, scharfe Kräuter und Schoten und frisch gebackenes Brot. Rowarn fiel ein, dass er ja einen Schlauch Honigtau und ein wenig Honig aus Grinvald mit sich geführt hatte; doch er konnte auch später danach fragen. Jetzt schmauste er erst einmal und genoss stillvergnügt das Bier. Noch bevor es ganz zur Neige war, brachte die Schankmaid mit einem verschmitzten Grinsen das nächste, dem er ebenfalls begeistert zusprach. Rowarn strahlte, schon leicht beschwipst, Arlyn an, als sie herauskam und sich zu ihm setzte.
»Es freut mich, dass es Euch mundet«, sagte die Lady lächelnd. »Alles stammt aus eigenen Erzeugnissen.«
»Zuerst war ich verhungert, aber jetzt kann ich wirklich genießen«, gestand er treuherzig. »Wann kann ich Tamron besuchen? Und wie geht es Angmor?«
»Denkt Ihr immer nur an die anderen?«, fragte sie.
»Ich sorge mich um sie«, sagte er verdutzt. »Und ich fühle mich gewissermaßen verantwortlich.«
»Wie Ihr meint. Angmor ruht. Es geht ihm nicht gut, Herr Rowarn, aber das dürfte keine Überraschung für Euch sein. Doch er wird sich erholen. Und Tamrons Bewusstsein wird bald zurückkehren, das kann ich Euch versprechen. Geduldet Euch, bis es so weit ist.« Arlyn winkte der Schankmaid, als sie sah, dass Rowarn aufgegessen hatte, und kurz darauf wurde ein Kanten Weißbrot, Butter – und der Honig aus Grinvald aufgetragen, samt Honigtau, der in eine Kristallkaraffe umgeschüttet worden war, bei der zwei passende Gläser standen.
»Jetzt bekommt Angmor gar nichts davon mit«, bemerkte Rowarn gänzlich ohne schlechtes Gewissen, während er eine Brotscheibe dick mit Butter und Honig bestrich und herzhaft hineinbiss.
»Glaubt Ihr, ich lasse mir Gríadans kostbaren Honigtau entgehen?«, schmunzelte Arlyn und hob das Glas zum Wohlsein. »Seid willkommen in Farnheim, Rowarn von Weideling, umso mehr mit diesen köstlichen Mitbringseln. Damit habt Ihr Euren Aufenthalt mehr als bezahlt, falls Ihr Euch immer noch Gedanken darüber macht.«
»Wenn ich betrunken von der Bank falle, muss mich jemand aufsammeln«, lachte Rowarn mit roter Nasenspitze und trank das zweite goldene Gläschen. »Ich bin das nicht gewohnt. Aber es schmeckt so gut.«
»Langsam wird es Zeit«, sagte Arlyn rätselhaft und unpassend. »Niemand kann einen so starken Willen besitzen. Lasst endlich los, Rowarn. Jetzt.«
Sein Herz klopfte schneller, als er ihren Blick auf sich gerichtet fühlte, aber sein Verstand war schon viel zu benebelt, um einen vernünftigen Gedanken dazu fassen zu können. Er war müde, satt und voller Wolken in seinem Geist, die sich wie eine weiche Decke ausbreiteten und allmählich das Licht löschten. »Es ist ... ich ...«, setzte er an, dann krachte sein Kopf auf die Tischplatte.