Kapitel 3

Letzte der Nauraka


Dies war immer ein besonders schöner Moment, der Rowarn stets noch aus der tiefsten Niedergeschlagenheit riss. Behutsam öffnete er den Laubvorhang, der schwer mit weißen, süß und sinnlich duftenden Blüten besetzt war. Tausende Bienen, Hummeln und Schillervögelchen schwirrten zwischen den Blüten herum und schlürften gierig den kostbaren Nektar – einem der wenigen Schätze Innius, von dem vor allem Heiler und Magier wussten, aber auch Kurpfuscher und Fälscher. 

Reiner Nektar wurde nach Tropfen bezahlt, der Honig nach Fingerhüten. Das Blütenöl der Königsweide wurde nach Federgewicht bemessen. Es gab kein stärkeres Heilmittel, und man konnte es bei nahezu allen Krankheiten und Verwundungen einsetzen sowie zur Verstärkung von Magie. Die Königsweide war Lúvenors heiliger Baum, sein Geschenk an Waldsee. Auf der ganzen Welt gab es wahrscheinlich nur noch zwanzig Stück, und jeder einzelne Baum wurde von einem Wächter aus einem der Alten Völker gut behütet und vor den Augen anderer verborgen.

Seit Rowarn dies wusste, hatte er jedes Mal ein Gefühl von Erhabenheit und Stolz, wenn er Weideling betrat. Stolz, auserwählt zu sein, hier im Schutz des Baumes leben zu dürfen, so nahe dem alten Schöpfergott. Er hatte angenommen, dass die Königsweide seine Schuld erkennen und ihm keinen Zutritt mehr erlauben würde, oder auf irgendeine andere Weise ihre Ablehnung zeigte. Doch das war bisher nicht geschehen. Und das war eine Hoffnung, an die er sich trotz aller Selbstzweifel nach dem schrecklichen Mord an Anini klammerte.

Er atmete tief durch, als er den Vorhang durchschritt, den weichen Moosteppich unter den Stiefeln fühlte.

»D-diese Stechviecher da«, begann Olrig misstrauisch hinter ihm, und Rowarn lachte leise.

»Geht einfach nur hindurch, schlagt nicht um Euch und verharrt nicht, dann wird Euch nichts geschehen. Die Stechviecher, wie Ihr sie nennt, wollen süßen Honigseim, keinen strohigen grauen Bart, der vor Trockenheit knistert.«

»Bist ein mutiger Junge, so mit mir zu reden«, brummte Olrig, aber seine Stimme klang eher amüsiert als gereizt.

»Und du bist ein kluger Mann, wenn du diesmal auf ihn hörst«, meinte Fürst Noïrun.

Da erreichten sie bereits den Vorplatz, wo Rowarn die beiden Männer anwies, ihre Stiefel zu reinigen. Sie brauchten eine Weile, denn sie betrachteten fasziniert die beiden Velerii, die geschickt ihre Hufe auskratzten.

Schattenläufer öffnete die Tür und ließ Schneemond vor sich eintreten. Sie zogen die Köpfe ein, und die Menschen folgten eilig nach.

Drinnen sahen sich die Gäste staunend um, denn auch da war es grün gesprenkelt mit Blättern, hell wie in einem lichten Wald und angenehm warm. Sie standen auf dem fest gestampften Boden eines großen Wohnraums, der zugleich eine Kochstelle mit Kamin barg. Zwei große Halbliegen, mit dunkelgrünem Samt bezogen, standen an einer Wand, daneben ein sehr niedriger, im selben Stoff bezogener Sessel. 

Auf einem kaum eine Handspanne hohen Tisch standen edle Porzellanschalen mit Trockenfrüchten, Nüssen und getrockneten Pilzen mit Kräutern. In Kandelabern an den Wänden und auf dem Tisch steckten Kerzen aus Bienenwachs. Fein geschnitzte, liebevoll bis ins Detail ausgearbeitete, lebensechte Holzfiguren standen überall herum, auf dem Boden oder auf Podesten, von klein bis fast lebensgroß: Drachen, Einhörner, Kometenrösser und Flammenmähren, Panther, Sternwölfe, Echsen und Schlangen, aber auch mystische Gestalten, Götter, Unsterbliche, und einige Symbole des Träumenden Universums, die Kurzlebigen kaum bekannt waren.

