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SONNTAG IN EINEM WELTBAD

Baden-Baden, 28. Juni 1914

In Frankfurt erinnerten die Wolken auch im Sommer an aufgedunsene graue Schwämme. In Baden-Baden waren es flauschige Federwolken, die in den Monaten der Fülle am Mittagshimmel Reigen tanzten. »Sie sehen aus wie die Oberbetten von Frau Holle«, sagte Betsy beim Frühstück auf der Sonnenterrasse.

Ihre Tochter Clara, vierzehn Jahre und zwei Monate altklug, deutete das Schulterzucken der Besserwisser an. Sie setzte an, ihre Mutter zu fragen, wie eine Frau von zweiundvierzig Jahren auf einen so kindischen Vergleich gekommen war, doch sie wartete zu lange auf die schweigende Zustimmung ihres Zwillingsbruders und verpasste so die Chance, sich im Familienkreis als eine kritische junge Dame ohne falsch verstandene Ehrfurcht zu profilieren. Unter den letzten beiden Aufsätzen der Obertertianerin Clara Sternberg hatte der Deutschlehrer indes bemängelt: »Sprachlich einwandfrei, aber zu wenig Phantasie«.

»Zu wenig Phantasie«, grinste Erwin. Alle waren sich einig, dass er kein bisschen boshaft war und nur das Bedürfnis hatte, sein Gedächtnis zu trainieren.

Um die Mittagszeit verkündete der Baden-Badener Sommerhimmel wundersame Botschaften. Der lebenstrunkenen Jugend machte er weis, die Liebe würde ewig währen, der Mensch könne die Zeit festhalten und die Sterne vom Himmel holen. Den Alten redete ein Schalksnarr in den Wolken ein, die Sache mit dem Jungbrunnen wäre keine Erfindung von Poeten und Malern, sondern eine Wirklichkeit, nach der man nur die Hand auszustrecken brauchte, wobei es hilfreich sei, mindestens einmal im Jahr in die Quellen von Europas Kurbädern zu tauchen und ihr Wasser in kleinen Schlucken zu schlürfen.

Für den 28. Juni 1914 zeigte der Kalender Sonntag an. Ein himmelblauer Sonnentag war der, wie es vor ihm kaum einen in diesem Jahr gegeben hatte. Zwar waren die Morgenstunden bereits ein wenig schwül und schwer, doch die gelegentlich aufkommenden Brisen und der Duft von Jasmin stimmten froh und erwartungsvoll. Wie übermütige Füllen, die dünne Lederpeitsche für das beliebte Pferdchenspiel in der Hand, tollten ausgelassene Buben hinter dem Rücken ihrer flanierenden Eltern her. Ebenso übermütig gebärdeten sich die kleinen Mädchen mit den hübschen Schleifen im Haar und den zierlichen Ketten um den Hals. Trotz ihrer empfindlichen Sonntagskleider mit Rüschen und Volants und den schwarzen Spangenschuhen aus weichem Leder oder Lack hatten sie vergessen, dass edle Prinzen nur sittsame kleine Mädchen in ihre Königsschlösser führten.

Die Fremden, die im Sommer die gemütvolle Kurstadt belebten und die Badeärzte, Gastwirte und Geschäftsleute, die Musiker und Kutscher entzückten, fielen durch ihre feine Stadtkleidung auf. In vornehmer Haltung, manche so aufrecht wie Soldaten, saßen sie auf den weiß lackierten Bänken vor dem Musikpavillon und um die Blumenbeete, die Damen mit duftigen Hutgebilden, offenen Fächern und feinstem Schuhwerk. Viele Herren trugen ebenfalls sommerlich helle Kleidung – die mit den Prinz-Heinrich-Mützen erinnerten an Schiffskapitäne, die in den grünen Jacken mit hellen Hornknöpfen an Jäger.

Ohne die körperlichen Anstrengungen der zehrenden Badekur war der Sonntag in Baden-Baden ein angenehm ruhiger Tag. Der Kopf war frei, die Gedanken waren leicht, die Herzen froh. Auch Johann Isidor und Betsy saßen auf einer Bank im Kurpark und hielten das Leben für ein Kinderspiel. Sie hatten ihre Finger ineinander verschränkt, ihre Schultern und ihre Knie berührten sich, und wenn der eine den Atem des anderen hörte, hielten sie sich für ein junges Liebespaar, das noch Flügel hat und das genau weiß, wohin die Reise geht. »So ganz ohne Kinder«, bemerkte Johann Isidor. Er seufzte leise und erleichtert, und dann sagte er ungeniert: »Wunderbar.«

»Ein Himmelssegen«, bestätigte Betsy. »Und ich hab noch nicht einmal ein schlechtes Gewissen.«

»Das kommt erst morgen, wenn wir sie alle vier im Wald aussetzen. Wie die Eltern von Aschenputtel.«

»Hänsel und Gretel«, lachte Betsy, »man merkt, dass du keinem von ihnen je ein Märchen erzählt hast.«

»Sag nur, dass tun die Ehemänner von deinen Freundinnen.«

»Nein«, gab Betsy zu, »das tun die nicht. Die erzählen die Märchen ihren Frauen.«

Otto hatte sich unmittelbar nach dem Frühstück mit der verblüffenden Ankündigung verabschiedet, er wollte sich mit einer Ausstellung von Scherenschnitten beschäftigen, die am Vortag lobend in den Mitteilungen für die Kurgäste erwähnt worden war. Erwin und Clara erklärten – gleichfalls ohne zu erröten –, sie wollten im Hotel bleiben und mit der Pflichtlektüre für den Deutschunterricht beginnen. Nach einem Befehl des Vaters und einer diskret übergebenen geldlichen Zuwendung der Mutter hatten sie jedoch zugesagt, zwei Stunden ihrer kostbaren Studienzeit ihrer kleinen Schwester zu widmen und sie nicht umgehend mit dem Marmorkuchen ruhig zu stellen, der beim Frühstück auf den Tellern zurückgeblieben war.

