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EIN TRAUM ZERBRICHT

Frankfurt 1916/1917

Anders als ihre sämtlichen Geschwister hatte die kleine Alice nicht die markante Nase ihres Vaters. Die Eltern werteten das niedliche Stupsnäschen ihrer Jüngsten als ein ermutigendes Zukunftsomen. Plauderten sie, ohne dass sie vor Zeugen ihre Ambitionen hätten rechtfertigen müssen, sprachen sie recht ungeniert von einem möglichen Wechsel in die Gesellschaftsklasse, die von jüdischen Männern die Vermögensverhältnisse der Rothschilds verlangte und von ihren Töchtern eine entsprechende Mitgift, ehe sie mit ihnen verkehrte.

»Aber schwarzes Haar hat sie halt doch«, pflegte Betsy an dieser Stelle der Unterhaltung einzuwenden. Ihre Gewohnheit, zuallererst nach dem Haar in der Suppe zu suchen und sich dann mit der Zukunft zu beschäftigen, hatte sich im Krieg voll entwickelt.

»Vielleicht«, tröstete sie ihr Mann, »werden schwarze Haare eines Tages modern. Dann lassen sich die Blonden umfärben und unsere Tochter heiratet den Prinzen von Hessen.«

»Meinst du das im Ernst?«

»Denk mal nach!«

Trotz der miserablen Qualität der Kriegsseife glänzten Alicens Locken wie schwarzer Taft, und obwohl es selten Äpfel gab und schon lange keinen Zwieback mehr, hatte sie bereits vier Zähne. Alle waren wunderbar gerade gewachsen und so schneeweiß wie die Haut von Schneewittchen. Jettchen war überzeugt, es wäre wenigstens zum Teil der von ihr mit Liebe und Bedacht gewählte Name der englischen Prinzessin, der bei ihrer Nichte so Exzeptionelles zuwege gebracht hätte. Aus der berechtigten Furcht indes, ihren Liebling Victoria durch irgendwelche Lobpreisungen zu kränken, die nicht deren Person galten, hütete sich das diplomatische Tantchen, eine solche Vermutung auch nur anzudeuten.

Der Sternberg’sche Nachkömmling war nicht nur eine Kinderschönheit. Sein Gemüt wurde von allen, die das Baby mit seinem Lächeln verzauberte, als ein Sonnenstrahl in dunkler Zeit empfunden. Selbst Alices kritische Schwester Clara machte da keine Ausnahme und zum Glück für die gesamte Familie der Milchmann in der Höhenstraße auch nicht. Parkte die Einjährige in ihrem weiß lackierten Korbwagen vor seiner Ladentür, oder krähte sie, ihre Stoffpuppe schwenkend, auf Mutters Arm, schüttete der bei seiner übrigen Kundschaft als misanthropisch verschriene Geschäftsmann grundsätzlich mehr in Madame Sternbergs Kanne, als ihr zukam.

Alice vermochte sogar ihren Vater freundlich zu stimmen. Sobald sie von einem Sessel zum nächsten und an dem Tisch mit den Löwenfüßen vorbeikrabbeln konnte, sorgte sie durch schamlos kokettes Verhalten dafür, dass der Hausherr ihr allabendlich einen Platz auf seinem rechten Knie einräumte, wo er sie mit den aufregenden Klappdeckeln und der klimpernden Kette seiner goldenen Taschenuhr spielen ließ. Der Vater verübelte ihr noch nicht einmal, dass sie auf seine Hausweste aus billardgrünem Samt spuckte; er nannte sie auf gut Hessisch eine Wutz und streichelte ihr Kinn.

Auch für ihre Mutter war der Unschuldsengel Seelenbalsam. In dem Jahr, das auf Alices Geburt folgte, lernte Betsy, den Schmerz um ihren Ältesten so tief zu vergraben, dass sie wieder über ihre zwei jüngsten Kinder lachen konnte. Manchmal sang sie dem fröhlichen Baby die Lieder aus Humperdincks »Hänsel und Gretel« vor, die schon Victoria entzückt hatten, und gelegentlich kamen vom so lange Zeit nicht mehr angerührten Flügel die Musikstücke, die sie einst mit ihren lernunwilligen Zwillingen hatte einüben wollen. Betsys Wandlung war tatsächlich ein kleines Wunder, denn ihre Jüngste hatte sich ausgerechnet den Wintergarten als Klassenraum und den Papagei als Sprachlehrer ausgesucht. Ihr erstes verständliches Wort war also »Otto«. Seitdem übte Alice den Namen des Schmerzes mit der Ausdauer von Forschern, die glauben, sie hielten den Schlüssel zu einer unbekannten Welt in der Hand.

Zu Alices erstem Geburtstag wurde eine kleine Feier geplant, die selbstverständlich den schwierigen Umständen des Alltags Rechnung tragen würde. Doktor Meyerbeer und seine Frau sollten kommen und auch Theo Berghammer, der sich seit seiner Heimkehr von der Front gegenüber den Sternbergs so wohltuend höflich und hilfsbereit zeigte. Obwohl der bedauernswerte junge Mann seinen Fotoapparat nur mit Mühe halten konnte, hatte er wunderschöne Bilder von der kleinen Alice gemacht – und ein herrliches Porträt von Clara im Wintergarten, eine blühende gelbe Begonie im Hintergrund. Clara war unerwartet in dem Moment nach Hause gekommen, als Theo an der Wohnungstür geklingelt hatte.

Auch Schwester Grete Neger sollte zur Geburtstagsfeier eingeladen werden. Zum Erstaunen der Sternbergs war sie seit Alices Geburt der Familie freundschaftlich verbunden. Der dankbare Hausherr hatte die tüchtige Hebamme nämlich auf ihren Wunsch hin nicht mit der Papierwährung entlohnt, für die sich die Menschen immer weniger kaufen konnten, sondern mit den allerorten begehrten Naturalien. »Und das äußerst großzügig«, pflegte Schwester Neger im kleinen Kreis zu berichten. Bei Vertrauten, die sie wesensverwandt dünkte, schaute sie gar himmelwärts, als erbitte sie Gott um Absolution, und danach fügte sie mit ihrem liebenswürdigen rheinischen Singsang hinzu: »Die Juden haben’s ja.«

Unweit von Frankfurt vollzog sich ähnlich Unerwartetes. Im Februar, sieben Tage vor dem kleinen Fest zu Ehren der einjährigen Alice, kam es zu einem hässlichen, absolut nicht zu erwartenden Familienstreit in Bad Nauheim. Für diejenige, die den Krieg nicht begonnen hatte, sollte er ebenso fatale Folgen haben wie die Schüsse von Sarajevo. Hatten jene zu einem Weltbrand von nicht voraussehbarem Ausmaß geführt, so blieben die Auswirkungen der Nauheimer Zimmerschlacht ausschließlich auf die Wohnung im ersten Stock der Frankfurter Rothschildallee 9 beschränkt. Zunächst war das Bad Nauheimer Duell lediglich als ein herzerwärmender Beweis für die Loyalität der Josepha Krause gegenüber der Familie zu werten, für die sie mehr als fünfzehn Jahre gekocht, gebraten und gebacken hatte, mit der sie lachte und litt und die sie längst als ihre eigene empfand.

Josepha war es nach den üblichen diffizilen Verhandlungen mit ihrer sauertöpfischen und allerorten als neidisch verrufenen Schwägerin Paula gelungen, einen Satz Bowlengläser gegen einen Sack Kartoffeln und eine Herrenjacke aus echtem schottischen Tweed gegen Mehl, Zucker und drei Dosen selbst eingemachter Leberwurst einzutauschen. Mamsell Krause, der Betsy prinzipiell die Auswahl des Tauschguts überließ, war mehr als zufrieden gewesen – mit dem Geschäft an sich und mit ihrem Verhandlungsgeschick.

Eine väterliche Cousine hatte zu Claras dreizehntem Geburtstag die Bowlengläser mit der Bemerkung »Für deine Aussteuer, mein Kind« angeschleppt. Sämtliche Sternbergs hatten sich Mühe geben müssen, die Contenance zu wahren. Das Geburtstagskind, damals schon und immer noch allergisch gegen alle Beiträge für die Aussteuer, hatte gar im Badezimmer geweint. Die Gläser – aus hässlichem dickem grünen Glas und mit gedrechselten Henkeln, an die man nur schwer mit dem Küchenhandtuch herankam – würden nie benutzt werden. Im Hause Sternberg wurden, wie Josepha zu betonen pflegte, ausschließlich »reine Getränke in allerbester Qualität« ausgeschenkt.

Während Josepha nun in Bad Nauheim Kaffee trank, dem ihrer Meinung nach zu viel Zichorie zugesetzt war, und ein Quarkhörnchen aß, wie sie es schon als Fünfzehnjährige hätte besser backen können, wies die Schwägerin ausdauernd auf die herrschende Kartoffelfäule hin. Ein paarmal betonte sie, sie könnte es um der Familie willen gar nicht verantworten, sich überhaupt noch von Kartoffeln zu trennen. Ein Kennerauge wie das von Josepha vermochte jedoch auf Anhieb festzustellen, dass die unbedarfte Kleinbürgersfrau, die ihr gegenübersaß und schon an der dritten Tasse von dem Zichoriengebräu suckelte, ganz vernarrt in die scheußlichen grünen Gläser war.