Die beiden Krieger waren voller Bewunderung, während sie die Figuren betrachteten. »Wer beherrscht diese große Kunst?«, fragte Olrig fast andächtig.

Schattenläufer lächelte. »Lebt man lange genug, lernt man das eine oder andere«, gab er sich zu erkennen.

Fürst Noïrun strich sacht über die anmutige weibliche Gestalt eines Sternenkindes, die trotz des schweren Holzes ätherisch wirkte. »Ich habe schon solche Figuren auf meinen Reisen gesehen«, bekannte er. »In den Thronhallen von Burgen und Schlössern, mit Ketten gesichert.«

»Ersatz ist schnell beschafft«, meinte der Pferdmann leichthin. »Es sind nur Figuren, mehr nicht.«

»Hohe Kunst ist das!«, schnaubte Olrig. »Perfekt und wunderschön. Ihr braucht nicht bescheiden zu sein, edler Schattenläufer! Ich bin sicher, andere verdienen ihr Auskommen allein durch den Handel mit Euren Werken.«

Rowarns Muhme lachte, während er zwei dicke Sitzteppiche am Tisch verteilte. »Wir haben leider nur einen Sessel, aber ich bin sicher, ihr werdet es auch so bequem haben.«

Schon wieder staunten die Gäste und betrachteten ausgiebig die Teppiche. Diese waren auf der Oberseite mit Seide fein geknüpft und glänzend, an der angefügten Unterseite aber mit Flachs oder Wolle weich geknotet. Die Oberseite zeigte farbenfrohe, ineinander verschlungene, mystisch anmutende Muster.

»Das ist doch zu schade zum Sitzen!«, protestierte Olrig.

Nun war es an Schneemond, zu lachen. »Sie halten eine Menge aus, denn sie sind aus feiner Spinnenseide, nahezu unzerstörbar, und selbst die Farben bleichen kaum. Macht euch keine Umstände, ihr Herren, diese Teppiche werden von mir geknüpft, und ich habe stapelweise davon. Auf Bestellung von Adligen fertige ich auch Wandbehänge mit Szenen aus Legenden. Solche Werke erachte ich durchaus selbst als wertvoll. Doch diese hier sind nur für den Gebrauch gedacht.«

»Haben die Muster eine magische Bedeutung?«, fragte Noïrun. Er versuchte, sich auf einem Sitzteppich niederzulassen, stellte fest, dass ihm das Schwert dabei im Weg war, und sprang beschämt wieder auf. »Olrig, wo bleiben unsere Manieren! Wir sind in voller Bewaffnung hier hereingetrampelt, wie Soldatentölpel niedersten Ranges, die nie eine gute Erziehung genossen haben!«

Der Kriegskönig reagierte ähnlich hastig und murmelte eine Entschuldigung. Dann legten sie ihre gesamte Bewaffnung neben der Eingangstür ab.

»Macht euch keine Gedanken, wir fühlen uns nicht beleidigt«, beruhigte Schneemond die Gäste. »Um Eure Frage zu beantworten, Fürst Noïrun: Diese Muster gefallen mir, das ist alles. Keine weitere Bedeutung.«

Endlich saßen sie und ließen sich zwei Kelche mit gewürztem Honigwein reichen. Schattenläufer verteilte noch drei weitere Kelche und setzte den vollen Krug ab, bevor er sich auf seiner Liege niederließ und den Oberkörper anlehnte. Er hob seinen Pokal. »Auf eure Gesundheit.«

»Auf unsere Gastgeber«, antworteten Noïrun und Olrig im Chor und tranken. Zuerst vorsichtig, dann mit zunehmender Begeisterung.

