Kapitel 7

Entscheidungen und Abschiede


Der Abend war bereits vorangeschritten, als Schattenläufer zurückkehrte. Er war schweißnass, und sein Atem ging schnell; er musste eine lange Strecke hindurch galoppiert sein.

Schneemond und Rowarn waren ebenfalls noch nicht lange zu Hause. Die meisten Verletzten hatten inzwischen das Krankenlager verlassen können, die übrigen hatte die Velerii von Verwandten abholen lassen. Dann hatten sie gemeinsam den Stall geräumt, während die Knechte sich endlich um die seit Stunden draußen angebundenen Pferde kümmern konnten, sie absattelten, striegelten, fütterten und tränkten. 

Die Aufräumarbeiten in der Stadt gingen auch schnell voran. Auf einem Feld außerhalb war ein Scheiterhaufen errichtet worden, auf dem die Grimwari verbrannt wurden, und es wurden Vorbereitungen für das Leichenbegängnis der Opfer getroffen. Der mit Musik unterlegte Lärm aus dem Gasthaus verlieh selbst dem bestialischen Gestank der brennenden Grimwari, der sich wie ein Pesthauch überall verbreitete, auf bizarre Weise noch etwas Tröstliches.

Als sie fertig waren, sagte Schneemond zu Rowarn: »Geh ruhig hinein, du hast es dir nicht minder verdient als die anderen.«

Er schüttelte den Kopf, was er jedoch schnell bereute. Ächzend tastete er nach dem Verband. »Mir ist nicht nach Feiern zumute. Ich kann es immer noch nicht recht fassen, dass jetzt alles vorbei sein soll. Da ist so viel in meinem Kopf, was ich erst ordentlich sortieren und dann aufräumen muss. Damit will ich mich den Rest der Nacht beschäftigen. In aller Stille.«

Sie legte die Hand zart auf sein Haar über dem Verband. »Du solltest unbeschwerter sein, Rowarn. Du bist noch so jung ...«

»Ich kann nicht«, flüsterte er. »Dazu ist zu viel geschehen. Es ist, als ob ich erwacht wäre und mich in der neuen Welt erst zurechtfinden muss.«

»Das verstehe ich natürlich. Dann komm mit mir nach Weideling, und wir werden etwas Gutes essen und Lúvenors Güte in einem Lied lobpreisen. Dann kannst du dich entspannen und wirst dich bestimmt bald besser fühlen.« Sie musterte prüfend sein Gesicht. »Was macht dein Kopfbrummen?«

»Fast vorbei«, antwortete er wahrheitsgemäß. »Dank dir, ehrwürdige Muhme. Und wenn ich ehrlich bin, ich komme bald um vor Hunger ...«

Sie lachte, und allein dieser Klang war ihm schon reinere Musik als jedes Lied und ein Trost seit seiner Kindheit. Er sprang auf ihren Rücken und genoss den Wind auf seinem Gesicht, als sie aus der Stadt über die verschlammten Wege nach Weideling galoppierte. 

Schneemond hatte eine ganz andere Art zu laufen als Schattenläufer, und Rowarn wusste nicht, was er mehr liebte: ihre elegante, leichtfüßige, ausgeglichene Schnelligkeit, knapp über dem Boden fliegend, aber ihm doch nahe; oder Schattenläufers kraftvolle, raumgreifende Sprünge wie von Wolke zu Wolke.

Sie waren beim Essen, als Schattenläufer hereinkam, nachdem er sich draußen gesäubert und geschüttelt hatte. Sein Pferdekörper dampfte, als er sich auf seinem Platz niederließ. Schweigend aß er eine Weile. Rowarn bemühte sich, nicht an Grimwar zu denken, er wollte den ganzen Tag hinter sich lassen. Diese Angelegenheit war nun beendet, und es gab keine Fragen mehr zu stellen, weil die Antworten ihm nicht mehr von Nutzen waren. Zudem wartete bereits das nächste Abenteuer vor der Tür: der baldige Aufbruch nach Ardig Hall. Das bedeutete, sich mit dem Abschied vertraut zu machen, und viel Zeit blieb ihm dazu nicht mehr.

Der Fürst hatte ihm Zeit zum Nachdenken gegeben, aber er brauchte sie nicht. Sein Weg hatte sich ihm eröffnet, nachdem er mit Grimwar gesprochen hatte.

»Ich ... werde Fürst Noïrun begleiten«, platzte er heraus. »Ich habe ihn um Hilfe wegen der Überfälle gebeten, und im Gegenzug bot ich ihm meine Dienste an.«

»Wir dachten uns bereits, dass du Inniu verlassen willst ... und uns.« Schneemonds Stimme klang leise. »Natürlich überrascht es uns nicht, denn eines Tages musste es dazu kommen.«

»Es ist dein gutes Recht«, sagte Schattenläufer. »Ob reinblütig oder nicht, du bist der Erbe deiner Mutter und damit Herr von Ardig Hall.«

»Nein!« Rowarn wehrte entschieden ab. »Nein, das bin ich nicht. Die Tradition, für die das Haus steht, kann ich nicht aufrechterhalten. Ich weiß nichts über das Volk meiner Mutter und über das, was sie tat.«

»Dann soll Ardig Hall für immer gefallen sein?«, fragte Schneemond.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Rowarn aufrichtig, ohne Bedauern oder Unsicherheit. Er hatte sich damit noch nicht ausreichend befasst und stand dem Schloss gleichgültig gegenüber. Bisher hatte es keine Bedeutung für ihn gehabt, und das würde sich, wenn überhaupt, erst dann ändern, wenn er eines Tages dorthin kam und sich mit der Vergangenheit auseinandersetzte. Sofern dort überhaupt noch etwas zu finden war außer geborstenen Steinen, die nur für diejenigen Erinnerungen bieten konnten, die sich zuvor dort aufgehalten hatten. 