»Ich könnte schwören«, sagte Johann Isidor und nickte dem Spirituosenhändler Fischmann zu, den er flüchtig aus Frankfurt kannte, »die beiden haben unseren Schatz längst bei meiner meschuggenen Großtante abgeliefert.«

»Lass mal. Die Gute ist ganz verrückt nach dem Kind.«

»Dabei müsste doch gerade sie wissen, was aus unschuldigen kleinen Kindern werden kann. Ich rede nicht allein von ihren missratenen Töchtern. Ich denke auch an meinen Bruder Samy, der sich für Rembrandt hält.«

Obwohl Johann Isidor sich gerade vorgenommen hatte, wieder einmal genau auszurechnen, wie viel er Samy schon zugesteckt hatte, damit seine bedauernswerte Frau und die beiden Kinder keine Not litten, schloss er zufrieden die Augen. Nur ein Wimpernschlag war für den Abschied von der Welt bestimmt, und doch entglitt dem Tagträumer die Wirklichkeit in Sekundenschnelle. Die Wolken verwandelten sich in die hüpfenden Lämmer auf den Frühlingswiesen seiner Kindheit, und ehe der Kurgast aus Frankfurt das Wort zum Protest fand, sah er die Bilder, roch die Düfte und hörte die beunruhigenden Klänge aus dem fernen Gestern. Als Johann Isidor gewahr wurde, dass er sich willenlos nach Hause hatte entführen lassen, versuchte er, Landschaft und Menschen wegzuschütteln, doch der Kopf gehorchte ihm nicht. Auf der Wiese hinter dem Vaterhaus stand ein Leiterwagen. Ein Ziegenbock meckerte. Oder war es bereits Rosch Haschanah, und in der Synagoge wurde das Widderhorn geblasen, das an Neujahr jeden Juden an seine Sünden erinnert?

Der soignierte Handelsmann Sternberg, in dessen Büchern keine Ziffer aus der vorgegebenen Ordnung sprang, grub seine Hand in die Tasche seines neuen Leinenjacketts. Ihm wollte nicht in den Sinn, dass ein Mann mit Embonpoint und ergrauendem Haar, der demnächst Besitzer seines ersten Automobils sein würde und dessen ältester Sohn ihn schon lange nicht mehr nach dem Leben befragte, so deutlich die Stimme der Mutter hörte.

Hanna Sternberg geborene Wertheim aus Hanau am Main, verheiratet nach Schotten und bei der Geburt ihres fünften Kindes dort im Kindbett verstorben, hatte ihre blaue Kittelschürze an. Sie duftete nach Hühnersuppe und dem frisch gebackenen Mohnzopf, der jeden Freitag neben der Flasche Wein lag, und hielt ein dick mit gelber Butter bestrichenes Brot in der Hand. Josi müsse sich beeilen, sagte die Mutter. Der Sabbat würde bald anfangen und der Vater zürnen, wenn er schon wieder nicht pünktlich am Tisch wäre.

»Es steht kein einziger Stern am Himmel«, wandte der gescholtene Bub ein, und dann sagte Johann Isidor mit einer Stimme, die jeder, der ihn kannte, sofort als die seine erkannt hätte: »Nur die Mutter hat mich Josi genannt.«

»Das kommt von dem Bad von gestern«, beruhigte ihn seine Frau. »Alle hier sagen, die Quellen greifen die Nerven an, und sie würden selbst noch am nächsten Tag ganz verrückt träumen.«

»Ganz verrückt«, bestätigte Johann Isidor. »Wozu ist das Ganze eigentlich gut, wenn die Quellen zehren und einem erwachsenen Mann Gespenster erscheinen? Was Unbekömmliches trinken kann ich ja auch zu Hause. Zum halben Preis.«

»Zu Hause kriegst du sonntags nur ein gekochtes Ei zum Frühstück und nie zwei Eier im Glas. Und den Sonntagskuchen gibt es bei Sternbergs erst nachmittags.«

»Ich beschwer’ mich ja nicht. Ich stelle nur fest.«

Die Glocke der Baden-Badener Stiftskirche tat ihren zwölften Schlag. Es war ein satter Klang, der den Wünschen ihre Begierde nahm, Nörgeleien den Stachel und Ängsten ihre Bedrohlichkeit. Von dem Rundbeet mit den purpurnen Rosen stiegen die Bienen summend hoch. Über einem kleinen Teich mit Wasserlilien kreisten Libellen. Ein vorwitziger kleiner Knabe im weißen Matrosenanzug, dessen Mutter schon sehr lange in ein Gespräch mit einer jungen Frau im hellblauen Tüllkleid vertieft war, pflanzte ein Holzstöckchen mit einem schwarz-weiß-roten Papierfähnchen zwischen die Blumen. Seine Mutter holte zum strafenden Schlag aus, doch der kleine Matrose war tapfer und geschickt. Er duckte sich im genau richtigen Moment. Die Mutter strauchelte. Ihr Heldensohn lachte.

Obwohl Johann Isidor kurz die Augen öffnete, sah er die Schokoladenpflaumen in Goldpapier, die in den Konditoreien auf den Kuchentheken lagen und die Victoria jeden Tag aufs Neue um ihre Zufriedenheit brachten. Ihr war bei einwandfreiem Betragen eine versprochen worden – allerdings erst am Tag der Abfahrt. Die Goldpflaumen, stellte Johann Isidor entsetzt fest, wurden immer größer. Sie rotierten umeinander und erschienen ihm wie Flammenschwerter. Von wo wurde er vertrieben und von wem? Er griff sich an den Hals.

»Wie sind wir eigentlich hierher gekommen?«, fragte er.

»Meinst du das im Ernst?«

»Nein!«

Johann Isidor Sternberg, der im Wachzustand nur an das glaubte, was er sah und anfassen konnte, war endgültig aus dem Irrgarten der Sommerträume zurückgekehrt.

Alle sechs Sternbergs waren zusammen mit Jettchen Bär, einer verwitweten, vermögenden und vereinsamten Großtante des Hausherrn, vor zehn Tagen im Badhotel zum Hirsch abgestiegen. Die Kinder zu einer Badekur mitzunehmen war ein Entschluss in letzter Minute gewesen – und wahrhaftig kein freiwillig getroffener. Erwin und Clara hatten zu ihren beiden Tanten und den vielen Cousinen und Vettern nach Pforzheim fahren sollen, doch hatten Betsys Schwestern kurzfristig und mit fadenscheiniger Begründung ihre Einladungen auf die Herbstferien verschoben. Victoria war hauptsächlich auf Jettchens Drängen mitgenommen worden. Die liebenswerte Tante aus Darmstadt mit den aufsehenerregenden Spitzenjabots, die sie aus Brüssel kommen ließ, und einem Gehstock mit silbernem Löwenkopf hatte ein sprichwörtlich goldenes Herz und eine äußerst freigiebige Hand. Jettchen war nach dem Tod von Erbtante Luise die Doyenne der Familie. Von ihrer Schwester hatte sie sowohl den kostbaren Familienschmuck übernommen als auch die Anhänglichkeit an ihren Großneffen Johann Isidor. Betsy liebte sie, den Kindern erfüllte sie auch jene Wünsche, die als unbescheiden und ungehörig galten. Nur bei dem Mohren aus Togo, den Victoria bei ihr bestellt hatte, gab sie sich unbeugsam.

Mit den eigenen Kindern hatte Jettchen weniger Fortüne gehabt. Ihre beiden Töchter hatten sich vor der Hochzeit katholisch taufen lassen und Jahr um Jahr die Verbindung zur Mutter gelockert. Ihre Enkelkinder kannte sie nicht. Diese Erfahrung und eine immer größer werdende Sehnsucht nach Familienleben hatten aus dem jung gebliebenen Jettchen mit dem heiteren Gemüt eines schwärmerischen Mädchens eine einsame, verbitterte Frau gemacht.