»Wenn ich bei dir keine Kartoffeln kriegen kann, muss ich es halt bei den Rindermanns versuchen«, pokerte die schlaue Josepha. »Dann«, machte sie klar, wobei sie energisch mit ihrer Rechten auf das linke Bein schlug, »muss ich allerdings auch die schönen Gläser und die gute Jacke wieder mitnehmen. Was soll ich denn sonst machen?« Die schlaue Füchsin verschwieg selbstverständlich, dass Herr Sternberg, der ja wusste, was sich gehörte, die Jacke nicht mehr trug, weil sich eben kein guter Deutscher im dritten Kriegsjahr noch in der Wolle von feindlichen schottischen Schafen zeigen mochte.

»Meinetwegen«, seufzte die künftige Besitzerin der grünen Bowlengläser, »dann zieh in Gottes Namen ab mit den Kartoffeln. Du redest ja einen Menschen total besoffen. Wie immer. Kein Wunder, dass dein Posaunist damals das Weite gesucht hat.«

Es hatte Schwägerin Paula nie gereicht, das letzte Wort zu behalten. Sie bürstete kopfschüttelnd die Krümel vom Tisch, rümpfte die Nase, als wittere sie alles Unheil der Welt, und setzte dann vollkommen übergangslos zu einer Tirade gegen die Juden an, wobei sie geiferte, es wären jüdische Händler, die die Preise hochtrieben, und das täten sie ausschließlich zulasten der fleißigen Landbevölkerung. Der Hassgesang endete so abrupt, wie er begonnen hatte – mit der Behauptung, die Juden seien alle feige und würden sich samt und sonders vor dem Militär drücken. »Oder sie gehen hin, und es gelingt ihnen, dass man sie nicht an die Front schickt«, wütete Paula. Sie war als junges Mädchen schon dafür berüchtigt gewesen, sich mit ihren eigenen Worten in Rage zu reden, und sie hatte seitdem nichts verlernt.

Josepha war nur für einen Moment perplex, gedemütigt, sprachlos und handlungsunfähig gewesen. Dann brodelte es in ihr wie in einem überhitzten Suppentopf. So langsam, wie es ihr möglich war, ging sie in den Flur mit den markanten Kleiderhaken aus Wildgeweih. Dort stülpte Sternbergs Köchin ihren Hut auf den Kopf, nahm die spitze Hutnadel heraus und kam zurück in die gute Stube. Sie war nun ganz ruhig. Nur ihre Augen funkten Feuer. Bedächtig, ohne ein Wort zu sagen, nahm sie den kleinen Sack Mehl hoch, der an der Tür stand, stellte ihn auf den Tisch neben die Kaffeekanne und schlitzte ihn mit der Hutnadel auf. Mit der sicheren Hand, die Frau Betsy immer bewunderte, weil sie ein randvolles Glas hochzuheben vermochte, ohne auch nur einen Tropfen zu verschütten, schüttelte Josepha ihrer Schwägerin Paula das feine weiße Mehl auf das schwarze Witwenkleid, das sie schon seit sieben Jahren trug.

»Und für so eine Schlampe, wie du es bist, hat unser Otto sein Leben hergegeben«, brüllte die Rächerin. Sie stampfte aus dem Zimmer. Mit Schritten, die den Holzboden erbeben ließen, mit den Kartoffeln, die sie für ihren Hätschelbuben zu Kartoffelpuffern reiben und für seinen empfindlichen Vater zu Brei zerstampfen würde, und mit der edlen Tweedjacke, die keiner in Schwägerin Paulas Familie je tragen würde.

Weil sie den einzigen Zug bekommen musste, der am Abend noch nach Frankfurt fuhr, blieb Josepha nicht mehr die Zeit, die Jacke anderswo gegen die nahrhaften Schätze von der Wetterau einzutauschen. Sie saß im Zug und dachte an den Geburtstagskuchen für Alice, den sie nun nicht mehr würde backen können; sie starrte zum Fenster hinaus, ohne dass sie auch nur eine Telegrafenstange oder einen Kirchturm sah. Obwohl ihr nicht übel war, hatte sie das Bedürfnis zu würgen, denn sie konnte nicht fassen, was geschehen war. Für Josepha Krause, die jede Nacht betete, der verdammte Krieg möge zu Ende sein, ehe ihr Erwin zu den Soldaten musste, war es die erste persönliche Begegnung mit der Form von Hass, den die Welt Antisemitismus nennt. Noch kannte sie das Wort nicht.

Abends um zehn war sie wieder zu Hause. Die Uhr in der Diele schlug gerade zum letzten Mal an. Erwin kam mit einem Buch von der Toilette, obgleich sein Vater ihm wiederholt verboten hatte, dort zu lesen. Er legte seinen Finger auf Josephas Lippen, um sie an ihr Schweigegelübde zu erinnern, und sie drückte ihn so fest, als wäre er aus Amerika heimgekehrt. Betsy, immer feinfühlig und diskret, aber auch alarmiert und angespannt, merkte sofort an Josephas verstörtem Gesicht und der aus Bad Nauheim zurückgekehrten Tweedjacke, dass etwas Gravierendes passiert sein musste. Sie bestand darauf, dass ihre Köchin eine Tasse Kamillentee trank, und flößte ihr zwanzig Baldriantropfen ein. Fragen stellte die Frau des Hauses nicht. Noch nicht einmal, als der Geburtstag von Klein Alice unmittelbar bevorstand.

Sowohl Doktor Meyerbeer samt Gattin, die nun jede Chance wahrnahm, außer Haus an Gebackenes zu kommen, als auch Schwester Grete Neger hatten zugesagt. Schweigend, niedergeschlagen und missgelaunt stellte Josepha ein Gebäck her, das ein neu herausgekommenes Kriegskochbuch großsprecherisch »Schwarzbrotapfelschaum« genannt hatte. Es schmeckte, das stellte sie fest, als sie die Krümel aus der Kuchenform kratzte und kostete, vorwiegend nach der ersten Wortsilbe.

Schließlich, vierzehn Tage nach Alices Geburtstag, als niemand mehr von dem Schwarzbrotapfelschaum übel sprach, weil seitdem das Schwarzbrot noch knapper geworden war als zuvor, war es der Hausherr, bei dem Josepha ihrem verwundeten Herzen Luft machte. Als dies geschah, war Johann Isidor, wofür er sich noch lange Jahre schämen sollte, weil Aufmerksamkeit zur rechten Zeit ihm vielleicht den richtigen Weg gewiesen hätte, nicht ganz bei der Sache. Der Plan, mit einem »massiven Materialeinsatz« die Franzosen bei Verdun »ausbluten« zu lassen, war soeben in die Tat umgesetzt worden. Erstmalig wurden deutsche Flugzeuge in geschlossenen Kampfgeschwadern eingesetzt.

Es lag in der Natur eines besorgten deutschen Patrioten, dass er an diesem Kampf um Gedeih und Verderb mehr Anteil nahm als an einem Gespräch, in dem es um die Querelen ging, die seine Köchin mit ihrer Verwandtschaft gehabt hatte. Johann Isidor war nicht der Mann, dem es gegeben war, den banalen Dingen des Alltags sein Ohr zu leihen. Auch nach Josephas beredter Klage ging ihm nicht auf, weshalb zum ersten Geburtstag seiner jüngsten Tochter ein Backwerk auf der Tortenplatte gelegen hatte, das in Friedenszeiten noch nicht einmal als ein solches erkannt worden wäre. Als Josepha von der überraschenden Tirade ihrer Bad Nauheimer Schwägerin berichtete, schaute Johann Isidor zwar seine Köchin mit der Aufmerksamkeit an, die ihrer Person gebührte, doch unmittelbar darauf blätterte er wieder in der Zeitung. Die kollektive Diffamierung der jüdischen Frontsoldaten, von der Josepha ihm soeben berichtet hatte, hielt er keineswegs für ein Menetekel, sondern für den berühmten Einzelfall.

»Ich würde mir nicht so viele Gedanken machen, Josepha«, sagte ihr Brotherr begütigend, »ich meine, wir sind uns doch beide einig, dass es Wichtigeres auf der Welt gibt als das bösartige Geschwätz dummer Weiber. So etwas hat es leider immer gegeben.«

Josepha hatte ihre Zweifel. Allerdings gab die Entwicklung zunächst dem Herrn des Hauses recht. Das Kaiserreich stand vor einer gewaltigen Belastungsprobe. Die Ernährungslage in der Heimat, schon 1914 durch den enormen Bedarf an der Front nicht mehr gut und spürbar von der britischen Seeblockade getroffen, war 1915 zusehends schlechter geworden. Im Verlauf des Jahres 1916 mangelte es dann an allen Dingen des täglichen Bedarfs, vor allem an den Grundnahrungsmitteln.