»Ich kann das nicht entscheiden, nicht jetzt«, fuhr er fort. »Es ist schwierig genug für mich, diesen Schritt fort von Weideling zu tun. Der Fürst hat mich sogar von meinem Versprechen entbunden, damit ich meine Entscheidung neu überdenken kann. Aber das werde ich nicht. Ich muss gehen, und sei es auch nur, um meinen Vater zu finden. Oder ... den Dämon Nachtfeuer. Und nach all dem, was geschehen ist, habe ich hier ohnehin keinen Platz mehr. Ich gehöre nicht nach Madin, und ich habe auch keine Aufgabe in Weideling zu erfüllen. Im Augenblick weiß ich gar nicht, wo mein Platz ist, oder wer ich selbst überhaupt bin. Ein Prinz, ein Königssohn? Nein. Das sind nur Titel, die ich nicht mit Inhalt füllen kann. Bis vor kurzem habe ich mir zugetraut, ein Mörder zu sein, also wie viel kenne ich schon von mir? Ich kenne doch nicht einmal die Welt dort draußen, wie soll ich da Verantwortung übernehmen? Ich muss noch viel lernen, bis ich meinen Weg gefunden habe, und das kann ich am besten, wenn ich den Fürsten begleite. Erst dann kann ich entscheiden, was mit mir oder Ardig Hall geschehen soll.«

Schattenläufer rieb sich den Bart. »Du hast recht«, stimmte er dann zu. »Die Dinge sollten nicht überstürzt werden. Vor allem solltest du deine Herkunft nicht preisgeben. Bewahre dieses Geheimnis, denn sonst bist du ständig in großer Gefahr und nirgends vor Femris sicher. Er würde dich gnadenlos verfolgen lassen. Vertraue dich daher niemandem an, Rowarn, auch nicht dem Fürsten oder dem Kriegskönig. Ich weiß, du betrachtest sie bereits als deine Freunde, aber sie dürfen es zu ihrem eigenen Schutz nicht erfahren – noch nicht. Du wirst selbst den Zeitpunkt wählen, wenn es angebracht ist.«

Rowarn nickte. Das wäre nicht das einzige Geheimnis, das er aus Weideling mit sich nehmen müsste. Etwas quälte ihn schon seit dem Moment, da er die Geschichte über das Tabernakel erfahren hatte. Eine vage Vermutung zwar, aber trotzdem etwas, wovor er sich fürchtete und das er erst recht noch nicht annehmen konnte. Aber wenigstens Gewissheit sollte er haben, bevor er das Wissen tief in sich verbannte. 

Er gab sich einen Ruck und sprudelte heraus: »Sagt mir – bin ich der Zwiegespaltene? Habt ihr mir deswegen alles erzählt?«

Die beiden Velerii wechselten einen überraschten Blick. Dann schüttelte Schneemond den Kopf. »Nein, Rowarn, du bist es nicht«, antwortete sie.

Die Worte waren längst verhallt, bis Rowarn sie endlich begriff. »... nicht?«, wiederholte er verblüfft. Damit hätte er als Allerletztes gerechnet! »Wollt ihr mich etwa schonen?«

»Nein. Die Nauraka machten es sich zur Aufgabe, das Tabernakel zu hüten, bis es dem Zwiegespaltenen dienen sollte«, erklärte Schattenläufer. »Sie waren niemals dafür bestimmt, das Artefakt zu nutzen, und du bist Ylwas Sohn, ein Nauraka. Zumindest zur Hälfte.«

»Ich glaube, ich sollte erleichtert sein, aber ich bin noch viel zu durcheinander«, gestand Rowarn.

»Deine Vermutung lag nahe, und ich muss mich dafür entschuldigen, dass ich das nicht vorhergesehen habe«, sagte Schneemond. »Ich hätte von vornherein erwähnen sollen, dass du nicht dafür ausersehen bist. Der Zwiegespaltene wird ein Geschöpf von großer Macht sein. Er ist noch nicht in Erscheinung getreten. Möglicherweise wäre seine Zeit bereits vor Jahrhunderten gekommen, wenn das Tabernakel nicht zerbrochen wäre. Vielleicht kann er erst erwachen, wenn alle Teile wieder zusammengefügt sind.«

Rowarn war zu verwirrt, um etwas zu sagen. Andererseits machte es alles einfacher. Er brauchte sich nicht um Ardig Hall kümmern, sondern konnte sich ganz auf den Dämon Nachtfeuer konzentrieren, den Mörder seiner Mutter.