»Bevor wir zum Grund eurer Anwesenheit kommen«, begann Schattenläufer, »sollten wir zuerst die Frage eurer Unterkunft regeln.« Er wies auf Schneemond. »Meine Gemahlin begleitet Euch nachher nach Madin, geehrter Fürst, ehrenwerter Kriegskönig, wo Ihr und Eure Männer ein Euch genehmes Gasthaus finden werdet. Dort erhaltet Ihr auch die Speisen, die Ihr vermutlich bevorzugt.«

»Offen gestanden, gegen einen knusprigen Braten wäre nichts einzuwenden«, bemerkte Olrig und griff zuerst in die Schale mit den Trockenfrüchten, dann zu den Nüssen. »Dies sind wahrhaftig wundervolle Genüsse, aber ein Zwerg braucht hin und wieder etwas Deftiges.«

Schneemond lächelte. »Dann werdet ihr in Madin gut aufgehoben sein. Dort wissen sie eine ausgezeichnete Küche zu schätzen und geben sich entsprechend Mühe.« 

Der Zwerg probierte nun auch von den Kräuterpilzen und wandte sich Rowarn zu, der in seinem Sessel hockte. »Wie hältst du das aus, Junge?«, fragte er unverblümt.

Rowarn errötete leicht. Über das Essen zu sprechen, war für ihn eine Art Tabu. Er wusste, dass seine Eltern niemals etwas vom Tier zu sich nahmen, was es auch sein mochte. Trotzdem brachten sie ungewöhnliche, erlesene Sachen auf den Tisch, sodass er weder Mangel an Abwechslung litt noch eine Einbuße an Geschmack hinnehmen musste. Aber manchmal überkam es ihn eben doch, und dann gelüstete es ihn vor allem nach Fisch. Wenn es soweit war, bat er um Erlaubnis, ein oder zwei Tage beim Fischer oder Köhler verbringen und dort übernachten zu dürfen, bis er seinen Heißhunger gestillt hatte. Im Gegenzug half er dort bei der Arbeit, doch war er bei den einsam gelegenen Nachbarn auch so stets willkommen.

»Er lebt seinen Bedürfnissen entsprechend«, antwortete Schneemond ruhig an seiner Stelle.

»Ich meine ja nur, weil er doch ziemlich hochgewachsen ist, wenngleich von etwas schmaler Statur«, meinte Olrig munter kauend und spülte mit Honigwein nach.

Fürst Noïrun, offensichtlich peinlich berührt, schwenkte zum Thema zurück: »Ich komme selbstverständlich für mich und meine Leute auf.«

Schneemond lachte. »Ich denke, das Verhandeln übernehme besser ich, mein lieber Fürst. Inniu mag ein abgelegenes Tal sein, aber die Bürger von Madin wissen sehr wohl die klingende Münze zu schätzen.«

Schattenläufer wandte sich an Noïrun. »Erklärt Ihr mir Euren Beinamen, Fürst Ohneland?«

»Aber natürlich«, antwortete der Adlige. »Ich stamme aus dem Fürstentum Lingvern, fast an der Grenze zu Dalim gelegen. Vor etwa sechs Jahren begab es sich, dass die Truppe eines unbedeutenden Burgherrn aus Dalim mein Fürstentum überfiel. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich völlig überrumpelt wurde und mein Schloss schneller verlor, als ich es überhaupt begreifen konnte. Diese Bande war sehr gut organisiert und hatte alles von langer Hand geplant, und ich war ahnungslos. Mir blieb nur die Flucht. Von der Fremde aus habe ich versucht, mein Land zurückzubekommen. Aber bisher scheiterte das am Truppenaufwand und dem Gold, das ich dafür benötige.«

»Also hat der Fürst sich in den Dienst des Heermeisters von Ardig Hall gestellt und leistet gute Arbeit«, bemerkte Olrig, dem der Honigwein offensichtlich ausgezeichnet schmeckte. Er schenkte sich gerade zum dritten Mal nach, und seine Nasenspitze bekam einen rosigen Schimmer.

Da war es wieder, dieses Wort: Ardig Hall. Rowarn, der alles still beobachtete, sah deutlich, wie seine Eltern ein zweites Mal zusammenzuckten. Und er erinnerte sich an die Worte des Fürsten bei der Begrüßung, dass er keine guten Nachrichten brachte. Also ahnten sie bereits, worum es sich handelte. Wahrscheinlich konnten sie es wittern.

Schattenläufer schüttelte seine Mähne. »Dann sollten wir zum Grund Eurer Anwesenheit kommen.«

Noïrun nickte. Olrig deutete mit dem Daumen auf Rowarn. »Darf er es hören?«

»Er muss es hören«, antwortete Schneemond.

Rowarns Herz pochte plötzlich laut und heftig.