Johann Isidor fürchtete nicht so um sein eigenes Wohl und schon gar nicht um das seiner Familie. Das kaufmännische Geschick, der Weitblick und die Risikobereitschaft, die ihm in Friedenszeiten Besitz und Wohlstand gebracht hatten, kamen ihm auch im Krieg zugute. Er scheute sich nicht, das staatlich kontrollierte Verteilungssystem zu unterlaufen und sich am Handel auf den illegalen Märkten zu beteiligen. »Gott«, sagte er zu seiner Frau und beschenkte sie mit einem Pfund Butter, einem Pfund Schmalz und drei Köpfen Weißkohl, »hilft nur noch denen, die sich selbst helfen.«

Die besitzende Klasse schritt auf dem Schwarzmarkt zur Selbsthilfe, die Armen hungerten. Von Tag zu Tag mehr. Der Grat vom treu sorgenden Ernährer der Familie zum berüchtigten Kriegsgewinnler war winzig. Obwohl er in seinem Haus auch nicht den kleinsten Scherz über Wilhelm II. durchgehen ließ und er seiner achtjährigen Tochter Victoria so anschaulich von der Reichsgründung in Versailles erzählte wie andere Väter von Dornröschens Schloss, gelang es dem kaisertreuen Bürger Sternberg, um seiner Familie willen alle Skrupel zu unterdrücken. Umso mehr bedrückte ihn, dass immer mehr von der nachlassenden Kampfmoral der Nation zu hören war.

Geschickte Journalisten, die durch die eng geknüpften Maschen der Zensur zu schlüpfen wussten, deuteten wiederholt an, dass an der Heimatfront nicht mehr von Kriegsbegeisterung und Patriotismus die Rede sein könne. In Frankfurt war das besonders zu spüren. Die Frankfurter, von Lokalpoeten als ein ehrlicher, knorriger Menschenschlag besungen, der aus seinem Herzen keine Mördergrube mache, übertrafen knurrend ihren Ruf. Seit der Mobilmachung und der siegesfrohen Ankündigung auf deutschen Eisenbahnwagen »Weihnachten sind wir wieder zu Hause« waren zwar nur eineinhalb Jahre vergangen, aber der Hunger, die Zwangsbewirtschaftung und die Hilflosigkeit der Ämter hatten die Menschen klarsichtig gemacht.

Vor allem die Frauen, denen man den Ernährer genommen hatte und die zu Hause nicht wussten, wie sie ihre Kinder satt bekommen sollten, reagierten mit Wut und Hohn, wenn sie vor den Geschäften Schlange standen und mit leeren Taschen nach Hause kamen. Vom Kriegsernährungsamt wurden sie mit unglaublichen Ratschlägen bedacht – beispielsweise, man solle durch »zweitausendfünfhundert Kauakte für dreißig Bissen in dreißig Minuten selbst für eine bessere Nahrungsverwertung sorgen«. Erwin zeichnete ein wiederkäuendes Riesenmonster mit einem winzigen Kuchen auf einem schwarz-weiß-roten Teller und dem Eisernen Kreuz an der Brust. Er klebte die Karikatur an das Küchenbuffet. Selbst sein Vater lächelte. »Sag nur, dass du immer noch Maler werden willst, mein Sohn.«

»Ja«, erwiderte der designierte Stammhalter mutig.

Es gab Brotmarken, Brotbücher und festgesetzte Preise für Getreideprodukte, aber immer weniger Mehl und Brot. Eine Reichsverteilungsstelle für die Kartoffelversorgung wurde gegründet, doch gelangten kaum noch Kartoffeln in die Großstädte. Die Landwirtschaft war schon bald nach Kriegsbeginn nicht mehr voll funktionsfähig gewesen – die Bauern und Knechte wurden zum Militär eingezogen, die Pferde für das Heer beschlagnahmt, doch auf den Höfen war niemand mehr da, um einen Pflug zu reparieren oder einen Schlauch zu flicken. Die polnischen Wanderarbeiter standen nicht mehr zur Verfügung, junge Mädchen und schwangere Frauen verrichteten Männerarbeit. Die Versorgung mit Milch, Butter und Eiern brach zusammen. Fleisch verschwand direkt auf dem Schwarzmarkt und mit der Wurst die Moral; obgleich das Verfüttern von Zuckerrüben an das Vieh verboten wurde, klappte auch die Versorgung mit Zucker nicht mehr. »Ersatz« wurde das meistgebrauchte Wort in deutschen Küchen. Es gab Honigersatz, Ersatzkaffee, Butterersatz, Kakao-, Käse- und Fischersatz.

»Bald gibt es auch Ersatzmäntel und Ersatzköpfe«, mutmaßte Josepha.

»Es gibt aber keinen Ersatz für die, die uns genommen wurden, ohne dass wir ihnen Lebewohl sagen durften«, notierte Johann Isidor am zwanzigsten Geburtstag seines ältesten Sohns. Er hatte begonnen, Tagebuch zu führen. Doktor Meyerbeer, der Seelenkenner, hatte es ihm geraten.

»Es hat schon ganz anderen Leuten als Ihnen geholfen, mit sich selbst zu reden.«

In den Schulen wurde auch den Lehrerinnen der unteren Klassen nahegelegt, über Treue und Ausdauer, über die Tugend der Genügsamkeit und über die Redlichkeit des Soldatenherzens zu referieren. Victoria kam bekümmert nach Hause. Als Hausaufgabe sollte sie sechs Sprichwörter zum Thema Sparen aufschreiben, doch ihr fielen nur drei ein. »Und die kennt doch jeder«, sorgte sich die Individualistin.

»Wer erwirbt, tut viel; wer spart, tut mehr«, half ihr die pädagogisch begabte Mutter.

»Der spart zu spät, der nichts mehr hat«, empfahl Josepha.

»Mit Kuchen kann man Brot sparen«, sekundierte Tante Jettchen; sie wurde für den unzeitgemäßen Frevel durch einen entsetzten Blick der Hausfrau gescholten.

»Das ist der schönste Spruch von allen«, entschied Victoria. »Mein Tantchen ist so klug wie der Kaiser.«

»Es gibt doch noch Normalität«, stellte der Familienvorstand aufatmend fest, als seine Frau am Freitagabend die Kerzen in den silbernen Leuchtern entzündete und er den Hefezopf anschnitt, den sie geflochten hatte – zwar aus dunklem Mehl und mit gemahlenen Trockenerbsen als Streckmittel, aber doch nach dem Rezept der frommen Pforzheimer Großmutter. Auf dem weißen Damasttischtuch standen die farbigen Römer. Seit Ottos Tod feierte die Familie wieder den Sabbat. Victoria kannte bereits die Segenssprüche für das Brot und den Wein, die kleine Alice klatschte, sobald sie die hebräischen Worte hörte.

Äußerlich war auch der Küche nichts von den Malaisen der Zeit anzumerken. Der Herd glänzte, die blau-weiß karierten Gardinen waren rein und gestärkt, die Fenster ohne eine einzige Schliere. Der Kupferkessel und die Kuchenformen wurden wöchentlich auf Hochglanz poliert, das Salatbesteck und die Eierlöffel aus Horn in ein schützendes Filztuch gehüllt. In der Speisekammer standen eine Ballonflasche mit Ebbelwein vom Vorjahr und zwei randvolle Rumtöpfe, die schamlos nach Sommer und dem süßen Leben der Sorgenfreien dufteten. Trotzdem schärfte der Hunger auch im ersten Stock der Rothschildallee 9 seine Klauen. Schmalhans, bis dahin bei der oberen Gesellschaftsklasse eher ein theoretischer Begriff aus dem deutschen Sprichwortschatz, wurde auch bei der Familie Sternberg Küchenmeister. Außer der kleinen Alice, die juchzend an jeder harten Brotkruste kaute, als wäre sie ein Stück vom Schlaraffenland, wussten alle, was das Wort Kartoffelfäule bedeutete.

»Ein Königreich für eine Kartoffel«, deklamierte Erwin. Er las gerade »Richard III.«.

»Und früher waren wir so dumm zu sagen«, erinnerte sich Jettchen wehmütig, »Kartoffeln gehören in den Keller und nicht auf den Teller.«

»Dummheit und Stolz wachsen aus dem gleichen Holz«, zitierte die reuevolle Josepha, wenn sie im Kartoffeltopf einen zähen, mit Zwiebeln und der Haut von Blutwurst gewürzten Brei rührte, das ein aktuelles »Kriegskochbuch für die sparsame Hausfrau« als »Hessischen Graupentopf« bezeichnet hatte. Trotz Betsys Bekundungen, Josepha hätte mutiger und loyaler gehandelt, als es die meisten Menschen in ihrer Lage getan hätten, machte diese sich immer wieder Vorwürfe, dass sie so unwiderruflich das nahrhafte Band zu der Bad Nauheimer Sippschaft zerschnitten hatte.

Die Kartoffelkiste im Keller war leer; es bestand keine Aussicht auf einen Wintervorrat. Der Gemüsehändler Mayer in der Wiesenstraße, bei dem die Sternbergs fünfzehn Jahre lang die besten Kunden gewesen waren und der für Madame Sternberg bis zum traurigen Ende immer eine Sonderüberraschung aus einem verborgenen Winkel geholt hatte, hatte mangels Ware seinen Laden geschlossen – entsprechend dem Sprachusus der Zeit »vorübergehend«. In Sachen Kartoffeln musste auch der Hausherr passen. Es war unmöglich, sperriges Gut auf dem Schwarzmarkt zu kaufen und es unbeobachtet nach Hause zu schaffen. Johann Isidors inzwischen dünn gesäte oberhessische Verwandtschaft beantwortete selten seine Briefe, und wenn, beklagte sie die eigene Misere, eine Erfahrung, die die meisten Großstadtbewohner in dieser Zeit machten.