Als hätte Schattenläufer seine Gedanken gelesen, bemerkte er: »Zu Beginn war ich von Sorge erfüllt wegen deines Racheschwurs, denn ich befürchtete, er würde dich voll und ganz beherrschen. Aber was du heute getan hast, hat Größe und Weitblick gezeigt, und dass du deine persönlichen Interessen nicht über alles andere stellst, obwohl du in diesem Fall jeden Grund und auch eine gewisse Berechtigung dazu gehabt hättest. Deine Mutter wäre stolz auf dich gewesen.«

»So wie wir«, fügte Schneemond hinzu. 

»Das liegt nur an eurer Erziehung.« Es klang fast, als würde Rowarn sich deswegen verteidigen. »Ich habe durch euch mehr gelernt und erfahren als alle anderen zusammen. Ich würde euch Schande bereiten, wenn ich nichts davon beherzigen würde.«

Schneemond sah ihn liebevoll an. »Wir können dich unbesorgt ziehen lassen. Und wenn ich das sagen darf ... es kann gar keinen Zweifel geben, wessen Sohn du bist, wenn man deine Mutter kannte. Ich wünsche dir, dass du noch etwas in Ardig Hall finden wirst, um zu erfahren, wer sie war, und wer die Nauraka sind, deren Blut immer noch in deinen Adern kreist. Vielleicht reicht das, damit du bereit bist, das Erbe anzutreten.«



In dieser Nacht schlief Rowarn völlig ruhig und traumlos, und er erwachte erholt am nächsten Morgen. Mit seinem Kopf war alles wieder in Ordnung und er konnte den Verband abnehmen. Die Wunde hatte sich geschlossen und war nur noch berührungsempfindlich.

Aber der Rest seines Körpers! Jeder einzelne Muskel tat ihm weh, und er quälte sich jammernd und wehklagend aus dem Bett. So wird es von nun an sein, bis mein Körper sich an Strapazen gewöhnt hat, dachte er. Dies ist erst der Anfang. 

Er humpelte bis zum See und warf sich hinein. Nach dem Regen gestern war das Wasser eiskalt, aber das tat ihm nur gut. Zuerst träge, dann zusehends zügiger schwamm er quer hindurch, und wieder zurück, und zog weiter seine Bahnen, bis er sich vollends erfrischt und gestärkt fühlte. 

Der Himmel zeigte sich wieder von seiner besten Seite. Nur gelegentlich schoben sich bauschige Wolken vor die Sonne und schufen ein Wechselspiel auf dem Erdboden, wo die Schatten dem Licht nachjagten, wiederum vom Licht verfolgt.

Sein letzter Tag in Inniu, denn morgen wollte der Fürst abreisen. Was würde Rowarn heute tun? Was erwarteten die Muhmen von ihm?

Aber sie waren gar nicht da, als er tropfnass zurückkam, sondern bereits bei ihrem gewohnten Tagewerk. Schneemond hatte ihm einen Teller mit frischem Nussbrot und Honig hingestellt, dazu einen Krug Wasser mit einem winzigen, betörend duftenden Tropfen Lindennektar. Das, wusste Rowarn, würde ihm wohl am meisten fehlen – der Verzicht auf diese erlesenen Genüsse, die es nur hier gab. Dieser Krug Nektarwasser würde ihn auf Tage hinaus stärken und ihm Gesundheit verleihen. Die Muskelschmerzen waren bald vergessen, und Rowarn brach nach Madin auf, nachdem er alles bis auf den letzten Rest vertilgt und getrunken hatte.

Die Luft war sauber und frisch, das Feuer auf dem Feld an der anderen Seite der Stadt in der Nacht heruntergebrannt und gelöscht. Nach der Trauerzeremonie würde es keine äußeren Spuren der schrecklichen Ereignisse mehr geben.

Das normale Leben war in Madin bereits wieder eingekehrt, die Händler boten ihre Waren feil, Handwerker fertigten Schuhe, Schmuck und Gebrauchsgegenstände. Frauen hielten ihr Schwätzchen, wenn sie sich auf der Straße begegneten, und Kinder liefen spielend durch die Gassen.

Vor und im Goldenen Baum wurde eifrig gearbeitet. Daru, dessen linker Arm in einer Schlinge steckte, beaufsichtigte alles und scheuchte die Leute umher. Er nickte Rowarn kurz zu, als er ihn erblickte, beachtete ihn aber nicht weiter. Doch für Rowarn war es mehr, als er je erwartet hätte.

Es war ein merkwürdiges Gefühl, plötzlich so frei zu sein. Er brauchte sich keine Gedanken mehr zu machen, was die anderen über ihn dachten, und er musste sich auch nicht unsichtbar geben, um Ärger zu vermeiden. Der Kampf gegen die Grimwari hatte alles verändert.

Und nicht nur für ihn, wie er bald darauf verwirrt feststellte, als er Rayem begegnete. Er hätte ihn beinahe nicht wiedererkannt. Dies war nicht der aggressive, nörgelnde Bruder von Anini, grobschlächtig und stumpf, mit dem er in der Kindheit nicht selten gerauft hatte. Sein Schritt war federnd, seine Augen hatten Glanz gewonnen, und er nahm seine Umgebung aufmerksam wahr. Er trug auch nicht mehr die üblichen schlampigen Sachen und die ewig blutige Schürze.