Das Gesicht von Fürst Noïrun verdüsterte sich. Auch aus Olrigs Augen war jede Heiterkeit gewichen, und er saß still, den Blick auf seinen Kelch gerichtet. »Ich wurde mit der Last einer schlechten Nachricht ausgesandt«, begann der Fürst in förmlichem Tonfall. »In Valia herrscht Krieg. Femris ist zurückgekehrt.«

Schneemonds Hand fuhr vor den Mund. Ihre bernsteinfarbenen Augen waren weit geöffnet, und Rowarn sah Entsetzen darin, zum ersten Mal, so lange er sich erinnern konnte.

»Femris«, stieß Schattenläufer zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Wir glaubten ihn endlich überwunden, nachdem er so lange Ruhe bewahrte.«

»Der Unsterbliche ist von seiner Burg Dubhan, der Schattenlosen, aus mit seinem Heer nach Ardig Hall marschiert, und seitdem kämpfen wir.« Müdigkeit zeichnete sich auf Noïruns Gesicht. »Seit nahezu einem Jahr.«

»Aber warum? Wie kann er ...«, flüsterte Schneemond, ohne den Satz zu Ende zu führen.

Olrig kratzte sich den Bart. »In den Freien Häusern spricht man davon, dass der Ewige Krieg sich dem Höhepunkt nähert und es bald eine Entscheidung geben wird. Es geht um Regenbogen und Finsternis, ehrenwerte Schneemond, letztendlich geht es immer nur darum. Beide Mächte haben sich dazu entschlossen, Waldsee zu ihrer jeweiligen Bastion zu machen. Wer diese Welt besitzt, hat den Sieg in der Tasche.«

»Unter den Göttern Waldsees ist ebenfalls Krieg ausgebrochen«, fuhr der Fürst fort. »Sie haben Fronten errichtet, es gibt keine Einigung mehr, und die Übereinkunft des friedlichen Miteinanders gilt nicht länger.«

»Wo ist Lúvenor, Schützer von Waldsee, der dies zur Bedingung machte, dass andere Götter und Völker sich hier niederlassen dürfen?«, fragte Schattenläufer.

Rowarn wunderte sich über diese Frage, denn Weideling war der Heilige Baum des Schöpfergottes. Sein Muhme müsste die Antwort besser kennen als jeder andere.

»Wenn selbst Ihr es nicht wisst …«, sagte der Kriegskönig prompt. »Wir hatten uns von Euch eine Antwort erhofft. Auch in den Freien Häusern ist nichts über seinen Verbleib bekannt. Es steht fest: Wer den Sieg über Valia erringt, der erringt den Sieg über ganz Waldsee, und dann wird diese Welt untergehen, egal zu welcher Seite sie gehören wird. All das, wofür sie seit Äonen stand, wird verloren sein, und mit ihr alle mächtigen Artefakte, die hier ruhen.«

»Das Träumende Universum ist in Gefahr, wenn das Gleichgewicht so sehr gestört wird«, flüsterte Schneemond. »Die Schlafende Schlange wird erwachen ...«

Ein kurzer Moment bedrückter Stille folgte. Niemand regte sich. Das Licht wanderte langsam die linke Hausseite hinunter. Draußen zwitscherten und flatterten die Vögel, drinnen hingegen schien es dunkler geworden zu sein.

Noïrun sagte nach einer Weile: »Der Ewige Krieg findet nun auch auf Waldsee, in Valia statt, denn unser Feind Femris kämpft für die Finsternis, und er ist auf der Suche nach Macht. Wir haben unser Bestes getan, ehrenwerte Velerii, aber Ardig Hall ist gefallen, und Königin Ylwa mit ihm.«

Rowarn sah, wie sein Vater den Atem anhielt, und wie Tränen in die Augen seiner Mutter schossen. So hatte er seine Muhmen noch nie erlebt, und mehr und mehr fürchtete er sich.

»Ylwa ... tot?«, stieß Schneemond erstickt hervor und machte keinen Versuch, die Tränen aufzuhalten, die über ihre Wangen rollten. »Das darf nicht wahr sein ... sie war die Letzte der Nauraka ... und meine herznahe Freundin ...«

»Wie ist das geschehen?«, fragte Schattenläufer gepresst.