Als Großtante Luise im März 1914 starb, hatte Betsy, als wäre es ein göttliches Gebot, den leer gewordenen Stuhl am Familientisch neu zu besetzen, Jettchen umgehend eingeladen, das acht Tage währende Pessachfest in Frankfurt zu verbringen. Noch ehe das Bitterkraut gereicht wurde, das am ersten Abend an den Auszug der Kinder Israels aus Ägypten erinnert, hatte sich Jettchen in Victoria verliebt. Fortan nannte sie die Sechsjährige abwechselnd Vickylein und Herzchen und ließ sich durch keinen Einwand von dem Gedanken abbringen, ein anstrengendes und vorlautes kleines Mädchen würde ihr in der Sommerfrische die entgangenen Großmutterfreuden ersetzen und ihrer Gesundheit förderlich sein. So verwunderte es auch keinen in der Familie, dass Jettchen die Einzige war, die es entzückend fand, dass ihr Vickylein an der exquisit gedeckten Hoteltafel saß, schmollend ihr Brot in die Suppe versenkte und mit ihrer schönen klaren Stimme nach Josephas Hackbraten und Kirschauflauf jammerte.

Die Anregung zu einer Badekur stammte vom guten Doktor Meyerbeer, der mit den Jahren nicht nur der Hausarzt, sondern Familienfreund und Vertrauter geworden war. Meyerbeer hielt viel von deutschen Heilbädern. Nur in guter Stimmung und bei seinen besten Freunden war er allerdings bereit, seine Wertschätzung zu begründen. »Ich bin«, pflegte er zu erzählen, »in Bad Ems auf einen Schlag von meinem Herzleiden kuriert worden.« Die Spontanheilung verdankte er seiner tüchtigen Gattin, die im vergangenen Sommer zwischen Kurkonzert und Nachmittagskaffee einen gut aussehenden und gut verdienenden Ehemann für Tochter Emilie eingefangen hatte. Fräulein Emilie konnte man im günstigsten Fall als eine außergewöhnliche Erscheinung bezeichnen; zum Zeitpunkt ihrer Verehelichung war sie bereits fünfundzwanzig, trug Brille und war oft unpässlich.

Obwohl sich zwischen der mühsamen Verheiratung seiner schwächlichen Tochter und dem anhaltend schmerzhaften Lumbago des Patienten Sternberg keine überzeugende Parallele ziehen ließ, empfahl Doktor Meyerbeer eine Kur im »schönen Bad Ems, wo auch unser seliger Kaiser Wilhelm I. und die Hohe Frau jahrelang zur Kur waren«.

Johann Isidor spürte ein unangenehmes Brennen auf der Stirn. Wie meistens, wusste er wesentlich mehr, als er zu sagen beabsichtigte. Er wusste beispielsweise, dass sich in Ems, obwohl es immer noch den Ruf hatte, ein kosmopolitisches Bad zu sein, seit dem Krieg von 1870 eine latente Fremdenfeindlichkeit breitgemacht hatte. Vorurteile und Ablehnung galten längst nicht mehr nur den paar französischen Kurgästen, die weiterhin nach Bad Ems kamen. Die katholischen und jüdischen wurden ebenfalls nicht gern gesehen. In einem Saisonbericht hatte ein Badekommissar gerügt, die Juden würden an den öffentlichen Plätzen einen »widerwärtigen Raum einnehmen«.

»Nicht nach Bad Ems«, sagte Johann Isidor in der Praxis von Doktor Meyerbeer.

»Gehen Sie nach Baden-Baden«, empfahl Bankier Weidenfeld, als er Sternberg im Café Bräutigam traf und das Gespräch zufällig auf die anstehende Kur kam. »Dort grüßt man Sie freundlich, auch wenn Sie Levy oder Cohn heißen.« Mit seinem Ratschlag erwies sich der in Frankfurt stadtbekannte Bankier nicht nur als ein Kenner der deutschen Kurbäder, er hatte mit einem einzigen Satz auch bestätigt, dass das immer wieder aufkommende Gerücht über seine Abstammung stimmte: Der von allen hofierte Bankier stammte aus einer jüdischen Familie. Trotz seines Übertritts zum Protestantismus und den regelmäßigen Spenden an seine Kirchengemeinde gelang es ihm nie, anhaltend zu verdrängen, dass er seit der Hochzeit den Familiennamen seiner Ehefrau führte und dass sein Großvater mütterlicherseits Nathan Levy geheißen und Kurzwaren an die Landbevölkerung verkauft hatte.

Johann Isidor erinnerte sich noch nach Jahren an das Gespräch. Nicht nur weil Weidenfeld, der als äußerst zurückhaltend galt, ihm spontan vertraut hatte. Der Bankier hatte Johann Isidor ein für alle Mal klargemacht, dass es auch jenen, die sich neue Rudel suchen, nicht gelingt, sich von ihren Wurzeln zu befreien. »Baden-Baden ist weltoffen«, sagte Weidenfeld, »das ist schon ein Teil des Kurerfolgs.« Aus dem gleichen Grund empfahl er das Badhotel zum Hirsch. »Gediegen, aber nicht pompös. Der Hirsch hat wirklich Tradition. Und einen guten Koch.«

Frau Betsy war hingerissen, als sie erfuhr, wer Baden-Baden empfohlen hatte. Sie errötete wie ein Backfisch. Noch während ihr Mann sprach, begann sie zu überlegen, welche Stücke ihrer Garderobe sich für den Aufenthalt in Deutschlands elegantestem Bad eignen würden. Allerdings war sie der Meinung, Europas Könige, der Hochadel und die russischen Aristokraten würden immer noch nach Baden-Baden strömen, im Spielkasino mit Goldstücken ihr Glück versuchen und sich bei Tagesanbruch im Kurpark erschießen, weil sie ihr Vermögen verspielt hatten.