»Tag, Rowarn«, sagte er und deutete mit dem Daumen über seine Schulter. »Der Fürst sitzt hinten in der Nische. Ein Bier?«

»Ja, danke«, erwiderte Rowarn verdutzt. Das war überhaupt noch nie vorgekommen.

Rayem verschwand hinter dem Tresen, wo seine Mutter Hallim stand und Bier zapfte. Auch sie war völlig verändert. Einige Zeit hatte es so ausgesehen, als würde sie den Tod von Anini nicht lange überleben, aber nun war sie wie ausgewechselt. Sie lächelte und winkte Rowarn zu.

»Nun, junger Freund, dein Gesicht verrät einiges Staunen!«, bemerkte Olrig, als Rowarn an den Tisch trat, wo der Fürst, der Zwerg, Morwen und noch ein oder zwei von der Schar saßen. Morwen zwinkerte kurz, wandte sich dann aber wieder den Soldaten zu. Olrig lächelte Rowarn an, rückte ein wenig zur Seite und wies einladend auf den geschaffenen Platz zwischen sich und Noïrun.

»Alles hat sich verändert«, entgegnete Rowarn, während er sich setzte und sein Bier von Rayem in Empfang nahm. »Ich erkenne nichts mehr wieder.«

»Ja, es hat einiges bewirkt«, stimmte der Kriegskönig zu. »Eigenartig, nicht wahr? So furchtbare, grausame Geschöpfe haben etwas zum Guten gewendet und die Menschen darauf aufmerksam gemacht, dass mehr in ihnen steckt und jeder Tag es wert ist, aufmerksam begangen zu werden.« Er stieß mit Rowarn an. »Umso mehr bewundere ich dich für deine mutige Entscheidung gestern, für Grimwar einzustehen. Du hast da etwas erkannt, was viele Weise manchmal nie herausfinden.«

»Sie sind anders als wir«, murmelte Rowarn. »Für Grimwar war es keine grausame Handlung, sondern etwas, das zu seinem Leben gehörte. Viele Alte Völker haben so oder ähnlich gelebt, bevor die Menschen und auch die Zwerge auftraten. Sie sehen die Dinge anders als wir, sie bewerten sie anders, und sie ... denken anders als wir.«

»Die Lehren deiner Muhmen sind auf fruchtbaren Boden gefallen«, bemerkte Olrig anerkennend.

»Das haben wir bereits bei unserer ersten Begegnung festgestellt«, sprach der Fürst, der bis dahin schweigend dagesessen hatte. Er wandte sich Rowarn zu. »Wie geht es dir?«

»Ausgezeichnet, Herr«, konnte Rowarn ehrlich antworten. »Die Heilkünste meiner ehrenwerten Mutter sind unübertrefflich. Wann werden wir morgen aufbrechen?«

»Du bist also weiterhin fest entschlossen?«

»Ja, Herr, wenn Ihr mich in Eure Dienste nehmen wollt.«

Noïrun lächelte. »Was für eine Frage. Aber sag mir, junger Rowarn, was genau ist der Grund für diese Entscheidung?«

»Wir hatten einen Handel vereinbart«, antwortete Rowarn verunsichert.

»Von dem ich dich gestern entbunden habe, was du sehr wohl begriffen hast. Also weiche mir nicht aus.«

»Es sind eine Menge Gründe, edler Herr. Und hier gehöre ich nicht mehr her. Ich will Euch folgen. Ich will wissen, was für eine Welt dort draußen ist, und was mit ihr geschieht. Und ... ich will nach mei…meinen Eltern suchen.«

»Das sollte uns genügen, meinst du nicht, Noïrun?«, mischte sich Olrig ein.

Über den brennenden Wunsch nach Rache, der ihn vor allem vorantrieb, wollte Rowarn nicht reden. 

Der Fürst verzog keine Miene. Rowarn war sicher, dass er seine Zweifel hatte, doch er akzeptierte. »Du wirst mir dienen«, sagte Noïrun ernst, »als mein Knappe. Und ich werde dich im Kriegshandwerk ausbilden. Du hast gestern gezeigt, dass du Mut und Talent dafür hast, und wir können jede Verstärkung brauchen. Wenn es an der Zeit ist, wirst du dich entscheiden, ob du in die Dienste von Ardig Hall treten willst. Deinen Eid wirst du dem Heermeister leisten und daran gebunden sein, bis dieser Krieg um den verlorenen Splitter beendet ist. Es wird eine lange Reise, und wahrscheinlich wirst du deine Entscheidung oft bereuen.«

»Nein«, widersprach Rowarn nachdrücklich. »Das werde ich nicht. Ich bin nicht wankelmütig, und ich stehe zu dem, was ich wähle. Und ich stehe treu zu Euch und Olrig, Herr, nichts anderes wünsche ich mir.«

Der Zwerg brummte in seinen Bart: »Wohl gesprochen.«

»Vertrauen gegen Vertrauen.« Fürst Noïrun hielt ihm die Hand hin. »Sei willkommen in meiner Schar und in meinem Dienst.«



Den Rest des Tages nahm Olrig Rowarn unter seine Fittiche und klärte ihn über seine Pflichten auf. Rowarn war auch dabei, als der Fürst die neuen Rekruten aufstellen ließ und jeden genau anschaute und befragte. Er nahm nicht alle, einige schickte er wieder fort.