»Wir kamen zu spät«, antwortete Fürst Noïrun rau. »Es heißt, dass es der Dämon Nachtfeuer gewesen sei. Ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln, denn Königin Ylwa war mächtig. Kein anderer hätte ihr so nahe kommen können und sie vor allem angreifen.«

»Nachtfeuer? Ich habe nie von ihm gehört«, sagte Schattenläufer.

»Von den meisten Dämonen hörten wir bisher wenig«, versetzte Olrig. »Femris hat sich einige verpflichtet, und diesen besonderen Auftrag soll wohl Nachtfeuer übernommen haben, obwohl ihn niemand gesehen hat. Es heißt, er verfüge über außergewöhnliche Kräfte.«

»Ein Zwielichtgänger«, stieß Schneemond hervor. »Das würde erklären, wie er Ardig Hall betreten konnte ...«

»Als wir davon hörten, haben wir das Schloss sofort gestürmt. Aber wir kamen zu spät«, berichtete der Fürst weiter. »Königin Ylwa atmete nicht mehr, wir fanden sie in ihrem Blut.«

Schattenläufer richtete sich auf. »Und das ist noch immer nicht alles, richtig?«

Sowohl Olrig als auch Noïrun schlugen die Augen nieder.

Schneemond sprang erregt auf, ihr rechter Vorderhuf donnerte auf den Boden. »Redet!«

Rowarn war jetzt so erschrocken und eingeschüchtert, dass er sich in seinen Sessel verkroch. Er kannte seine Muhmen nicht mehr wieder, und er fürchtete um die Sicherheit der Gäste. Aber er wusste nicht, was er tun sollte.

»Femris hat den dritten Splitter«, gestand der Fürst schließlich leise, mit gebrochener Stimme. »Die Schlacht um Ardig Hall ist noch nicht ganz beendet, verehrte Schneemond, denn wir haben seinen Abzug verhindert. Bisher konnten wir immerhin die Stellung halten, und derzeit belauern wir uns gegenseitig. Es kommt immer wieder zu kleinen Scharmützeln, doch keiner gewinnt einen Fußbreit Boden. Aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis Femris der Durchbruch gelingen wird. Und dann müssen wir bereit sein, ihm den Splitter abzunehmen.«

»Wann wird das sein?«

»Unserer Schätzung zufolge haben wir noch etwa ein halbes Jahr Frist, um ausreichend Verstärkung für die letzte Schlacht zu sammeln. Solange können wir uns in der jetzigen Aufstellung halten. Aber Femris bereitet sich natürlich ebenfalls vor.«

»Und das ist der nächste Grund für unsere Reise«, fuhr Olrig fort. »Boten wurden in alle Teile des Landes gesandt, um jeden verfügbaren Anhänger des Regenbogens herbeizurufen, der eine Waffe halten kann. Wir müssen den Splitter zurückerobern, und wir werden Femris ein für alle Mal vom Antlitz dieser Welt fegen.«

Noïrun nickte bekräftigend. »Es heißt, dass hier vor den Augen der Welt verborgen ein altes Kriegergeschlecht lebt, welches schon im ersten Kampf gegen Femris ruhmreich gekämpft hat und sich dann zurückzog, aber mit dem Versprechen, in der Zeit der größten Not zurückzukehren.«

Schneemond und Schattenläufer wechselten Blicke. Dann sagte der Pferdmann langsam: »Wir leben hier seit tausend Jahren, Fürst. Wir kennen jeden Baum, jedes Getier und jedes Wesen von Intelligenz in Inniu, und alle Geschichten. Ein Kriegergeschlecht, wie Ihr es beschreibt, hat es hier nie gegeben.«

Den beiden Gästen blieb der Mund offen stehen. Selbst der Vogellärm draußen war verstummt, als hätten es alle gehört und wären davon betroffen.