Lediglich einige Zeitungen verkannten den Ernst der Lage und wagten noch eine lose Zunge. Sie veröffentlichten eine Zeichnung, auf der eine frech grinsende Kartoffel mit einem Papierhelm auf dem Kopf zu sehen war, dazu ein Gedicht von einem gewissen Hans Fallada:

»Durchhalten!
Droh’n uns’re Feinde auch noch so viel
uns mit der Hungersnot Graus.
Wir machen die letzte Kartoffel mobil.
Wir Deutsche, wir halten es aus.«

Selbst Johann Isidor, der ausschließlich seine Kinder scharf und furchtlos zu kritisieren vermochte und der es sonst eher empfehlenswert fand, diplomatisch die Zunge zu halten, empfand die Zeichnung als geschmacklos und den Vers als »sehr unpassend in einer so schweren Prüfung«. Die deutsche Kartoffel eignete sich tatsächlich nicht mehr zum Objekt der Satire. Sie wurde, als sich die Ernährungslage dramatisch zuspitzte, durch die Kohlrübe ersetzt, mancherorts auch als Steckrübe, Wruke oder Dotsche bekannt.

Kohlrüben galten laut Behördenlatein und den Verfassern von Kochbüchern, die unmöglich das glauben konnten, was sie schrieben, als das Allheilmittel in der deutschen Küche. Sie wurden dem Brotteig zugesetzt und den Kindern als Apfelmus eingeredet, ließen sich zu Gemüse, Suppen und Klößen verarbeiten, wurden gekocht, getrocknet und gedünstet. Zeitschriften, die noch 1915 – zum Zorn der Hausfrauen – Rezepte veröffentlicht hatten, in denen Butter, Schmalz, Sardellen, Safran und Zitrusfrüchte empfohlen wurden, brachten nun Rezepte für Gemüseaufläufe, fleischlose Eintöpfe, Grießklöße, Kinderbrei, Brotaufstrich und Gebäck aus Kohlrüben. Die phantasievollste Namengebung widerfuhr der »Kohlrüben-Bettelmann-Suppe«, aufzukochen mit Kümmelkörnern und Resten von Schwarzbrot, am zynischsten war die Bemerkung, die mit einem guten Schuss Essig gewürzten Kohlrüben würden den Geschmack von erfrorenen Kartoffeln übertünchen.

Für die hungernden Menschen, die laut amtlicher Verfügung pro Tag Anspruch auf fünfunddreißig Gramm Fleisch (einschließlich Knochen), ein Viertel Ei, fünfundzwanzig Gramm Zucker und zweihundertsiebzig Gramm Brot hatten, begann im November 1916 der Kohlrübenwinter.

Wer ihn erlitt, vergaß ihn nie; viele Menschen erholten sich weder physisch noch psychisch von den Folgen der Mangelernährung. Der Kohlrübenwinter wurde Synonym für Not und Hungertod.

Auch Johann Isidor Sternberg sollte ihn für immer in Erinnerung behalten, doch es war nicht sein Magen, der für ihn die Chronik verfasste. Es war sein Herz. Das kaisertreue, opferbereite Herz des Johann Isidor Sternberg brach am 9. November 1916, auf den Tag genau zwei Jahre, nachdem er erfahren hatte, dass sein achtzehnjähriger Sohn für sein Vaterland gefallen war. Im Oktober 1916 hatte der deutsche Kriegsminister eine statistische Erhebung »zum Anteil der Juden unter den deutschen Soldaten« angeordnet.

Johann Isidor Sternberg, ein Mann mit analytischem Verstand und trotz seines zur Sentimentalität neigenden Naturells ein Leben lang auf der Hut vor Attacken aus dem Hinterhalt, brauchte keine fünf Minuten, um die Sprache der deutschen Bürokratie als eine Diffamierung der Juden zu entlarven. Es bedurfte jedoch nicht zu zählender schlafloser Nächte, bis Johann Isidors verwundete Seele tatsächlich imstande war zu fassen, was das geliebte Kaiserreich seinen jüdischen Bürgern angetan hatte. In den Tagen der ersten Ratlosigkeit und des lähmenden Schmerzes, die der Erkenntnis folgten, bedrückte es Johann Isidor am meisten, dass er nicht über das Messer zu sprechen vermochte, das ihm die Brust aufgerissen hatte. Er konnte seiner Frau nicht in die Augen schauen, ohne dass Zorn sein Gesicht entflammte und Hilflosigkeit seine Zunge austrocknete. Dem Blick seines Sohns wich er aus, als wäre dessen Vater derjenige, der schuldig geworden war. Wenn er allein war, kamen ihm die Tränen.

Endlich, an einem Freitagabend, konnte er sein erniedrigendes Schweigen nicht mehr ertragen. Er vertraute sich Betsy an. Der Tisch war abgedeckt. Es hatte als Sabbatmahl eine Suppe aus Brühwürfeln und für jeden ein Stück gebratene Leberwurst gegeben, die der Hausherr am Vortag bei einem Metzger in der Braubachstraße gegen eine Einmeterborte aus Brüsseler Spitzen eingetauscht hatte. Die Zwillinge hatten sich, einander zuzwinkernd, zurückgezogen, Jettchen las im Nebenzimmer gerade stimmenklar den Reim vor »Piff, paff, ein Gewehr! Der Russe lebt nicht mehr«, und Victoria lachte sehr.

Josepha faltete das weiße Tischtuch. Sie sagte »Gute Nacht« und wünschte an der Tür »Gut Schabbes«, als wäre sie zeitlebens jüdisch gewesen. Die Sabbatkerzen waren fast niedergebrannt, der Hausherr starrte in ihr verlöschendes Licht. Er räusperte sich, wie er es immer getan hatte, wenn er Bedeutsames zu sagen hatte, und prüfte, ob seine Weste richtig geknöpft war. Er schämte sich ein bisschen, dass er auf die Nägel seiner rechten Hand schaute, statt zu seiner Frau hin, doch er geriet rechtzeitig in die Balance. »Ich nehme an«, sagte er, »du hast schon von der Judenzählung gehört.«

»Was soll das denn heißen?«, wunderte sich Betsy.

»Man will wissen, wie viel Juden beim Militär sind. Oder gefallen. Das nennen sie Judenzählung. Das muss doch auch dir sofort klar sein, Betsy, was das für uns bedeutet? Oder verstehst du etwa das Wort nicht?«

Betsy Sternberg verstand es nicht. Und vielen anderen, wahrlich nicht nur den Frauen, erging es ebenso. Die angeordnete »Judenzählung« reagierte auf die immer öfter laut werdenden Vorwürfe von antisemitischer Seite, die Juden seien feige Drückeberger, die sich dem Dienst an der Front mit allen möglichen Ausreden entziehen und unverhältnismäßig oft vom Militär befreit werden würden.

Johann Isidor Sternberg, für den Vaterland das heiligste Wort seiner Muttersprache gewesen war, schonte sich nicht. Beim ersten Schlag, den ihm dieses Vaterland tat, erkannte er, dass seine Illusionen gewaltig und seine Vorstellungen von der Judenfreundlichkeit des kaiserlichen Deutschland töricht gewesen waren. Naiv wie ein Kind war er gewesen, ein romantischer Schwärmer, ein Vogel Strauß mit dem Kopf im Sand. Er hatte aus Loyalität zur Tradition und im ehrfürchtigen Gedenken an Vater und Mutter nie zum Christentum konvertieren wollen, doch die beiden Worte Assimilation und Emanzipation waren für ihn Wunderdrogen gewesen. Johann Isidor hatte besessen den uralten Traum der Juden in Deutschland geträumt, sie würden eines Tages von ihren nichtjüdischen Mitbürgern als Gleiche unter Gleichen akzeptiert werden. Des Kaisers Wort zu Kriegsbeginn »Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche« hatte diesen Besessenen in einen Rausch versetzt. Nach einem solchen Satz, wie ihn Kaiser Wilhelm II. vom Balkon seines Berliner Stadtschlosses gerufen hatte, hatte das Herz der deutschen Juden seit den Anfängen der Aufklärung gehungert.

Ab August 1914 hing die Balkonrede, vom Sekretär in der Sternberg’schen Posamenterie in Blockbuchstaben auf cremefarbenes Büttenpapier abgeschrieben, in einem silbernen Rahmen an der Wand des Herrenzimmers. Der Patriot Sternberg, der am Sedanstag und zu Kaisers Geburtstag sein Haus mit der deutschen Nationalfahne beflaggte und der in der Synagoge für das Wohl und das Kriegsglück seines Landesvaters betete, hatte bis zu dem Tag, da ihm das Gegenteil bewiesen wurde, keine Stunde gezweifelt, dass die Deutschen ihn ebenso liebten wie er sie.

Er war trotz seiner Illusionen ein Verstandesmensch. Ihm war es nicht gegeben, sich auf die Dauer selbst zu betrügen. Obwohl er sich zunächst gewehrt hatte, die aktuellen Beweise der judenfeindlichen Stimmung zur Kenntnis zu nehmen, hatte er nach und nach doch feststellen müssen, dass der Antisemitismus in Deutschland im gleichen Maße wuchs wie die allgemeine Not. Von Tag zu Tag wurde deutlicher, dass sich die hungernden Menschen nach altem Brauch einen Sündenbock für ihre Misere suchten und dass sie sich auf die Juden geeinigt hatten.