Rowarn war verblüfft, als er plötzlich Rayem in der Reihe entdeckte. »Was denn ...«, begann er.

»Gestern ist irgendwas mit mir passiert«, brummte Aninis Bruder. »Meine Sachen passen mir nicht mehr, und ich habe keine Lust, noch länger Hühner zu erwürgen und Federn zu rupfen. Das ist alles nur deine Schuld!«

»Wessen auch sonst.« Rowarn grinste. »Du weißt hoffentlich, worauf du dich einlässt?«

»Ich bleibe so lange dabei, bis der Fürst sich endlich meinen Namen merkt«, sagte Rayem störrisch.

»Und was ist mit deinen Eltern? Werden sie nicht sehr traurig sein, auch das zweite Kind zu verlieren? Immerhin solltest du das Gasthaus erben.«

»Die schaffen das auch ohne mich, und soweit ich weiß, laufen noch ein oder zwei jüngere Halbbrüder von mir in Madin herum, die sozusagen zur Familie gehören.«

Rowarn pfiff leise. Natürlich hatte er solche Gerüchte über Rayems Vater gehört. Diese Art Geschwätz drang stets noch bis in die entferntesten und abgelegensten Winkel vor, ungehindert und unaufhaltsam wie der Steuereintreiber des Stadtrats von Madin. »Es stimmt also doch ...«

»Klar.« Rayem zeigte die Zähne. »Wie auch immer, ich glaube, meine Eltern sind sogar ein bisschen stolz auf mich. Der Fürst hat ihnen gestern ziemlich imponiert. Na ja, vorausgesetzt natürlich, dass er mich nimmt.«

»Das wird er, keine Sorge«, ertönte Olrigs Stimme, der gerade hinzukam. »Kräftige, gesunde junge Kerle wie dich können wir immer brauchen, solange sie willig und gehorsam sind. Und wenn du mit dem Schwert so umgehen kannst wie mit der Sense, wirst du den Feind das Fürchten lehren.«

Was für ein interessanter Tag, dachte Rowarn vergnügt bei sich. Er freute sich tatsächlich, dass Rayem mitkam, dann ließ er die Heimat nicht ganz zurück.

»Geh besser nicht zu spät nach Hause«, sagte Morwen in diesem Augenblick hinter Rowarn. »Du wirst sehr lange nicht mehr zurückkehren, und nichts ist schlimmer als ein unvollendeter Abschied.«

Das weckte wiederum das schlechte Gewissen, und Rowarn befand sich vollends im Zwiespalt seiner Gefühle. »Ja. Ein paar Sachen muss ich auch noch packen. Das heißt, wenn ich gehen darf, Herr Olrig.«

»Natürlich, wir sind so weit fertig. Morgen holen wir dich ab.« Der Zwergenkönig nickte ihm kurz zu und wandte sich dann wieder an die Rekruten.

Morwen hielt plötzlich Rowarns Arm fest, und er spürte den festen Griff ihrer kräftigen Finger. Sie trat dicht an ihn heran und sagte leise: »Du stehst immer mindestens einen Schritt seitlich hinter dem Fürsten, niemals als Gleichgestellter neben ihm, das ist die erste wichtige Regel.«

»Verstanden«, erwiderte er.

»Auf der rechten Seite. Merke dir das gut! Noïrun ist Rechtshänder, diese Seite muss nicht geschützt werden. Der Ehrenplatz ist deshalb an seiner linken Seite, wo immer Olrig neben ihm steht. Und wenn ich dabei bin, gibt es noch eine zweite Regel: Du stehst einen Schritt seitlich hinter mir, und zwar rechts von mir.« Ihre Stimme nahm einen eindringlichen und scharfen Tonfall an. Rowarn hatte richtig vermutet, dass sie auch sehr energisch werden konnte. 

»Egal, wie viele Vertraute und Befehlshaber um ihn sind«, fuhr Morwen fort, »dein Platz ist immer an der letzten Stelle rechts, einen Schritt dahinter. Wenn du das beherzigst, kommen wir uns nicht ins Gehege, und du wirst auch mit den anderen keinen Ärger kriegen. Ansonsten wird es nicht nur in der üblichen Weise schwer für dich, Kleiner. Sondern sehr schwer. Auch wenn du des Fürsten persönlicher Knappe sein magst, oder vielmehr gerade deswegen, musst du dir unsere Anerkennung erst verdienen. Vor allem die der Garde, zu der auch ich gehöre – was eine große Ehre für uns ist, für die wir hart gearbeitet und gekämpft haben!«

»Glaubst du, ich will dir deinen Rang streitig machen, von dem ich bisher überhaupt keine Ahnung hatte, von allem anderen mal ganz abgesehen?«, gab sich Rowarn mutiger, als er in diesem Moment war.