»Oder bei Vollmond«, sekundierte Johann Isidor. »Einige von den armen Teufeln«, lächelte er, »laufen sogar nackt herum, weil sie ihr letztes Hemd verspielt haben. Ach, meine süße Betsy, Gott erhalte dir dein romantisches Gemüt. In Baden-Baden gibt es überhaupt keine Spielbank mehr. Wilhelm I. hat 1872 alle deutschen Spielbanken schließen lassen. Jetzt ist Baden-Baden wieder ganz moralisch. Und auch wieder ein Dorf, hab ich mir sagen lassen. Du wirst auch ohne Nerzcape zum Kurkonzert gelassen.«

Noch gab sich Madame Sternberg nicht geschlagen. Zu groß war ihr Bedürfnis, in Baden-Baden zu repräsentieren und zu Hause ihren anspruchsvollen Freundinnen zu erzählen, wie sie dies getan hätte. Bei denen informierte sie sich umgehend und brachte dann zum Verdruss ihres Manns das Hotel Messmer ins Gespräch. Dort hatte, so erfuhr er, Wilhelm I. während seiner vielen Baden-Badener Aufenthalte zu residieren gepflegt. »Nur«, berichtete Betsy, »haben die sich, während er da gewohnt hat, Maison Messmer genannt. Der Kaiser durfte ja nicht in einem Hotel wohnen.«

»Der Hirsch wird sich für den Sohn eines jüdischen Viehhändlers aus Schotten nicht umbenennen müssen«, sagte Johann Isidor. Es missbehagte ihm, dass seine Frau, die allgemein als bescheiden gerühmt wurde, mit zweiundvierzig und als Mutter von vier Kindern immer noch den Hang hatte, dann und wann nach den Sternen zu greifen.

»Der ist noch nicht reich, der nicht zufrieden ist«, zitierte er aus dem Sprichwortschatz seiner Mutter.

Er selbst war mit dem Quartier – mitten in der Stadt und doch mit Blick auf den herrlichen Park – mehr als zufrieden. Auch Otto, der durchaus in Frankfurt hatte bleiben wollen, fand in den ersten zehn Tagen in Baden-Baden keinen Grund zur Klage und alles »famos« und »fabelhaft«, obwohl die Eltern ihn immer noch so behandelten wie seine sechsjährige Schwester: Für gute Führung war dem achtzehnjährigen Gymnasiasten, den noch nicht einmal ein Jahr vom Zeugnis der Reife trennte, eine Belohnung in Aussicht gestellt worden. Wenn Otto die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllte, sollte er den zweiten Teil der Sommerferien bei einem verwitweten Onkel seiner Mutter verbringen. Der wohnte in Paris, hatte vier erwachsene Söhne und eine bildschöne Tochter in Ottos Alter. Otto kannte Tochter Toni von Fotos, deren Vater hatte er von seinen Besuchen in Frankfurt als äußerst großzügig und angenehm liberal in Erinnerung. Vor allem hatte er schon vor zwei Jahren seinem Großneffen das »wahre Leben« avisiert. Obwohl die Eltern Sternberg dem Pariser Zweig der Familie nie ganz getraut hatten, waren sie guter Hoffnung, ihr Ältester würde durch den Besuch beim Onkel seine blamabel schwachen Französischkenntnisse aufbessern, schließlich waren sein Abitur und somit der Ruf der ganzen Familie in Gefahr.

Wider Erwarten interessierte sich Otto sehr viel mehr für Baden-Baden als für Paris. Weil der Empfangsportier ein Herz für grazile schwarzhaarige Jünglinge hatte, war dem Primaner eines der schönsten Einzelzimmer im Haus zugeteilt worden. Es wurde von einem ausnehmend hübschen Zimmermädchen versorgt, das sich besonders gut auf Gäste verstand, die noch keine Gebrechen hatten, für die sie Heilung in Baden-Badens Quellen suchten. Schüchternen jungen Burschen, die ihr Portemonnaie und eine teure Krawattenperle unter der Leibwäsche versteckten, war sie besonders gefällig.

Nur Johann Isidor machte eine Badekur. Doktor Meyerbeers Diagnose war von einem Baden-Badener Kurarzt mit Professorentitel, Monokel, Zigarre und der Gepflogenheit, nach jeder Konsultation abzurechnen, bestätigt worden. »Der endgültige Erfolg«, schränkte er jedoch ein, womit er allen Zweifeln und Ansprüchen seiner Patienten vorzubeugen beliebte, »wird sich allerdings erst bemerkbar machen, wenn Sie wieder zu Hause sind.«

»Das ist praktisch«, resümierte Johann Isidor, »jedenfalls für die Ärzte.« Er empfand die Kur, die er zum Teil in den Badekabinen des Hotels und zweimal in der Woche im beeindruckenden Friedrichsbad absolvierte, anstrengend und als eine Zumutung für Menschen, die es nicht schätzten, wenn sie wie widerspenstige Schuljungen behandelt wurden. An besonders kräftezehrenden Tagen konnte sich der tatkräftige Handelsmann Sternberg, dem in der Heimat von Freund und Feind die rasche Entschlusskraft der Tüchtigen attestiert wurde, nicht entscheiden, wie er sich überhaupt fühlte. War er ein schutzbedürftiger Schwächling, oder hatten ihn die Herren Doktoren zu einem alten Mann deklariert? Allzu oft registrierte er neue Ermüdungserscheinungen. Und war es vielleicht doch ein Hinweis auf seine vierundfünfzig Jahre, dass er sich an den Badetagen bereits vor dem Mittagsmahl nur mit Mühe wachhalten konnte und beim Einschlafen an Menschen dachte, die schon längst verstorben waren?

Die Schwebezustände zwischen Traum und Wirklichkeit kränkten ihn am meisten. Wenn ihm die Umrisse des Lebens entglitten waren, kam er sich bei der Rückkehr aus der vernebelten Welt wie die alten Herren mit Panamahüten vor, die mit ausgestreckten Beinen, eine verglühte Zigarre in der Hand, um den Musikpavillon saßen und wie auf Kommando alle gemeinsam einschliefen, sobald das Kurorchester zu spielen begann. War Johann Isidor indes gut gelaunt, was er eher den badischen Weinen am Abend als den Baden-Badener Quellen bei Tag zu verdanken hatte, registrierte er eine Virilität, die ihn belebte und die er nicht mehr erwartet hatte. Die Nacht, die hinter ihm lag, war wahrhaftig keine gewöhnliche gewesen. Er überlegte, ob Betsy wohl deshalb anders aussah als sonst. »Mir gefällt dein neues Kleid«, sagte er.

»Mein Kleid hat mir die Bachmaier vor zwei Jahren für das Sommerfest im Palmengarten genäht. Aber meine Frisur ist neu. Seit Donnerstag. Macht nichts. Du brauchst dich nicht zu schämen. Heute haben wir ja erst Sonntag.«

Er schaute Betsys Lockenkopf mit der zitronengelben Seidenschleife am Hinterkopf verlegen an, schalt sich einen verkalkten Trottel, fing sich jedoch sofort wieder, beugte sich zu ihr hinüber und küsste ihre Hand – mit geschlossenen Augen.

»Kommt ein Adler geflogen«, summte er nach der Melodie des alten Kinderlieds.

»Um Gottes willen, Johann, ist dir nicht gut?«, fragte Betsy. Sie sprang auf und fühlte seine Stirn.