»Aber ... aber ...«, fing Olrig stotternd an. »Dann sind wir einem üblen Scherz aufgesessen?«

Schattenläufer schüttelte das schwere Haupt, dass seine Mähne flog. »Einem Märchen, werter Kriegskönig. Vermutlich von den ersten Menschen erfunden, die sich hier ansiedelten, um künftig sicher vor Räubern und Dieben zu sein und in Frieden zu leben.«

»Das kann ich nicht glauben«, flüsterte der Fürst niedergeschmettert. »Wir haben so sehr gehofft ...«

Schneemond kauerte sich wieder hin. »Es tut mir leid, edler Fürst, Euch eine solche Enttäuschung bereiten zu müssen.«

»Dann werden wir...«, setzte Olrig an, doch Noïrun unterbrach ihn:

»Nein! Dies ist nur ein Fehlschlag mehr, ein weiteres Hindernis auf unserem dornigen Weg. Aber deswegen geben wir nicht auf und haben noch lange nicht verloren! Unser Weg hätte uns auch ohne diese Legende hierher geführt. Ihr, die ehrenwerten Velerii, solltet unverzüglich und persönlich in Kenntnis über das Geschehen in Ardig Hall gesetzt werden. Das war Ylwas letzter Wille, von ihrer Leibdienerin in Form eines versiegelten Briefes an uns getragen.«

»Ihr habt wohl daran getan.« Schattenläufer beugte sich vor und goss Honigwein nach. 

Der düstere Augenblick war vorüber, erkannte Rowarn. Es wurde tatsächlich wieder heller im Raum, und die Vögel draußen setzten ihr Konzert fort. Durch das Fenster sah Rowarn die Insekten durch den Baum schwirren, Tausende winziger, bunter Punkte. Hinter dem lichten Laubvorhang, der spielerisch in der sanften Brise auf und zu schwang und abwechselnd Streifen goldenen Lichts durchließ, lagen die ausgedehnten, hügeligen Wiesen, wie ein Bild im Rahmen eingefasst von Alleen, Hainen und den Ausläufern des Waldes, dessen geschwungener Saum bis Madin reichte. 

Zu dieser Zeit zeigten sich viele Waldtiere ohne Scheu am helllichten Tag und genossen die Frühlingswärme auf ihrem Fell. Viele führten bereits Jungtiere, oder waren ins Liebesspiel versunken. Andere stürzten sich hungrig auf das fleißig sprießende, saftige Gras, die ersten Kräuter und Blumen. Raubtiere brauchten sie kaum zu fürchten, denn die waren mit dem eigenen Nachwuchs und der Werbung beschäftigt und fanden zumeist erst nachts ein paar Stunden zur Jagd.

Die Tiere dort draußen wussten nichts vom Ausbleiben des Weißen Falken und dem folgenden Unglück. Rowarn hegte keinen Zweifel mehr, dass dies alles zusammenhing. Einmal mehr hatte er ein schlechtes Gewissen, weil er seinen Muhmen so viel Kummer bereitete. Als ob es nichts anderes gäbe! Die Mitteilung vom Tod der Königin von Ardig Hall hatte sie beide tief getroffen. Bestimmt hätten sie es leichter verkraftet, wäre die Sache mit Anini nicht gewesen. Und Rowarn nicht darin verwickelt.

Er biss die Zähne zusammen und starrte auf den Tisch. Er lebte hier in diesem idyllischen Tal, und hinter den Bergen herrschten Krieg, Elend und Zerstörung. Unschuldige Menschenleben wurden vernichtet. War das Gerechtigkeit?

Gewiss nicht. Rowarn hätte gern mehr über das ihm völlig unbekannte Volk der Nauraka erfahren, dem die Königin angehört hatte, über die genaue Bedeutung von Ardig Hall und weshalb die Erwähnung des »dritten Splitters«, was auch immer das sein mochte, die Velerii in größte Aufregung versetzt hatte. Anscheinend vergaßen sie sogar ihren Kummer, nur weil dieser Femris, ein wohl seit langem erklärter Feind, ihn gestohlen hatte ... Aber noch stellte Rowarn keine Fragen, denn das gehörte sich zu diesem Zeitpunkt nicht. 

Jedenfalls stand eines fest: Sein Leben würde nie mehr dasselbe sein, seit Aninis Tod hatte es sich grundlegend geändert, und nun kam eine weitere Veränderung hinzu. Diese beiden Krieger hatten die Welt von draußen mit sich gebracht und Rowarn gezeigt, dass es da mehr, sehr viel mehr gab, und dass der Platz hier ihm bald zu eng werden würde.

Vorausgesetzt, er … war unschuldig. Und daran wollte Rowarn weiterhin glauben.