»Ich glaube gar nichts«, sagte Morwen kühl. »Ich will dir nur einen guten Rat geben. Dass du jetzt bei uns bist, ändert alles, vor allem unser bisheriges Verhältnis. Und von Rang kann bei dir keine Rede sein, du hast keinen. Du fängst ganz unten an, genau wie die Rekruten, nur mit dem Unterschied, dass du vom Fürsten persönlich gefördert wirst und damit unter ständiger Beobachtung stehst. Also mach besser keine Fehler.«

Rowarn schluckte. »Verstanden«, wiederholte er.

»Gut.« Sie ließ ihn los. »Bis morgen.« Brüsk drehte sie sich um und ließ ihn stehen.



Dies waren also die letzten Stunden in Freiheit. Rowarn stromerte durch die Gassen von Madin, und dann langsam über die allmählich trocknenden Wiesen, durch den Wald und am See vorbei nach Weideling. Im Stillen nahm er Abschied von allem, in melancholischer Vorfreude auf das, was vor ihm liegen mochte.

Er genoss dieses schmerzliche Gefühl, das sein Herz in zwei Teile zu zerreißen schien. Er dehnte es aus, indem er möglichst lange an seinen Lieblingsplätzen verweilte und sich in Gedanken an seinen Erinnerungen ergötzte.

Als er an der Königsweide eintraf, machte sich die Sonne bereits auf den Weg hinter den Horizont und seine Muhmen waren zu Hause.

Schneemond hatte alle Lieblingsspeisen zubereitet, die zu dieser Jahreszeit schon möglich waren – eine scharfe Wurzel-Kräutersuppe mit kandiertem Ingwer und Süßgemüse, dazu Würzfladen mit aromatischem Herbstsirup und noch vieles mehr. Rowarn hatte geglaubt, nichts hinunterbringen zu können, aber diesen lockend duftenden Versuchungen konnte er nicht widerstehen. 

Während er voller Genuss zugriff, erzählte er von seinem Tag, und unter Gelächter auch von Rayem. Die launige Stimmung des Nachmittags setzte sich fort, und sie redeten viel, lachten und waren manchmal auch schwermütig. Es war ein langer Abschied. Schließlich ging Rowarn satt, mit gleichermaßen vollem Magen wie Kopf, zu Bett.

Er schlummerte schon eine Weile, als ihn plötzlich ein leises Klappern störte und seinen Traum durcheinanderbrachte. Also entschloss er sich, aufzuwachen. Und lauschte in die Dunkelheit.

Da war es wieder, ein feines Knistern und Trommeln ... am Fenster! Rowarn spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Er verließ das Bett und schlich zum Fenster. Wieder dieses Prasseln – und nun wusste er es genau: Kieselsteinchen. Jemand wollte seine Aufmerksamkeit erregen, aber keinesfalls die der Velerii!

Niemand, der Böses im Sinn hatte, würde sich auf diese Weise anmelden. Außerdem war Weideling gegen solche Angriffe geschützt. Rowarn öffnete das Fenster und schaute hinaus, als ein Kieselhagel auf ihn niederprasselte.

»Autsch, verdammt!«, fluchte er. Er schüttelte die Haare mit den Händen aus und wischte sich die Stirn.

»Sch-scht!«, zischte es zurück. »Willst du deine Eltern aufwecken?«

Rowarn blinzelte und rieb sich die immer noch schlafmüden Augen. Zwei Gestalten standen draußen im Blättervorhang, von vereinzelten Strahlen der wachsenden Mondsichel angeleuchtet. Rubin, die Tochter des Köhlers, und Malani, die Tochter des Fischers.

Die beiden Mädchen winkten ihn eifrig zu sich. Rowarn biss sich auf die Unterlippe. Was konnten sie von ihm wollen – zu dieser Stunde, und alle beide? Sie gestikulierten und formten lautlose Worte, ohne einen Schritt näherzukommen. Er konnte es nur herausfinden, indem er nach draußen ging. Nach kurzem Zögern öffnete Rowarn die Fensterflügel weit, zog sich rasch Hemd und Hose über, schlüpfte in die halblangen, weichen Lederstiefel und sprang hinaus.

Die beiden Mädchen erwarteten ihn hinter dem Laubvorhang, mit den Schatten verschmolzen und für die meisten erst aus unmittelbarer Nähe erkennbar; aber Rowarn fand sie problemlos.

Die üppige, langmähnige Rubin mit den prächtigen Hüften, auf die sie ihre Hände stemmte, und die langbeinige, fast knabenhafte Malani mit den vollen Lippen und den Katzenaugen. Rowarn starrte sie an. »Was tut ihr denn hier?«, flüsterte er.

»Stimmt es, dass du fortgehst?«, fragte Malani.

Sie blickten ihn beide geradezu herausfordernd an.

Rowarn spürte seine Kehle eng werden. »Ja«, gestand er ohne Umschweife. Mehr hätte er sowieso nicht herausgebracht. 

»Und wie lange?«, forschte Malani weiter.