»Die älteste Geschichte der Welt«, war er sich mit Doktor Meyerbeer einig.

Mit einer Diffamierung, wie sie die Judenzählung war, hatte er trotzdem nicht gerechnet. Johann Isidor erfuhr von der angeordneten Aktion erst durch einen Kommentar in der »Frankfurter Zeitung«. Der Redakteur wandte sich scharf gegen die Befragung nach der Religionszugehörigkeit im deutschen Heer. Der loyale deutsche Staatsbürger Sternberg saß, als er den Artikel las, entspannt in einem schweren Winchester-Sessel aus grünem Leder, davor stand der Laufstall seiner jüngsten Tochter. Sie spielte mit einem Stoffesel, der beide Augen verloren hatte. »Papa Otto«, jubelte Alice, als ihrem Vater die Zeitung aus der Hand fiel. Sie hielt ihm den erblindeten Esel hin und gurgelte: »Bäh!«

Ihr Vater sah weder das Spielzeug, noch war ihm die feine ironische Pointe des Schicksals bewusst. Seine Augen wurden starr, danach erstarrte sein Körper, schließlich seine Fähigkeit, Worte zu verstehen und zu deuten. Nach einer Weile blendeten ihn Tränen, von denen er zu spät merkte, dass es die seinen waren. Im ersten Schock nahm sich Johann Isidor vor, mit niemanden über das, was er gelesen hatte, zu sprechen, seine seelische Not vor jedermann zu verbergen. An dem Freitagabend, als sein Kopf zersprang und er erkannte, dass er sein Schweigen nicht länger würde ertragen können, und er seiner Frau eingestand, dass er nie wieder der Mann sein würde, der er gewesen war, weinte er zum zweiten Mal.

»Ich glaube, du solltest mit den Unsrigen sprechen«, riet die Kluge, als sie das Schlafzimmerlicht löschte. Betsy Sternberg hatte noch nie »die Unsrigen« gesagt, doch sie durchschaute, weshalb sie es nun tat. Auch ihr Mann wusste Bescheid, obwohl er mit einem gutmütigen Tadel sagte: »Was ihr Frauen auch immer für Ideen habt.«

Er befolgte Betsys Rat und nahm teil an einer Protestversammlung der Frankfurter Ortsgruppe des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Der Centralverein in Berlin hatte am 1. August 1914 den viel beachteten Aufruf erlassen: »Glaubensgenossen, wir rufen Euch auf, über das Maß der Pflicht hinaus Eure Kräfte dem Vaterland zu widmen. Eilet freiwillig zu den Fahnen.« Der, dessen Herz so stolz geschlagen hatte, als sein Sohn zu den Fahnen gestürmt war, saß nach vorn gebeugt und fröstelnd in einer Ecke des Raums. Ihm war es, als müsse er allein sich für das peinigende Thema des Abends rechtfertigen. Er hörte die Reden derer, die sehend geworden waren und nun gegen die infame Unterstellung protestierten, die Juden in Deutschland wären feige Drückeberger, doch er wusste nicht, wie er, Johann Isidor Sternberg, von seinem lebenslangen Traum Abschied nehmen sollte, ohne zu sterben. Wie einem Herzen, das nichts anderes gelernt hatte, als das Vaterland wie den leiblichen Vater zu lieben, die Liebe zu Deutschland entreißen?

Der Beraubte fühlte, wie der Zorn ihn versengte, wie die Empörung seinen Glauben, die Hoffnung und die Liebe zu Tode würgte und ihn zu einem gebrochenen alten Mann machte, dem die Zukunft abhandengekommen war wie anderen Menschen ein Schal oder ein Taschentuch. Er dachte an den Kanonier Otto Wilhelm Samuel Sternberg, der achtzehn Jahre alt und keinen Monat älter geworden war und der nun zum zweiten Mal sterben musste. Diesmal hingerichtet vom Hass jener Landsleute, die den Juden vorwarfen, sie würden in der Stunde der Not ihr Vaterland nicht verteidigen und in der warmen Stube ihre Kriegsgewinne zählen.

Johann Isidor schloss seine Augen. Trotzdem erschien ihm Ottos Bubengesicht, schon gezeichnet von der Männergier nach Bewährung – und der Angst eines Kindes vor dem Verlassenwerden. Der Vater sah seinen Ältesten am Ostbahnhof stehen, Ausschau haltend wie ein erfahrener Wanderer, der sich verirrt hat und der sich scheut, sich selbst einzugestehen, dass er vom Weg abgekommen ist. In der Klappe des lächerlichen Kindertornisters steckte ein schwarz-weiß-rotes Fähnlein, eins wie es die Jungen schwenkten, wenn sie unter den Bäumen in der Rothschildallee Krieg und Soldaten spielten. Zwar sah Johann Isidor zur rechten Zeit, dass sich sein Sohn aus dem Abteil lehnte und dass er den Mund aufmachte zu dem Abschiedsgruß, auf den ein Vater in der letzten Stunde, die beiden bleibt, Anspruch hat. Doch als der Zug anfuhr, hörte der Vater des Kriegsfreiwilligen Sternberg nur seine eigene Stimme. Sie rief »Leb wohl«, und die beiden Worte schmerzten im Hals, als wären sie mit Nadeln gespickt.

Die Erinnerungen betäubten Johann Isidor. Sie lockten den Taumelnden immer weiter in eine Hölle aus schwarzen Wolken und kochender Lava. Er fühlte, wie seine Arme schwer wurden und die Beine schwach. Der Kopf schwoll zum Ballon an, zu einem roten, Hohn johlenden Ballon, der beim ersten Windhauch, der ihn traf, platzen würde. Im allerletzten Moment gelang es Johann Isidor jedoch, seine Augen aufzureißen. Er sah den Sohn, der ihm noch geblieben war.

Zunächst hielt er den Jungen im grauen Anzug – die Ärmel der Jacke zu lang, die Hose zu kurz – für die Sinnestäuschung, die von den Menschen Besitz ergreift, wenn sie krank, ausgehungert und ausgebrannt sind, wenn sie die Beute von Hoffnungen werden, die aus den Klugen armselige Tölpel machen. Dann begriff er, staunend und zunächst unfähig, auch nur mit einem Blick auf seine verblüffende Wahrnehmung zu reagieren, dass es in diesem irrwitzigen Spiel der Sinne nur einen einzigen Irrtum gab: zu glauben, dass den eigenen Augen nicht zu trauen war.

Erwin, den sein Vater noch ein Kind dünkte, einen kecken, vorlauten Buben, einen frechen, blasierten Lümmel, der vom Leben keine Ahnung hatte, dieser verkannte Erwin löste sich aus einer kleinen Gruppe von Gleichaltrigen. Mit baumelnden Armen und rot glühendem Gesicht ging er auf seinen Vater zu. Er lief langsam, dieser selbstständige, aufmüpfige, gescheite Sechzehnjährige. Er tat so, als müsse er seine Schritte zählen, starrte auf seine schwarzen Stiefel wie einer, der sein Lebtag vom Leben geduckt worden ist, doch als er seinem Vater die Hand hinstreckte, hielt er den Kopf hoch.

Sie waren beide verlegen, unsicher, einander fremd und doch für immer aneinandergeschmiedet, denn der eine war der Sohn und der andere der Vater. Sie waren darauf bedacht, das rechte Wort zu sagen, es richtig zu betonen, jede Fehldeutung, jede Unterstellung zu vermeiden. Ein jeder gab acht, den anderen nicht zu verletzen, ihn nicht herauszufordern, den feinen Faden nicht zu zerschneiden, der sie miteinander verband.

Vater und Sohn hatten sich ihr Leben lang nicht zufällig getroffen. Die Berührungspunkte ihrer Begegnungen waren vorgegeben, waren auf die Wohnung, die Synagoge und gelegentlich auf das Wohnzimmer von elterlichen Freunden beschränkt. Die kleinen Kinder gingen mit den Eltern in den Zoo, fütterten sonntags die Enten im Weiher am Ostpark, zählten mit dem Herrn Papa die Einschüsse von der Blechfahne am Eschenheimer Turm und mit der Frau Mutter die Klicker, die sie beim Murmelspiel im Park gewonnen hatten. Und waren diese Kinder alt genug, um die Eltern nicht mit schlechten Manieren zu blamieren, durften sie mit ihnen zu einem besonderen Anlass ein Stück Frankfurter Kranz im Café Bräutigam essen und zur Weihnachtszeit mit der Mutter »Peterchens Mondfahrt« oder »Hänsel und Gretel« im Opernhaus anschauen. Konvention und Gewohnheit legten die Rollen von Bürgersöhnen und höheren Töchtern fest. Die Eltern führten das Wort, die Kinder hatten zuzuhören; der Vater befahl, die Kinder gehorchten.

»Wo kommst du her?«, fragte Johann Isidor, nachdem sie sich begrüßt und ein paar Minuten lang von der für November ungewöhnlichen Kälte gesprochen hatten.