Schattenläufer erhob seinen schweren, muskulösen Körper mit jener unvergleichlichen Anmut, die Teil der Einzigartigkeit der Velerii war. Auch wenn Rowarn noch nicht viel von der Welt gesehen hatte, so war er sicher, dass diese Geschöpfe Lúvenors zu den vollkommensten der Welt gehörten, und dass sie einen Hauch seines Lichtes in ihrem glänzenden Fell mit sich trugen.

»Es ist von größter Bedeutung, dass Ihr die Botschaft gebracht habt«, sagte der Pferdmann. »Auch, wenn wir Euch wegen des alten Kriegergeschlechts enttäuschen mussten, so bin ich sicher, dass der eine oder andere waffenfähige junge Mensch Euch begleiten wird. Ich werde Nachrichten über ganz Inniu verbreiten, und Ihr werdet Ort und Zeit bestimmen, wann die Willigen zu Euch stoßen sollen. Und was wir Euch sonst noch geben können für den Kampf, sollt Ihr erhalten.«

Er blickte zu Schneemond. »Wir sind hier gebunden und können euch daher nicht begleiten. Ich fürchte, um unsere Kampfkunst wäre es ohnehin nicht sonderlich gut bestellt.«

»Darum hätte ich auch nie gebeten«, erwiderte Fürst Noïrun verlegen. »Allein Euch begegnen zu dürfen, ist eine große Ehre für mich. Kein Weg, keine Strapaze wäre dafür zu viel gewesen.«

»Dies ist auch das Wort der Zwerge hierzu«, sagte Olrig und hob den Becher. »Den letzten Schluck auf Euch, ehrenwerte Velerii, und dann wollen wir unsere ungeduldig wartende Schar nach Madin führen und Quartier beziehen.«

Schattenläufer nickte. »Wir sollten morgen alles Weitere besprechen, edle Herren, denn Ihr habt Ruhe und Erholung nötig, und wir müssen uns beraten. Ich verspreche Euch, Euer Aufenthalt wird nicht zu lange dauern, damit Ihr so schnell wie möglich nach Ardig Hall zurückkehren könnt.« Er hob leicht die Hand, als Schneemond sich erheben wollte. »Teuerste, ich werde an deiner Stelle die Herren nach Madin begleiten. Ylwas Tod hat dich hart getroffen, und du solltest dich nicht zusätzlich belasten. Ich werde bald zurückkehren.«

»Darf ich euch begleiten?«, rief Rowarn aufgeregt und sprang auf.

Aber Schattenläufer sah ihn streng an. »Du bleibst hier.«

Rowarn zog den Kopf ein und die Schultern hoch. Er wusste, dass es ihm verboten war, nach Madin zu gehen, solange die Umstände von Aninis Tod nicht geklärt waren, aber er hatte gehofft, in Begleitung der Schar und seines Muhmen ... 

»Ja, Vater«, murmelte er gehorsam. Er verneigte sich leicht vor den Gästen. »Wenn ihr mich entschuldigt ...« Dann drehte er auf dem Absatz um und ging in sein Zimmer. Er schmetterte die Tür nicht zu. Er ließ sie offen und tat so, als wäre er Luft, wohingegen er selbst alles im Auge behielt.



Fürst Noïrun und Kriegskönig Olrig erhoben und verneigten sich. »Geehrte Schneemond, wir danken sehr für Eure Gastfreundschaft und Euer freundliches Willkommen, trotz der schlechten Umstände.«

Gemeinsam mit Schattenläufer verließen sie das Haus, und Rowarn sah gerade noch am äußersten Rand seines Fensters, wie sie auf ihre Pferde zugingen, die ihnen freudig wiehernd entgegenliefen. Die beiden saßen auf, und dann galoppierten sie zu dritt auf die wartende Schar zu. 

Unschlüssig, mit den Händen in den Hosentaschen, stand Rowarn da und überlegte, was er nun tun sollte. Am liebsten wäre er der Schar heimlich gefolgt, denn er wollte das Staunen der Städter nicht verpassen, wenn sie die bewaffneten Krieger sahen, dazu die beiden edlen Männer und Schattenläufer selbst, der Madin schon seit Monden nicht mehr betreten hatte.

Doch Schneemond nahm ihm die Entscheidung ab, als sie tief gebückt zur Tür hereinschaute.

»Komm, Rowarn«, sagte sie ernst. »Wir haben etwas zu besprechen.«

Und nach Rowarns Herz griff plötzlich eine eiskalte Hand.