»Ich weiß es nicht.« Rowarn wand sich. Er wusste, er konnte ihnen nichts vormachen. »Wahrscheinlich Jahre.«

Langsam fragte Rubin: »Das heißt, du kehrst möglicherweise ... nie mehr wieder?«

Rowarn fühlte sich auf einmal elend. »Ich weiß es wirklich nicht. Es wird ... «

»Gefährlich?« Rubin holte Luft für eine Rede. Wenn sie erst mal in Fahrt gekommen war, war sie kaum mehr zu bremsen. Geschweige denn, dass sie irgendeine Unterbrechung oder Widerspruch zuließ. »Natürlich ist es gefährlich, warum sonst sollte ein junger Kerl, der das beste Leben der Welt führt, einfach abhauen! Aber hast du dir schon überlegt, dass so eine Hals-über-Kopf-Geschichte dein Leben verdammt kurz machen kann? Willst du das? Nein, das sehe ich dir doch an. Dann bleib hier!«

»Das geht nicht. Ich muss fort.«

»Du musst? Warum?«

»Eine ... persönliche Sache.«

»Ach ja?« Malani stellte sich vor ihn. »Dann erlaube uns, dir dazu eine persönliche Frage zu stellen.«

Rowarn schluckte hörbar. »Natürlich.«

»Schön.« Malani und Rubin wechselten Blicke. Die Fischerstochter fuhr fort: »Stimmt es, dass du mit Anini zusammen warst, in der Nacht, als sie starb? Und ich meine unzweideutig zusammen

Er wünschte sich, er hätte das Fenster nicht geöffnet. Er wünschte sich, er würde noch schlafen, tief und fest und unschuldig. »Ich ... ich ...«, fing er stotternd an, um Zeit zu schinden, auf der verzweifelten Suche nach einem Ausweg.

Doch da hatten sie ihm beide schon links und rechts jeweils eine schallende Ohrfeige verpasst. Er wagte ein leises »Au«, aber nicht mehr, und erst recht keine Bewegung.

»Mach uns nichts vor!«, zischte Malani. »Das Mondlicht ist für einen wie dich ausreichend, bei deiner hellen Haut kannst du nichts verbergen: Du bist rot wie ein Flusskrebs im heißen Wasser!«

Von den Ohrfeigen, dachte Rowarn verzweifelt, obwohl er genau wusste, dass das nur zum Teil stimmte, und er fürchtete sich vor den nächsten Backpfeifen.

»Mit einer aus der Stadt!«, fauchte Rubin. »Dass du dich nicht schämst!«

Das allerdings tat er nicht im Geringsten. »Hört mal, ich ...«, fing er an, kam jedoch wieder nicht weiter.

»Und jetzt willst du ohne Abschied verschwinden, vielleicht für immer, einfach so?«, schnappte Malani. »Nachdem wir alle miteinander aufgewachsen sind, du oft bei uns zu Gast warst? Sind wir denn keine Freunde?«

Er zog die Schultern hoch und versuchte, seinen Kopf dazwischen zu verstecken. »Das sind wir«, sagte er tief beschämt. »Bitte verzeiht ...«

Malani winkte ab. »Spar dir das, damit ist uns nicht gedient.«

Verblüfft riss Rowarn die Augen auf. Worauf wollten sie nur hinaus? »Aber ...« Doch in dieser Nacht sollte er wohl überhaupt keinen Satz mehr beenden.

Rubin bohrte ihren Zeigefinger in seine Brust. »So leicht kommst du uns nicht davon!«

Rowarn wurde blass. Er beschloss, alles mit sich geschehen zu lassen. Eine Wahl blieb ihm ohnehin nicht. So oder so machte er sich wahrscheinlich zum Gespött.

Jede von ihnen griff ohne weitere Erklärungen nach einer Hand, und sie zogen ihn mit sich, hinaus ins freie Land, auf der Nordseite den Hügel hinunter.

Nach ein paar zögernden, furchtsamen Schritten sah Rowarn, dass sie auf den lieblichen kleinen Weiher in der Senke unten zuhielten, direkt am nördlichen Ausläufer des Waldes. Ein Platz, an dem sie schon als Kinder am liebsten gespielt hatten. Endlich begriff er. Das Herz schlug ihm auf einmal bis zum Hals, und er ließ sich von nun an willig und in aufkeimender Vorfreude führen.



Am nächsten Morgen lag neue Kleidung vor Rowarns Tür: dunkelblaue Hosen, fast kniehohe Schnürstiefel, ein Gürtel mit Befestigungsmöglichkeiten für kleine Beutel und Waffen, ein graues Schnürhemd, ein blaugraues Wams und ein schwarzblauer Umhang mit Kapuze, der vorn von einer silbernen Schließe mit dem stilisierten Abbild eines Velerii geschlossen wurde.

Rowarns Herz wurde schwer und traurig, als er die Sachen anlegte. Sie passten perfekt, und er erkannte sich selbst kaum wieder, als er sich im Spiegel musterte. Er drehte sich um und betrachtete ein letztes Mal sein Zimmer, in dem sich im Lauf der Jahre eine Menge Dinge angesammelt hatten, die er als Kind gehortet und nie aussortiert hatte. Jedes einzelne Stück barg eine Erinnerung.