Er war ziemlich sicher, dass die weißen Knöchelstiefel mit den vielen Knöpfen ebenfalls neu waren, wollte sich jedoch nicht erneut blamieren und lächelte nur. »Kannst dich ruhig wieder hinsetzen. Wahrscheinlich habe ich einen Sonnenstich«, sagte er. »Das wird künftig zum Glück nicht mehr passieren. Der Adler hat ja ein Dach.«

»Siehst du. Ich sag doch immer, dass du es nicht verträgst, so lange in der Sonne zu sitzen.«

»Ach Betsy, ich liebe dich. Auch wenn du deine Haare hinter meinem Rücken abschneiden lässt und so begriffsstutzig geworden bist, dass es einen Hund jammert. Erwin hätte längst verstanden. Von Otto gar nicht erst zu reden. Seit zehn Minuten versuch ich dir zu erzählen, dass ich mir ein Auto gekauft habe. Einen Adler.«

»Hab ich noch nie von gehört. Ist das was sehr Teueres?«

»Was sehr Gutes. Und Gediegenes. Keiner wird mit dem Finger auf uns zeigen und uns als Protz beschimpfen. Und ich werde auch nicht bankrott gehen. Du kannst dir also so viele Stiefel kaufen, wie du willst.«

»Hast du sie also doch bemerkt. Es gibt hier hochelegante Schuhgeschäfte. Da kann sich Frankfurt eine Scheibe abschneiden. Clara braucht auch neue Schuhe. Sie hat sich in welche verliebt, die Mary Jane heißen, genau wie das Mädchen in ihrem Englischbuch. Das fängt heute ganz früh bei den jungen Mädchen an, dass sie sich für Mode interessieren.«

»Meine Tochter nicht. Clara ist doch noch ein Kind. Und wozu braucht ein Kind moderne Schuhe? Sie kann doch deine alten auftragen. Jedenfalls eines Tages, wenn sie hineingewachsen ist. Wenn sie mit uns im Auto sitzt, sieht ja ohnehin niemand ihre Füße. Außerdem soll nur einer wagen, nach den Beinen meiner Tochter zu schielen.«

Es roch nach Zimt und Vanille und, wenn der Wind den Duft herüberwehte, nach frisch gemähtem Gras. Das war das Angenehme an Baden-Baden. Es war nach den Tagen von Glanz und Gloria und den schäumenden Illusionen von Reichtum und gesellschaftlichen Ehren wieder zu seinen beschaulichen Anfängen zurückgekehrt. Der liebenswürdige Ort war kein Dorf, dennoch eine Idylle, auf eine selbstverständliche Art vornehm und nicht großspurig. Ein Mann wie Johann Isidor Sternberg, der nicht mit einem goldenen Löffel in der Hand auf die Welt gekommen war und der nun durch eigene Arbeit oben stand, fühlte sich wohl in Baden-Baden. Wenn er auf einer Bank im Kurpark saß und die Früchte seiner Arbeit genoss, fragte ihn keiner nach Stand und Konfession. Er durfte wie ein Jüngling träumen und wie ein Alter Rückschau halten. Seine Träume eilten dem Tag voraus. Zu Hause würden die Nachbarn den Hut ziehen, wenn er sonntags in seinen grünen Adler stieg, um seine Frau und seine wohlgeratenen Kinder in den Taunus und an den Rhein zu chauffieren.

»Wo willst du lieber hin, Betsy«, fragte er, »ins Café Blum nach Wiesbaden oder ins Kreiner nach Königstein?«

»Wiesbaden ist eleganter«, sagte Betsy, »aber der Kuchen ist besser im Kreiner.«

»Da haben wir den Salat. Wir werden von jetzt ab immer zwischen zwei Stühlen sitzen. Mein Vater hatte recht. Besitz bringt Sorgen, hat er immer gesagt.«

»Deine Sorgen möcht’ ich haben. Und dem Rothschild sein Geld.«

»Meine Sorgen sind auch deine. Das hat der liebe Gott so eingerichtet bei Eheleuten. Und dem Rothschild sein Geld möchte ich gar nicht haben. Ich würde total durcheinanderkommen. Ich hab ja noch nicht einmal genug Söhne, die ich in die Welt schicken kann.«

Johann Isidor war es nicht gewohnt, in der Öffentlichkeit zu lachen. Ihm war es, als hätte er die Stille zerrissen und die Menschen gestört, die ihre Ruhe genießen wollten. Er schaute sich befangen um und atmete tief ein. Die Luft war schwer und drückend, doch sein Kopf war leicht, und das Herz blieb froh. Vielleicht war es nicht die Einbildung der Nacht, am Ende war er in den letzten Tagen wirklich jünger geworden. Es war gut, unter einem freundlichen Himmel die Segnungen zu zählen, die der Herr ihm beschieden hatte. Ein Mann musste Gott für seine Wohltaten danken, solange er noch in vollem Saft stand.

»Unsere Kinder«, hörte er sich sagen, »werden höchstwahrscheinlich nicht mehr wissen, wie es ist, auf ein Ziel hinzuarbeiten und sich zu freuen, wenn man es erreicht hat. Ihr Vater ist immer noch in dem Stadium. Manchmal denke ich, ich müsste ihnen beizeiten Demut beibringen, aber ich weiß nicht wie.«

»Und ich bekomme einen Kopf wie einen Luftballon, wenn du Dinge sagst, die ich nicht verstehe.«

»Das Salz der Ehe besteht ja darin, dass ein Mann Dinge sagt, die seine Frau nicht versteht.«

»Da! Das habe ich schon wieder nicht verstanden.«

»Lass dir keine grauen Haare wachsen, Betsy. Wir können ja nicht alle klug sein. Komisch, was ist heute mit unserem Kurorchester passiert? Die haben doch tatsächlich vergessen, Schuberts ›Unvollendete‹ zu spielen.«

»Haben sie nicht. So was würden die nie tun. Du hast gerade geschlafen, als es so weit war. Bestimmt hast du auch nicht ›Die schöne Müllerin‹ gehört.«

»Heute Nachmittag passe ich besser auf. Versprochen. Heilig Ehrenwort, würde Erwin sagen. Obwohl er bisher noch keine Ehre hat. Wenn er und Clara wieder zu spät zu Tisch kommen, werden sie mich kennenlernen.«

»Da sind sie ja schon. Stehen ganz artig da vorn und warten. Erwin hat sich sogar gekämmt.«

»Sag nichts vom Auto. Das soll eine Überraschung werden, wenn wir heimkommen.«

Das Sonntagsessen wurde des schönen Wetters wegen ausnahmsweise auf der Terrasse eingenommen. Es war ein Bild, wie es die französischen Impressionisten, die ja nun auch in Deutschland Furore machten, hätten malen können – voller Licht und Sonne und beschwingt vom Pulsschlag des Lebens, der trunken macht. Das noch junge Weinlaub kroch die ockergelben Hausmauern hoch. Der Herbst war noch weit, der Winter Äonen entfernt. Wenn der Strahl des kleinen Springbrunnens herabfiel und die Hängegeranien auf den Balustraden und die Fuchsien im Halbschatten benetzte, verwandelten sie sich in leuchtende Boten des Sommers. Zwei Spatzen badeten im Brunnen. Eine Katze auf einer niedrigen Mauer gab vor, sie hätte nie etwas von den Freuden der Jagd erfahren, und knabberte an ihren Tatzen. Es war angenehm kühl im Innenhof. Erwin, der noch nicht witterte, dass die Sprache der Farben dereinst die seine werden würde, wurde im kurzen Moment des Glücks gewahr, dass Schönheit blendet.