»Von zu Hause«, antwortete Erwin. Er fuhr sich mit einem zerknüllten Taschentuch über die Stirn. Der Schreck war schon während der meteorologischen Erörterungen abgeebbt, nur die Lippen waren noch steif.

»Woher hast du von der Versammlung hier gewusst? Ich meine, wir haben doch nie über so etwas gesprochen.«

»Wir nicht«, sagte Erwin. Er traute sich tatsächlich, das erste Wort zu betonen. Ganz wenig, ohne zu provozieren, nur um der Wahrheit willen. »Aber ich bin schon seit zwei Jahren in der Jugendgruppe der Gemeinde. Da reden wir viel über solche Dinge.«

War sein Blick denn wie immer? Grinste er etwa wie bei Tisch, wenn Clara ihm Rückhalt signalisierte? Rebellierte dieser frühreife Knabe, und wenn er rebellierte, gegen wen? War er nicht immer verschlossener gewesen als sein Bruder, sich selbst genug? Und nun war er erwachsen geworden, ohne dass der Vater es gemerkt hatte. Die Zeit raubte einem nicht nur den Lebensmut, sie nahm einem Mann auch die eigenen Kinder.

»Es tut mir leid für dich, Vater«, sagte Erwin.

»Was meinst du?«

Johann Isidors Augen flackerten die Ratlosigkeit, der kein Vater von heranwachsenden Söhnen entkommt. Er aber erlebte es zum ersten Mal, dass ein Sohn ihn verwirrte und es wagte, den Vater in das tiefe schwarze Loch zu stoßen, das er mit der Kraft und der Unverfrorenheit ausgehoben hatte, die nur den Jungen gegeben ist. Otto war nie ein Rebell gewesen, er hatte nicht zu früh wissen wollen, was in der Welt geschah. Otto hatte seinen Platz im Leben gekannt. Er hatte seinem Vater nicht den Boden entzogen, auf dem er stand. Seine Pflicht – nicht mehr und nicht weniger – hatte Johann Isidors Ältester getan. Ohne viel zu fragen und ohne zu zögern. Otto war der Sohn gewesen, den sich ein Vater wünschte.

»Die ganze Sache mit der Judenzählung und so«, nahm Erwin das Gespräch wieder auf. »Es muss doch schlimm für dich sein. Du hast doch an Deutschland geglaubt. Wahrscheinlich denkst du jetzt noch, die Leute werden die Judenzählung verurteilen und uns vor den Dreckschleudern der Antisemiten verteidigen. Aber ich bin nie ein Optimist gewesen.«

»Um Himmels willen, du bist doch erst sechzehn. In deinem Alter hat man noch keine Meinung zu haben. Bringen sie euch die Schwarzseherei in der Jugendgruppe bei?«

»Nein, in der Gruppe habe ich nur das Denken gelernt. Und die Augen aufzumachen. Und zu sagen, was ich denke.«

»Das, mein Sohn, hast du schon immer getan. Weiß eigentlich deine Mutter, dass du in diese Gruppe gehst?«

»Nein, meine Schwester.«

»Welche? Du hast, glaube ich, drei?«

»Alice.«

Es war das erste Mal, dass Johann Isidor mit seinem zweiten Sohn, der seit zwei Jahren sein einziger war, einen Scherz wagte. Ihm fiel es auf, als sie beide zu gleicher Zeit lachten. Sie gingen, obgleich Erwin sich mit zwei Freunden aus der Gruppe verabredet hatte, um über Dinge zu sprechen, von denen Sechzehnjährige nicht wissen durften, dass es sie gab, gemeinsam nach Hause. Weil sie noch nicht gelernt hatten, miteinander zu reden, ohne dass der Vater die Regie übernahm, sprachen sie wenig. Sobald sie einander jedoch anschauten, spürten sie eine innere Wärme, die sie vorher noch nicht einmal erahnt hatten. Die Luft roch schon nach dem Schnee, der bald fallen würde. Wasserlachen waren zugefroren und spiegelglatt. Der Weg war mühsam, doch als der eine ausrutschte und vor dem Fallen bewahrt wurde, war es der Vater, der den Sohn in seinen Armen hielt.

»Donnerwetter«, sagte Erwin.

»Ist das der moderne Ersatz für danke?«

»Viel, viel mehr.«

Sie kamen einander nur in kleinen Schritten näher. In der ersten Zeit nach der überraschenden Begegnung bei der Protestversammlung beschränkten sie sich auf Blicke und auf angedeutete, nur von ihnen bemerkte Gesten, wenn vom Krieg, den Durchhalteparolen und den Niederlagen die Rede war. Ende November kam aus Wien die Nachricht, dass der greise Kaiser Franz Joseph gestorben war und dass sein Nachfolger Karl sich um Frieden bemühen wollte. Als Johann Isidor das beim Abendessen seiner Frau erzählte, schloss er den Bericht mit dem Kommentar: »Das ist der Anfang vom Ende.«

Sein Sohn sagte: »Hoffentlich.« Beide schauten einander an, und nicht nur sie rätselten, was mit ihnen geschehen war.

Betsy begriff erst im März 1917 den tatsächlichen Umfang der Wahrheit. Als dies geschah, stand sie im Arbeitszimmer ihres Mannes. Sie hielt ein Staubtuch in der Hand und war am Grübeln, ob erfrorene Karotten so übel schmeckten wie erfrorene Kartoffeln, wobei sie gleichzeitig ein winziges Spinnennetz von der Längswand entfernen wollte. Da bemerkte sie die gravierende Veränderung. Die berühmte Balkonrede des deutschen Kaisers war verschwunden. Stattdessen befand sich in dem silbernen Rahmen ein Gedicht von einer Henriette Fürth, von der sie noch nie gehört hatte. Schon wegen der Überschrift »Judenzählung« las Betsy jedes Wort der drei Verse. In dem zweiten hieß es:

»Nun zählt ihr uns. Wir wollen’s nicht ertragen. Was taten wir, dass man uns das getan? Wie durftet ihr nach dem Bekenntnis fragen? Wir fragten nicht in jenen hohen Tagen: Fürs Vaterland ward’s ungefragt getan.«

Diesmal war es nicht der Sekretär mit der schönen klaren Handschrift aus der Posamenterie Sternberg, der den Text abgeschrieben hatte. Es war, wie die verblüffte Mutter erkannte, ihr Sohn Erwin. Er war es auch gewesen, der das Gedicht der mutigen SPD-Politikerin Henriette Fürth entdeckt und seinem Vater auf den Schreibtisch gelegt hatte.

Da hatte Johann Isidor Sternberg bereits seinen eigenen Weg bestimmt. Ein Patriot würde er sein Leben lang bleiben, denn ihm reichte die eine Enttäuschung nicht, um seine Liebe zu Deutschland zu Grabe zu tragen. Dem Land aber, das er auch künftig zu lieben entschlossen war, vertraute er nicht mehr. Wenn sich nun seine Augen mit Tränen füllten, so weinte er nicht mehr um des Kaisers Soldaten, die auf dem Feld der Ehre ihr junges Leben gelassen hatten, er weinte nur noch um den eigenen Sohn. Ab dem Tag, da er begriffen hatte, was die Judenzählung für die Juden in Deutschland bedeutete, betete er, Gott möge den Krieg beenden, ehe Erwin zum Militär musste.

Den gesetzestreuen, gehorsamen Staatsbürger Sternberg drängte es nicht mehr, seine Kraft für ein Land einzusetzen, das sich so bereitwillig der Hetze der Antisemiten ergeben hatte. Seine Familie war ihm wichtiger als dieses Vaterland. Er fragte sich oft, weshalb er sechsundfünfzig Jahre zu dieser Erkenntnis gebraucht hatte. Einmal fragte er Erwin.

»Wahrscheinlich weil du nicht so einen Vater gehabt hast wie ich«, wusste der Nachdenkliche, »einer, der bereit war, seine Fehler zuzugeben.«

»Danke«, sagte Johann Isidor.

»Für die Wahrheit dankt man nicht, sagt unser Lehrer.«

»In der Schule?«

»In der Gruppe. In der Schule sagen sie immer noch, dass es süß ist, für das Vaterland zu sterben.«

Je schlimmer die Not in Deutschland wurde, je größer die Katastrophen des Alltags, desto mehr handelte Johann Isidor auf den illegalen Märkten. Er sorgte sich nicht mehr um die Unbeflecktheit seiner eigenen Weste, wenn es galt, den Hunger vor der eigenen Tür fernzuhalten. Obwohl er nach der Übertragung des Grundstücks an Fritzi Haferkorn nicht mehr verpflichtet war, für sie und seine Tochter Anna zu sorgen, schickte er, sooft es ihm möglich war, einen Boten mit Brot und Fleisch, Fett und warmer Kinderkleidung in die Textorstraße. Gelegentlich fand sich eine Kinderzeichnung in seiner Geschäftspost – in einem Kuvert ohne Absender.