Kurz entschlossen öffnete er die Tür und trat in den Wohnraum, wo seine Eltern bereits mit dem Morgenmahl auf ihn warteten.

»Guten Morgen«, sagte er scheu, als sie aufblickten. »Die ... Sachen sind wunderschön. Vielen Dank ...«

»Ich hatte sie ursprünglich für nächstes Jahr zu deinem einundzwanzigsten Geburtstag geplant«, erklärte Schneemond. »Nun ist der Moment eben etwas früher gekommen.«

»Es ist immer ein besonderer Augenblick, wenn ein Fohlen selbstständig wird«, sagte Schattenläufer feierlich.

Sie nahmen die Mahlzeit in ausgeglichener Laune und lebhafter Unterhaltung zu sich. Der Abschied war bereits vollendet, es gab nichts mehr zu sagen.

Als der Fürst und der Kriegskönig eintrafen, war Rowarn bereit für die Abreise. Schattenläufer hatte ihm Windstürmer geschenkt, einen starken, lebhaften jungen Falben mit Stehmähne und schwarzem Aalstrich, den der junge Nauraka mit aufgezogen und ausgebildet hatte.

»Grüße aus Madin«, sagte Olrig. »Man war sehr erleichtert über unseren Aufbruch und bedauerte daher ganz besonders laut unsere Abreise, und natürlich auch deine, Rowarn. Wenn du bereit bist, lass uns losreiten. Die Schar erwartet uns bereits an der Wegkreuzung.«

Rowarn nickte. Er schwang sich auf Windstürmer, und Olrig fragte verdutzt: »Kein Sattel, kein Zaumzeug?«

»Wozu sollte das gut sein?«, gab Rowarn erstaunt zurück. Normalerweise ritt er auf dem blanken Rücken, aber bei der weiten Reise brauchte er noch Ausrüstung. Deswegen war eine Schabracke mit einem Riemen befestigt, an dem außerdem eine Schlafdecke, Ersatzkleidung und ein kleiner Beutel mit Vorräten und Heilmitteln hingen.

Die Velerii amüsierten sich über den erstaunten Zwerg, der schließlich einsah, dass jemand, der bei Pferdmenschen aufgewachsen war, wahrscheinlich seit dem zartesten Alter auf einem Pferderücken ausharren konnte, dass er fest verwachsen schien, und den Umgang mit den Tieren in Perfektion beherrschte.

Sie winkten zum Abschied. Rowarn blickte nicht zurück.



Olrig, der an Rowarns Seite ritt, musterte ihn kritisch. »Du siehst reichlich übernächtigt aus, Baumäffchen.«

»Könnt Ihr Euch vorstellen, dass ich keine besonders gute Nacht hatte?«, meinte Rowarn.

»Sieht mir eher nach einer viel zu guten Nacht aus, die jede Menge Kräfte erforderte«, bemerkte Olrig und lachte brüllend über Rowarns verlegenes Gesicht. »Recht so, mein Junge, immer das Beste draus machen und den Abschied so leicht wie möglich.«

So leicht war es gar nicht gewesen. Die Mädchen hatten geweint, als er bei nahender Dämmerung plötzlich erschrocken aufgesprungen war. Da blieb nur noch Zeit für eine letzte, hastige Umarmung und ein tröstendes Wort. Aber was sollte er auch viel sagen? Sie mussten sich trennen, er konnte nicht bleiben. Sie rannten mit ihm bis zum letzten Hügel vor Weideling, und dort hatten sie noch lange gestanden und ihm nachgewunken, bis er den Laubvorhang schon fast erreicht hatte. 

Obwohl er es nicht wollte, hatte er sich noch einmal umgedreht, und es hatte ihm fast das Herz zerrissen, ihre schmalen Silhouetten gegen den ersten Morgendämmer zu sehen, wie ängstliche Kinder Hand in Hand.

»Gibt es denn einen leichten Abschied?«, fragte Rowarn den Zwerg.

»Natürlich nicht. Sonst würde man sich gar nicht erst verabschieden«, meinte Olrig gutmütig.

Das leuchtete Rowarn ein. »Und für wen ist es leichter?«

»Für den, der geht, gewiss. Auf ihn wartet Veränderung. Wer zurückbleibt, findet überall nur Lücken im Vertrauten, die er schwer auffüllen kann.«

Noïrun zügelte seinen Hengst und kam an die andere Seite von Rowarn. »Hatten deine Muhmen eigentlich auch eigene Kinder?«

»Nicht hier in Inniu«, antwortete er. »Aber sie erzählten mir, dass sie früher einige Fohlen aufgezogen hätten, zu denen sie keinen Kontakt mehr haben. Es ist bei den Velerii nicht üblich, Familienbande allzu eng zu halten, sobald der Nachwuchs erwachsen ist.«

»Vielleicht werden sie die Lücke, die du hinterlässt, trotzdem auffüllen wollen«, meinte der Fürst nachdenklich.

»Sprichst du da von Rowarns oder deiner Familie?«, meinte Olrig boshaft.

»Nicht so wichtig«, winkte Noïrun ab. »Lasst uns etwas Geschwindigkeit zulegen, die Schar wartet.«