»Ach«, sagte er leise.

Auf einem weiß eingedeckten Tisch in der Mitte standen gefüllte Sektkelche und dicke Gläser mit tiefrotem Himbeersaft für die Kinder, daneben eine lindgrüne Kristallvase, verziert mit schnäbelnden weißen Tauben und gefüllt mit Teerosen, die sich zu weit ins Leben gewagt hatten. Jeder Gast, selbst die Kinder, wurde persönlich vom Hotelbesitzer begrüßt und von den jungen Serviererinnen an die Tische geleitet.

»Gesegnete Mahlzeit«, wünschte der Patron.

»Der Himmel hat endlich meine Gebete erhört«, flüsterte Betsy in Johann Isidors Ohr.

Mit Victoria an der großen Tafel zu sitzen machte für die Mutter jede Mahlzeit zu einem Unternehmen, das ihren Puls beschleunigte und ihren Appetit meuchelte. Victorias Tischmanieren standen in keinem Verhältnis zu ihrem enormen Mitteilungsbedürfnis. Baden-Badens feine Küche mit dem raffinierten französischen Einschlag animierte sie höchstens zum Innehalten, wenn die Vorspeisen mit frischen Kirschen oder kunstvoll geschnitzten Radieschen dekoriert waren. Trotz Tante Jettchens rührenden Bemühungen, in prekären Situationen in das Geschehen einzugreifen und bei aufkommender Langeweile ihren vergötterten Liebling zu unterhalten, fiel es der Sechsjährigen schwer, zwei Stunden gesittet bei Tisch zu sitzen. Entweder formte sie aus ihrem Brot Gebilde, die wie dickbäuchige Trolle aussahen und die sie entweder mit Soße oder mit Rotwein einfärbte, oder sie umkränzte ihren Platz mit dem Immergrün und den Veilchen, die sie aus der kostbaren Vase von der Vitrine holte. Häufig sorgte Victoria auch für Tafelmusik, indem sie sämtliche französischen Kinderlieder sang, die sie zu Hause von Mademoiselle Lucile gelernt hatte. Die meisten Gäste hatten bereits erwachsene Enkel und nicht mehr den Hauch einer Erinnerung, was in Kindern vorgeht. Fast alle waren sie jedoch noch beweglich genug, um den Kopf indigniert in Richtung Victoria zu schütteln. »Das«, hatte die temperamentvolle Missetäterin schon am dritten Tag des Baden-Badener Aufenthalts diagnostiziert, »sind alles Frauenwölfe, die das arme Rotkäppchen fressen wollen.«

»Ein leichtes Sommeressen«, kündigte der Hotelbesitzer an, »das unserem Chefkoch eine besondere Freude gemacht hat.« Er wedelte mit der Karte des Tages und küsste mit einer flinken Drehung seines Körpers die Hand einer überraschend jungen Nachzüglerin. Sie erinnerte an Carmen. Um ihre leicht entblößten, schwanenweißen Schultern hatte sie ein schwarzes Spitzentuch drapiert. Eine rote Nelke leuchtete in ihrem schwarzen Haar. Der Maître nannte sie Comtesse. »Wir wollen«, suggerierte er den übrigen Gästen, »uns doch unseren Appetit für das Diner heute Abend nicht verderben.«

Die Damen nickten, ihre silbernen Locken bebten, die rotgesichtigen Herren stöhnten leise. Die junge Französin hielt ihr Glas in die Höhe. Sie lächelte einen Turm aus winzigen Brötchen an, als der Saalkellner ihr rosafarbenen Sekt kredenzte.

Aus der Buche im Innenhof zwitscherte ein Vogel. »Die Amsel in ihrem schwarzen Kleid singt vom frühen Witwenleid«, rezitierte Victoria.

»Charmante«, rief die französische Schönheit aus. Sie rieb ihre zierlichen Hände aneinander.

»Das hab ich von Josepha gelernt«, erzählte Victoria. Schmeicheleien von Fremden war sie nicht gewohnt. Trotzdem stand sie auf und knickste.

»Charmante, charmante«, steigerte ihre Bewunderin den Beifall, »wie eine kleine Prinzess.«

Es war Victorias Glückstag. Sie vergaß ihn nie. Großtante Jettchen hatte die zwei Stunden, die sie am Morgen allein mit ihrem »Herzchen« verbracht hatte, ausschließlich dazu genutzt, ihre eigene Kindheit zurückzurufen. Victoria trug eine voluminöse Schleife aus himmelblauem Satin in ihrem kastanienbraunen Haar. Am Vortag hatten die Schleife und die kleine goldene Biene mit Flügeln aus Strass, die im Knoten steckte, noch Jettchens wogenden Busen geziert. Das ausgefallene Arrangement sah auf dem kleinen Kinderkopf wie ein Propeller aus und Victoria so, als würde sie jeden Moment losfliegen. Nicht nur das: Von ihrem mageren Hals baumelte eine schwere Kette aus auffallend großen Korallenkugeln, zwischen denen goldfarbene Perlen und Diamantbaguettes leuchteten. Auch die Schließe, von Jettchen nach vorn gezogen, war mit Diamanten besetzt. Das wertvolle Schmuckstück stammte vom Anfang des neunzehnten Jahrhunderts und gehörte zum Nachlass ihrer Schwester.

»Schwesterlein sieht aus wie ein Pfingstochse«, tuschelte Clara ins brüderliche Ohr.

»Nein, wie der Oberbürgermeister von Liliput«, wisperte Erwin zurück. »Gleich geht Herzchen mit ihrem Messerchen auf uns los.«

»Taisez-vous«, befahl Frau Betsy. Sie trat Erwin unter dem Tisch und drohte auch Clara mit Blicken. Die Sitte, Französisch zu sprechen, um Kinderohren Wahrheit und Wirklichkeit vorzuenthalten, stammte noch aus ihrem Elternhaus. Als ihre Erinnerungen den Apfelbaum in Pforzheim und die ausgebreiteten Arme des Vaters erreichten, lächelte sie. Ihr Mann sah es und zwinkerte ihr zu. Er hatte das Bedürfnis, seine Frau wissen zu lassen, dass auch er soeben an die vergangene Nacht gedacht hatte.