Nach und nach richtete sich Johann Isidor für die Dauer des Kriegs auf ein Dasein in einem Seelenpanzer ein. Ihm war die Neujahrsbotschaft 1917, mit der Kaiser Wilhelm II. die Truppen im Feld zu unvermindertem Kampf aufrief, kein zustimmendes Wort mehr wert. Er sah an den Hauswänden die Plakate, die zum Kauf von Kriegsanleihen mit dem Text lockten: »So hilft dein Geld dir kämpfen. In U-Boote verwandelt, hält es dir feindliche Granaten vom Leib«, doch er zeichnete keine einzige Kriegsanleihe. Als ein deutsches U-Boot den britischen Passagierdampfer »Laconia« versenkte, was sogar Josepha begeisterte, entschlüpfte ihm kein Wort des Jubels.

Nachdem die Fünf-Pfennig-Münzen aus Kupfer eingezogen und durch Aluminiumgeld ersetzt wurden, erzählte die nunmehr achtjährige Victoria, sie hätte ihre »guten Fünf-Pfennig-Stücke« unter der Matratze versteckt und einen ganzen Haufen von ihrer Freundin Marie dazu. »Ich habe ihr dafür mein Buch vom tapferen Kanonier gegeben«, berichtete die clevere Vaterlandsverräterin.

Ihre Mutter trat sie warnend unter dem Tisch, doch der Vater sagte: »Bravo, mein Kind. Du hast den Sternberg’schen Kopf.«

Das war das endgültige Eingeständnis des Johann Isidor Sternberg, dass er es aufgeben hatte, ein deutscher Held zu sein. Er war, als er seinen Platz im Leben neu bestimmte, zwar wehmütig und beschämt, und er kam sich wie ein Pferd ohne Reiter vor, er war jedoch zufrieden und gewillt, nur noch ein guter Ehemann und treu sorgender Vater zu sein. Dieser Wunsch wurde ihm erfüllt. Nur ein wenig anders, als er sich vorgestellt hatte.

Am 1. April wurde er zu der mutigsten Entscheidung seines Lebens befohlen. An diesem Tag, ursprünglich den Narren und Spaßmachern zugedacht, wurden die Brotrationen im Deutschen Reich auf einhundertsiebzig Gramm pro Tag gekürzt. Aus verschiedenen deutschen Städten wurden Fälle von Hungertyphus und Cholera gemeldet. Die Kriegserklärung der USA an das Deutsche Reich stand unmittelbar bevor. Tante Jettchen, der man mit gutem Grund die traurige Nachricht vorenthalten hatte, erfuhr durch einen Versprecher von Josepha, dass sich der abgesetzte Zar, seine Darmstädter Gattin und seine sämtlichen Kinder in Haft befanden. Jettchen, die die Zarin als eine Schönheit aus Hessen hatte aufwachsen sehen, konnte mittags noch nicht einmal die winzige Portion gedünstete Kohlrüben mit Sauerampfersoße essen, die ihr zugedacht war. Johann Isidor bemerkte es nicht. Er war wider Erwarten nicht zu Tisch erschienen.

Obwohl in der Posamenterie keine neue Ware mehr angeliefert wurde und die Nachfrage nach lustigen Kriegspostkarten sehr gesunken war, behielt er die Gewohnheit bei, morgens zu seinem Tagewerk aufzubrechen. Er ging stets zuerst in den Verlag und dann in sein Kontor in der Hasengasse. Nachmittags kümmerte er sich um Besorgungen, für die nicht mehr die Geschicklichkeit einer energischen Frau erforderlich war, sondern Männermut und Kaltblütigkeit. Zum letzten Punkt des Programms kam er am 1. April nicht mehr.

Auf dem Silbertablett lag zwischen den Geschäftsbriefen an den Posamenter Sternberg ein Umschlag, der spontan seine Aufmerksamkeit erregte. Die Adresse, in Großbuchstaben und Bleistift geschrieben, deutete auf eine ungeübte Hand. Auf der Rückseite hatte der Absender nur seine Initialen vermerkt, eine Gewohnheit, die Schreibern von Bettelbriefen zu eigen war. Umso aufschlussreicher war die Adresse. Der Briefschreiber wohnte in der Textorstraße. Johann Isidor riss das Kuvert auf. Da schon bebten seine Hände.

Fritzi Haferkorn, Amors Streich in lauer Nacht, die junge, fröhliche, unbekümmerte Frau, die sich so wunderbar mit den Wirrungen des Lebens zu arrangieren verstanden hatte, war tot. Der Malermeister Anton Wallerstadt, der vorgehabt hatte, Fritzi zu heiraten und der dies »leider verschoben hatte«, teilte dem »werten Herrn Sternberg« ihren Tod mit der Begründung mit, »Meine Verstorbene hätte das bestimmt so gewollt. Sie hat Sie sehr geschätzt.« Er selbst, schrieb er, müsse wahrscheinlich bald zum Militär. Seine Zurückstellung wegen Arbeit in einem kriegswichtigen Betrieb laufe Ende des Monats aus. »Sollte es Ihnen nicht möglich sein«, schrieb Meister Anton, »für Ihr Kind zu sorgen, sehe ich mich leider gezwungen, die kleine Anna ins Waisenhaus zu verbringen. Anders geht es nicht. Überlegen Sie sich das Ganze in Ruhe. Das Kind wird erst in zwei Tagen hier abgeholt. Sie brauchen auch keine Angst nicht zu haben, Anna in Ihr wertes Haus einzuführen. Die Fritzi hat keine ansteckende Krankheit gehabt. Nur eine Blutvergiftung. Sie wollte nicht zum Arzt. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie zu den Kosten für das Begräbnis der teuren Verblichenen beitragen könnten. Auch der Herr Pastor sollte eine Zuwendung bekommen. Er hat sich viel Mühe auf dem Friedhof gegeben. Ein Maler in einem kriegswichtigen Betrieb verdient zu wenig zum Leben und zu viel zum Sterben.«

Zwei Stunden lang saß Johann Isidor Sternberg bewegungslos hinter seinem Schreibtisch. Sein Gesicht war zu einer Maske gefroren, der Hemdkragen durchgeschwitzt. Immer wieder starrte er auf das frisch gewachste Parkett und wartete auf den Moment, da der Boden sich öffnen und den Weg zur Hölle freigeben würde. Er las den Brief, bis er ihn auswendig hätte aufsagen können, hielt ihn einmal dicht an sein Gesicht und hörte Fritzi lachen. Oder war es der Duft ihrer Lavendelseife, der ihn quälte? Er fühlte, dass ihn bald ein körperlicher Zusammenbruch lähmen oder ein barmherziges Feuer zu einem Gnom einschmelzen würde. Als die Lautlosigkeit ihn ertauben ließ und der Lavendelduft aus dem Zimmer schwand, sah er Betsy.

Ihr Gesicht war eine giftgrüne Fratze; ihr Mann begriff sofort, dass sie ihm nie verzeihen würde. Wenn Betsy Sternberg geborene Strauß, die stolze, wohlhabende Juwelierstochter aus Pforzheim, wenn eine solche Frau erfuhr, dass er die Ehe gebrochen und sie betrogen hatte, würde er auf immer ihr Gefangener sein, ein Hampelmann mit einer Bleikugel am Bein, eine Marionette an einer Schnur.

Johann Isidor hörte die Stimmen seiner Kinder – Kriegsgeschrei, das ihm die Sinne raubte. Victoria schnitt ihre Zöpfe mit einem Metzgermesser ab, Clara, sein Stolz in Schwesterntracht, riss ihre Haube vom Kopf und warf sie ihm vor die Füße. Wie ein Reiter, der sein lahmendes Pferd ermutigen will, klopfte ihm Erwin auf die Schulter. »Armer Papa«, tröstete der eben erst gefundene Vertraute und tätschelte seinen Kopf, als wäre er ein Schoßhund.

»Nicht mit mir«, wehrte sich der überführte Sünder, »so weit sind wir noch nicht.«

Er steckte den Brief des Anton Wallerstadt in seine Westentasche. Ein Mann von Ehre brauchte keine zwei Tage Bedenkzeit, um sich für die Anständigkeit und für sein eigen Fleisch und Blut zu entscheiden. Neunzig Minuten hatten gereicht, um ihm klarzumachen, dass eine Tochter von Johann Isidor Sternberg nicht in einem Waisenhaus aufwachsen durfte. Anna Haferkorn, der er eines Tages seinen Namen zu geben hoffte, gehörte in das Haus in der Rothschildallee 9.

Mit schwarzer Tinte und auf Vorkriegspapier schrieb der redliche Handelsmann Sternberg an den honorigen Malermeister Wallerstadt. Er kondolierte ihm zu Fritzis Tod, dankte ihm für seine Fürsorglichkeit, sicherte ihm die Übernahme der Begräbniskosten und eine Spende für den Pastor zu. Abschließend teilte er ihm mit, er würde um vier Uhr nachmittags in der Textorstraße sein, um das Kind abzuholen. »Bitte packen Sie ihr alles ein, was sie mitnehmen will. Wenn möglich auch eine Fotografie von ihrer Mutter.«

Dann ließ Johann Isidor den Boten kommen, den er immer in die Textorstraße geschickt hatte; er übergab ihm das Schreiben, das seine Ehe für immer belasten würde, zur umgehenden Ablieferung. Um halb vier machte er sich selbst auf den Weg. Die Nachmittagsluft war frisch und belebend, als er über die Alte Brücke ging. Auf einem Kohlenschlepper sonnte sich ein schwarz-weißer Hund. Johann Isidor nahm sich vor, im Sommer mit seinen Töchtern an den Main zu gehen. Noch musste er sie im Geiste zählen, um die Übersicht zu behalten.