Victoria tauchte ihre Zunge tief ins Glas. Auf dem Tischtuch aus weißem Damast entstand eine kleine Pfütze Himbeersaft, die sich rasch zu einem großen Fleck ausbreitete.

»Mademoiselle Cochon«, protzte Erwin mit seinen Kenntnissen.

»Was heißt das?«, wollte Victoria wissen.

In ihrem Rüschenkleid aus zitronengelbem Voile, mit dem Haarschmuck und der Korallenkette wirkte sie wie eines jener Modepüppchen im französischen Empire, die für Kinderhände verboten waren. Sie wurden den Damen von ihren Couturiers ins Haus geschickt, damit die sich eine Vorstellung von den Modekreationen machen konnten, die sie künftig tragen würden. »Tante Jettchen hat gesagt, sie hat die Kette auch in die Schule anziehen dürfen«, beugte Victoria künftigen Diskussionen vor. »Jeden Tag hat sie gedurft. Ihre Mutter war ein Engel.«

»Auch in den Ferien hat sie gedurft«, feixte Erwin, »und im Kohlenkeller, wenn sie unartig war, hat sie auch gedurft. Jeden Tag. Deine Mutter ist kein Engel.«

»Ach du«, sagte Victoria freundlich, »du willst mich nur ärgern. Kohlenkeller gibt es ja nicht. Hat Tante Jettchen gesagt. Jedenfalls«, schränkte sie ein, als ihr die Kachelöfen in der Rothschildallee, die Eimer mit den Briketts im Winter und die Schürhaken einfielen, »keine, in die man ungezogene Kinder sperrt.«

Sie klatschte in die Hände wie ihre französische Bewunderin, als die Vorspeise aufgetragen wurde. Dem Sonntag zu Ehren gab es keine der üblichen dünnen Suppen mit Flädle oder Maultaschen, die das Frankfurter Goldkind blitzartig in einen schnaufenden Wüterich zu verwandeln vermochten, sondern »Schwäbisches Eiersalätle«. Serviert wurde er auf »Käseküchle«. Als Otto mit sonorer Stimme die Speisekarte vorlas, kicherten seine Geschwister im Chor. Sie rieben sich alle gleichzeitig die Ohren und machten sich mit gurgelndem Gelächter daran, jedes Wort, das sie sagten, schwäbisch zu verkleinern. Selbst Otto, der über Kinderscherze so erhaben war wie über wollene Unterwäsche im Winter, machte mit. »Mein Hemdle rutscht mir aus dem Hösle, und das halt ich im Köpfle nicht aus«, meldete er.

Er hatte den freien Vormittag des Zimmermädchens mit ihr in einem nur einheimischen Genießern bekannten Gartenpavillon verbracht. Nun war der erfolgreiche Galan bereit, auch den Rest der Welt zu umarmen. Er reichte seiner Mutter das Salzfass, ehe sie dazu kam, ihn darum zu bitten; er hörte so aufmerksam zu, wie er es vermochte, als sein Vater minutiös erklärte, welche Hoffnungen er mit dem vor zehn Tagen beendeten Besuch Kaiser Wilhelms II. und Großadmirals Tirpitz beim österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand verband. Seiner kleinen Schwester zerschnitt der gütige Bruder das Käseküchle in mundgerechte Happen, ihren Puppensohn im Matrosenanzug rettete er mit beherztem Zugriff vor einem Sturz in die Salatschüssel. Weil sein Vater nach der ausführlichen Erörterung der Tagespolitik außer Atem geriet und eine schöpferische Redepause einlegen musste, übernahm sein Stammhalter spontan die Unterhaltung der Tafelrunde. Vornehmlich unterhielt er dabei seine Geschwister, erzählte Kinderwitze, die er selbst einschläfernd fand, besann sich auf Rätsel, die in der vierten Klasse für anhaltende Heiterkeit gesorgt hatten, und bemühte sich, gleichzeitig mit den Ohren zu wackeln und einer Biene, die im Himbeersaft zu ertrinken drohte, das Leben zu retten.

»Charmant«, sagte die Comtesse am Nebentisch zum zweiten Mal.

Victoria erkannte sowohl das Wort als auch den Umstand, dass das Lob nicht ihr gegolten hatte. Sie schmollte mit den Lippen und mit den Augen und senkte dann so ruckartig den Kopf, dass die Propellerschleife aus der Balance geriet. Die Korallen klapperten gegen den Tellerrand. Damit sich die Schönheit am Nachbartisch wieder allein auf sie konzentrierte, rezitierte das einfallsreiche Kind abwechselnd und ständig lauter werdend »Meine Mama macht mir Mehlmäuse« und »Mümmelmann vernahm Hummelgesumm«.

»Hab ich das verdient?«, fragte Johann Isidor. Er sah nicht mehr aus wie ein Mann, der an Jungbrunnen glaubt.

»Ich finde es bewundernswert, dass ein so kleines Mädchen so einen Zungensalat überhaupt aus dem Mund bekommt«, erklärte Jettchen.

»Ich kann auch krähen«, bot Victoria an.

»Mädchen, die krähen, sollte man gleich den Hals umdrehen«, zitierte Erwin.

Als Zwischengang gab es einen Salat aus Schwetzinger Spargel mit einer Vinaigrette, die mit Sommerkräutern und einem Wein vom Kaiserstuhl abgeschmeckt worden war. Weil Victoria noch nicht in dem Alter war, in dem Spargel als Genuss empfunden werden, Erwin sich weder mit dem Wein noch mit dem Kerbel in der Vinaigrette anfreunden konnte und Clara würgend den Teller zur Seite schob, aß der selbstlose Otto insgesamt vier Portionen.

»Bist ein guter Junge«, lobte Jettchen, »ein richtiger Kavalier. Mein Gott, was geht das alles schnell, dass aus Kindern Leute werden.« Sie dachte an ihre Töchter, die nun auch schon jenseits der fünfzig waren, und dass die ihren katholischen Ehemännern bestimmt keine Sünde mehr wert erschienen. Jedenfalls hatten sie weder an den christlichen noch an den jüdischen Feiertagen das Bedürfnis, an ihre betagte Mutter zu denken. Es machte Jettchen Mühe, die Augen unauffällig trocken zu tupfen, sie musste sich am Tisch festhalten, weil ihr schwindlig wurde, und konnte einen Moment lang nicht schlucken. Ihr Seelenleben geriet erst wieder ins Lot, als der Hauptgang aufgetragen wurde: gefüllter Kalbsbraten mit Rieslingsauce, Gelbrübenpüree und Schupfnudeln.

»Gelbrübenpüree musste unsere Köchin immer an Feiertagen machen«, erzählte sie, »mein seliger Albert war ja hier aus dieser Gegend. So richtig wohl gefühlt hat sich sein Magen nie in Darmstadt. Auch wenn wir eine wunderbare Köchin hatten. Sie war beim Großherzog Ernst Ludwig in Stellung gewesen.«

»Ach Gott, du Arme«, bedauerte sie Betsy. »Ausgerechnet an so einem schönen Tag musst du an deinen lieben Mann denken. Dass traurige Erinnerungen sich aber auch immer ungebeten mit an den Tisch setzen müssen. Das hat mich schon als Kind geplagt.«

»Überhaupt nicht«, widersprach Jettchen. Sie war wieder ganz die muntere Unverwüstliche. Mit ihrer Gabel grub sie, genau wie Victoria, einen winzigen Graben ins Möhrenpüree und ließ ihn mit Soße volllaufen. »Meine Erinnerungen«, sagte sie, »sind wunderbar. Jedenfalls wenn ich nicht daran denke, dass aus meinen entzückenden, zärtlichen kleinen Mädelchen egoistische Frauenzimmer mit einem Herz aus Stahl geworden sind.« Mit der Entschlossenheit, die ein Charakteristikum ihrer Generation war, hob sie ihr Glas. »Und dass es mir vergönnt ist, mich ausschließlich an die guten Erinnerungen zu halten und mich nicht vorzeitig ins Grab zu grämen, verdanke ich dir, lieber Johann Isidor. Dir und deiner wunderbaren Betsy und euren Kindern. Wenn Menschen überhaupt so alt werden wie ich, erleben sie kaum noch gute Tage. Ich wollte euch das schon die ganze Zeit sagen, aber ich wusste nicht wie. Das Reden war mir ja nie gegeben.«

»Wer hat dir das weisgemacht?«, lächelte Johann Isidor.

»Gibt’s nicht endlich den Pudding?«, murrte Victoria. »Mir tut mein Hintern ganz viel weh.«

»Pst«, zischte Betsy. »So etwas sagt man nicht. Schon gar nicht bei Tisch. Und außerdem gibt es hier keinen Pudding, sondern eine wunderschöne russische Charlotte. Und wenn du heute noch ein einziges Mal ›Pfui‹ sagst, bleibst du den Rest des Sonntags in deinem Zimmer, mein Fräulein. Nanu, was ist denn da los? Warum sieht unser Wirt plötzlich so verstört aus? Er ist ja total grau im Gesicht.«

Frau Betsy sprach von dem imponierenden Eigner des allseits gerühmten und zu jeder Jahreszeit florierenden Badhotels zum Hirsch. Soeben hatte er noch der schönen französischen Comtesse den Wein aus Neuweier empfohlen und am großen runden Tisch das Friedrichsbad zu Baden-Baden als das Mekka all derer besungen, die Genesung suchten. Nun stand er bleichgesichtig und auch zitternd an der Blumenkonsole mit dem Rosenbouquet im Silberpokal. Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn. Die goldumrandete Speisekarte, aus der er selbstbewusst zu Beginn des Mahls vorgetragen hatte, zerknüllte der erregte Hotelier, als wäre sie ein Stück brüchiges Papier, doch schien er nicht zu merken, was er tat. Neben ihm stand ein junger, hagerer Mann, auch er blass und schwer atmend wie ein Greis. Der Fremde hatte seine dunkle Jacke falsch zugeknöpft und zudem vergessen, ehe er seinen Arbeitsplatz verlassen hatte, die Ärmelschoner auszuziehen. Der Kragen seines weißen Oberhemdes war nass und dunkel. Niemand zweifelte, dass der Fremde wie von Hunden gehetzt zum Hirsch gerannt war.

»Meine Herren und Damen«, begann der Hotelbesitzer. Seine Stimme war heiser, die zerknüllte Speisekarte zu Boden gefallen. »Ich muss um Ihre ganze Aufmerksamkeit bitten. Dieser Herr hier ist der Baden-Badener Mitarbeiter des Mannheimer General-Anzeigers. Er hat mich soeben von einer Depesche in Kenntnis gesetzt, die seinem Büro vor zwölf Minuten zugegangen ist. In der bosnischen Stadt Sarajevo sind heute der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand und seine Ehefrau Sophie Opfer eines Attentats geworden.«

Es gab einen Moment vollkommener Stille, und doch war sie so bedrohlich wie Kanonendonner. Dann rief ein alter Mann, die Hand am Ohr und mit einer Stimme, die das Befehlen seiner Jugendtage noch immer beherrschte: »Sofort noch einmal. Und diesmal langsam und deutlich.«

»Gott schütze uns«, hustete der Justizrat, der mit seiner Gattin jeden Sommer nach Baden-Baden kam.

Die Comtesse jammerte: »Mon dieu!« Einen Moment vergrub sie ihren Kopf in den Händen. Dann stand sie auf. Beim Gehen raffte sie ihren Rock eine Spur zu hoch und stieß mit dem gebauschten Tüll ein Glas um. Es klirrte schrill, als es auf dem Steinboden aufschlug, doch sie drehte sich nicht um und lief so schnell in ihr Zimmer, als bangte sie um ihr Leben.

»Warum ist das denn alles so wichtig?«, wunderte sich Betsy, »ich hab überhaupt noch nie von diesem Franz Ferdinand gehört?«

»Doch«, wusste Jettchen, »das hast du bestimmt. Der ist mit irgendeiner Schlampe eine Mesalliance eingegangen. Genau wie der Sohn von Kaiser Franz Joseph, der sich dann umgebracht hat. Diese Österreicher haben ja kein Gefühl für Stil, wenn du mich fragst.«

»Aber ich versteh die ganze Aufregung nicht. Was geht uns das denn alles an?«

Weil Johann Isidor sicher war, dass der Schrecken auch sein Gesicht gezeichnet hatte, sah er weder seine Frau, noch die Kinder und auch Großtante Jettchen nicht an. »Wir sollten doch sehen«, sagte er im Aufstehen, »dass wir spätestens morgen von hier wegkommen. Es muss nicht, aber es kann Krieg geben, und ein Kriegsausbruch ist nicht die passende Gelegenheit für einen Mann, der sich um sein Vaterland sorgt, um in Baden-Baden in einer Badewanne zu liegen.«

Otto grub die Kuchengabel in die Schokoladencreme der Charlotte russe; er schob eine gewaltige Portion in seinen Mund. Weil er zu hastig aufstand, stieß er seinen Stuhl gegen einen jungen Kellner, der an ihm vorbeihastete. Nach nur drei Schritten hatte Otto seinen Vater eingeholt. »Krieg«, sagte er und leckte den Rest der Schokolade von seinen Lippen, »was hab ich doch für ein Riesenglück, dass ich genau im richtigen Alter bin. Es muss furchtbar sein, wenn es einen Krieg gibt und man ist entweder zu alt oder zu jung, um dabei zu sein.«

»Es ist furchtbar«, bestätigte Johann Isidor.