Anna stand vor dem Haus, in das ihr Vater immer mit tief heruntergezogenem Hut gekommen war, neben ihr ein alter brauner Lederkoffer, zugebunden mit einer goldenen Gardinenschnur aus der Posamenterie Sternberg in der Hasengasse. Johann Isidor war gerührt. Die Kordel erschien ihm wie eine Nabelschnur zu seiner Vergangenheit. Er wollte bereuen, doch er genoss die Erinnerung an den Abend der Sünde.

Die kleine Anna war bleich und sah wie die Kinder in den Märchenbüchern aus, die sich im Walde verirrt haben, aber sie weinte nicht. In der Hand hielt sie eine Puppe in einem blauen Samtmantel mit pelzbesetzter Kapuze. Ihr Vater sah die Puppe und musste sich zusammenreißen, um nicht zu stöhnen. Er hatte die Puppe kurz vor dem Krieg in Paris gekauft, allerdings zwei davon. Die von Victoria hieß Madeleine und saß Arm in Arm mit dem Puppenjungen in Feldgrau auf ihrem Bett. Zu Johann Isidors noch größerem Schrecken trug Anna unter ihrem offen stehenden Mantel ein schwarz-rot kariertes Kleid mit weißem Spitzenkragen und Knöpfen in Form von Fliegenpilzen. Auch da hing das Gegenstück in Victorias Schrank. Es war für einen Vater, der ein so ausgeprägtes Gefühl für Gerechtigkeit hatte wie Johann Isidor, absolut zwingend gewesen, für seine beiden gleichaltrigen Töchter die gleichen Kleider und die gleichen Puppen zu kaufen.

»Wollen wir gehen?«, fragte Johann Isidor.

Anna nickte. Er sah, dass ihre Lippen bebten, und griff nach ihrer Hand. Der Weg von Sachsenhausen ins Nordend war weit, besonders für eine Achtjährige, die vor einer Woche den Tod ihrer Mutter erlebt hatte. Es gab aber so gut wie keine Droschken mehr für die Zivilbevölkerung, die Trambahnen fuhren nicht regelmäßig, und die ihm zur Verfügung stehende Zeit war für Johann Isidor zu knapp gewesen, um einen Transport zu organisieren. »Kannst du gut laufen?«, fragte er.

Noch antwortete das Kind nicht, doch es lächelte bereits. Ihr Vater glaubte, die Augen ihrer Mutter zu erkennen. Oder waren es die von Victoria? Er grämte sich, dass ihm nichts einfiel, um diese fremde Tochter zu trösten, die ihn mit dem Ernst einer Erwachsenen anschaute und die ihre Puppe so fest umklammerte, als könne die sie von allem Kinderleid erlösen.

Noch mehr grämte sich Johann Isidor, dass er Betsy nachgegeben und nie ein Telefon angeschafft hatte. Sie lehne es ab, hatte sie sich bei jeder Diskussion ereifert, die Kinder mehr als nötig der modernen Technik auszusetzen, und er hatte wie ein Schaf genickt und statt an Telefone an seine Umsätze und Ausgaben gedacht. Nun hatte er die Niete gezogen. Er würde seinen Fehltritt auf die alt-modische Art gestehen müssen – nicht am Telefon mit schützender Maske, sondern von Angesicht zu Angesicht. An der Wohnungstür und mit einem achtjährigen Kind an der Hand! Er war ein Ehebrecher, der den Pranger, an den er sich zu stellen hatte, selbst bauen musste. Der Überführte versuchte, sich den ersten Satz des Dramas vorzustellen, aber ihm fiel noch nicht mal das erste Wort ein.

Obwohl der Koffer schwer war und er seine Schritte den Kräften einer Achtjährigen anpassen musste, liefen sie von der Textorstraße bis zur Alten Brücke nur eine halbe Stunde. Der Main wurde von einer fahlen Abendsonne bestrahlt. Das Gras am Flussufer war schon grün. Möwen saßen auf Pfählen, Schwäne dümpelten im Wasser. Es gab nicht genug Brot, aber eine alte Frau fütterte sie mit großen Brocken. Der Kohlenschlepper mit dem Hund war immer noch da.

»Gehen wir da rüber?«, fragte Anna.

»Ja, du hast doch nicht etwa Angst, ins Wasser zu fallen?«

»Aber nein. Ich war jeden Freitag in Frankfurt. Die Mutti hat immer in der Schirn eingekauft. Zu Weihnachten ganz viele Puppenwürstchen.«

»Siehst du, und jetzt kannst du immer in Frankfurt wohnen. Nicht nur am Freitag. Und eines Tages gibt es auch wieder Puppenwürstchen.«

Sie gingen über die Brücke. Er war erleichtert, dass Anna nicht mehr »Onkel Johann« zu ihm sagte. Das würde den nötigen Erklärungen ein wenig den Stachel nehmen. Es war bestimmt leichter für eine Ehefrau, ihrem Mann eine einmalige Verfehlung zu verzeihen, als die jahrelangen Besuche bei seiner unehelichen Tochter zu akzeptieren. Ein einbeiniger Soldat mit einem Zigarettenstummel im Mund bot winzige, aus hellem Holz geschnitzte Schafe zum Verkauf an.

Anna zeigte ihrer Puppe die Schafe und flüsterte ihr ins Ohr, sie brauche keine Angst zu haben. Ihr Vater kaufte zwei Stück. Ein Schaf steckte er in seine Manteltasche, das zweite hielt er ihr hin. Sie machte einen kleinen Knicks und sagte prompt: »Oh, danke sehr, Onkel Johann.« Erst auf der Frankfurter Seite des Mains sprach sie wieder. Sie erzählte Johann Isidor, dass ihre Puppe eine Blutvergiftung gehabt hätte, aber zu ihr sei der Doktor sofort gekommen. So brach Anna in der ersten Stunde ihres neuen Lebens dem Mann, den sie eines Tages Vater nennen würde, das Herz. Plötzlich kam Farbe in ihr Gesicht. Die Augen glänzten. »Schau mal, das ist mein Vater«, rief sie erregt.

»Wie kommst du drauf? Wer hat dir denn das erzählt?«

»Meine Mutti. Sie hat gesagt, mein Vater ist ein ganz tapferer Mann gewesen. Er war der tapferste Mann auf der Welt. Er ist ertrunken, weil er fünf Männer gerettet hat, als sein Schiff untergegangen ist. Er musste das tun, er war der Kapitän.«

»Deine Mutter war eine kluge Frau. Wir werden sie nie vergessen, wir beide.« Er stellte den Koffer hin und beugte sich zu Anna, roch zum zweiten Mal an diesem Tag Fritzis Lavendelduft und wusste, dass es so kommen würde.

»Zu Allerheiligen habe ich meinem Vater immer eine Kerze hier hingestellt. Darf ich das bei dir auch?«

»Ja«, murmelte Johann Isidor. Er flehte Gott um Beistand an. »Komm, wir wollen sehen, dass wir nach Hause kommen, ehe es dunkel wird. Sonst fürchtet sich deine Puppe.«

Das letzte Stück vom Weg, die kurze Höhenstraße, erschien ihm länger als die gesamte übrige Strecke. Er sandte abermals Stoßgebete zum Himmel, dass wenigstens seine Kinder nicht zu Hause sein würden und dass ihm Betsy und nicht Josepha die Tür aufmachen würde. Josepha konnte ihre Gesichtszüge nicht beherrschen, wenn sie zornig oder enttäuscht war. Betsy blieb immer eine Dame.

Es war das erste Mal an diesem 1. April 1917, dem Tag der Narren, dass Gott den einen Narren erhörte.

Betsy stand im Hof, in ihrem Einkaufsnetz vier Briketts. Sie sah ihren Mann mit einem Koffer in der rechten Hand und einem kleinen Mädchen an der linken, und sie witterte in Sekundenschnelle die Wahrheit, denn sie hatte selbst im schwindenden Tageslicht Victorias Puppe erkannt. Als die kleine Anna einen Schritt tat, sah Betsy, dass sie unter ihrem Mantel das gleiche Kleid trug, das ihr Mann kurz vor Kriegsausbruch Victoria aus Paris mitgebracht hatte.

»Ach«, sagte Betsy. Sie sagte nur dieses eine Wort. Noch fehlten ihr die, die sie sagen wollte.

»Ich hab es heute erst erfahren«, erklärte Johann Isidor, »wir konnten uns nicht anmelden.« Er ließ Annas Hand zu abrupt los. Das Kind stolperte, er musste es auffangen. »Das ist Anna.«

»Und ich wette«, sagte Betsy, »ich weiß, wie ihre Mutter heißt.«

»Hieß«, verbesserte Johann Isidor leise. Er nickte, als hätte seine Frau schon die Frage gestellt, vor der ihm graute. »Ach Betsy, ich bin so froh, dass du da bist. Ich habe dir verdammt viel zu erzählen. Ich weiß nicht, ob ein Leben ausreichen wird. Dein Mann ist ein ganz großer Taugenichts.«

»Nein, ein Schlemihl«, widersprach Betsy. Nun war sie es, die Anna an die Hand nahm.