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TRÄNENDE HERZEN

Frankfurt, September–November 1914

Am ersten Sonntag im Herbst überflogen große Schwalbenschwärme das Haus in der Rothschildallee 9. Am nächsten Tag sagte Frau Minchen Berghammer zu Josepha, die das grandiose Schauspiel der fliegenden schwarzen Wolken verpasst hatte, früher Vogelflug bedeute einen strengen Winter. Sie müsse sich schleunigst nach Kartoffeln umsehen. Josepha dachte an den gut gefüllten Sternberg’schen Keller und erwiderte mit einem Lächeln, das Frau Minchen nicht deuten konnte: »Dem fleißigen Hamster schadet der Winter nicht.«

Hessens Störche hatten kein Vertrauen in die linden Lüfte des deutschen Altweibersommers; sie reisten frühzeitig nach Afrika ab. Drei Prachtvögel wurden im Frankfurter Nordend gesichtet. Die Mauersegler waren schon fort, und in Victorias Klasse sangen die Kinder nicht mehr »Alle Vögel sind schon da«, sondern »Kein schöner Land in dieser Zeit als hier das unsre weit und breit«. In den Vorgärten blühten die Astern purpurrot und violett, Dahlien prunkten mit schweren Köpfen, an den Zäunen standen üppige Sonnenblumen. Im Ostpark wurden die Brombeeren reif, die niemand gepflanzt hatte, und in den Seckbacher Gärten die liebevoll umhegten Zwetschen und Quitten. Die Kinder wurden mit dem Bembel in die Wirtschaft geschickt. Der erste »Süße« war schon da; es hieß, die Gastwirte würden ihn und später den Ebbelwein zum gleichen Preis abgeben wie im Frieden.

Noch fielen nur einzelne Blätter zu Boden, noch stimmte der Herbst nicht melancholisch. Er war, genau wie im Frieden, die Jahreszeit der stillen Genießer. Clara musste gleich zu Beginn des neuen Schuljahrs Friedrich Hebbels Gedicht »Dies ist ein Herbsttag, wie ich keinen sah!« lernen. Sie kam zeternd nach Hause. Weil sie ihrer Deutschlehrerin ein getrübtes Verhältnis zur Wirklichkeit und mangelnde Kriegsbegeisterung unterstellte, geriet sie beim Mittagessen in Streit mit ihrer Mutter und hatte auch noch den Schneid zu sagen: »Du wirst immer empfindlicher.«

Auf dem Balkon im ersten Stock blühten nur noch ein paar von den Wicken, die die Sehnsucht des Hausherrn nach den Bauerngärten seiner Kindheit stillten. Victorias Tränende Herzen in dem von Otto bemalten Tontopf waren weder von Sturm noch Frost bedroht. Nachts schützte ein Tuch aus grüner Gaze die Zauberblumen vor jedem Windhauch, bei Tag Josephas Fürsorge sie vor dem Austrocknen. Gedüngt wurden sie mit Kaffeesatz und geheimnisvollen Segenssprüchen aus einem Zauberbuch, das der Tante gehörte und von dem die Mutter nicht wissen durfte, dass Jettchen Victoria daraus vorlas. An besonnten Tagen standen nun immer zwei Käfige auf dem Balkon. Graupapagei Otto und der zutrauliche Kanarienvogel kamen so gut miteinander aus wie die Zwillinge.

An den Wochentagen zeugten allein die vielen Zeitungen vom Krieg und von deutscher Opferbereitschaft. Betsy verteilte die Druckerzeugnisse auf die beiden Couchtische und klagte, dass sie die Unordnung störe; wer mit dem Hausherrn ins Gespräch kommen wollte, fand ihn fast immer hinter einer aufgeschlagenen Zeitung. Zum Sonntag aber sprach seine Frau ein Machtwort. Resolut schaffte sie alle Berichte von Heldenmut und Siegerfortüne ins Herrenzimmer und hielt Johann Isidor vor, dass selbst Gott bei der Erschaffung der Welt einen Ruhetag gebraucht hatte.

Bei den Sternbergs duftete es am Sonntagnachmittag nach Harmonie und Frieden, nach Bohnenkaffee und frischem Gebäck. Die Zuckerstücke lagen in der silbernen Dose der Pforzheimer Großmutter, daneben die versilberte Zuckerzange, das Hochzeitsgeschenk einer unvermögenden Cousine. Auf dem roten Teewagen im Esszimmer standen die Sammeltassen mit dem Efeudekor und dem breiten Goldrand sowie die dreistufige silberne Etagere mit Barockfüßen. Allerdings war das Prachtstück nicht mehr mit Petitfours und Schokoladeneclairs von einem der besten Frankfurter Konditoren bestückt, aber immerhin mit wohl gelungenen Nusshörnchen und kleinen, runden Apfelbroten. Die waren mit Zimt, Rosinen und einem Schuss Rum gebacken, was der sparsame Hausherr nicht wissen durfte, und mit einer Glasur aus Puderzucker und Kakaopulver überzogen.

Zwar stand selbst in den Zeitschriften für die feine Dame geschrieben, es wäre gar nicht gesund, jeden Sonntag Kuchen zu essen, und die Frauen und Kinder sollten, wenn sie Verzicht leisteten, es gern tun und dabei an die Soldaten an der Front denken, die dies ja auch tun müssten. Doch gerade weil sie an einen Soldaten dachte, knetete Josepha jeden Samstag ihren Teig und ließ die Rosinen in Rum und Rosenwasser quellen. Durch keinen Hinweis auf den Krieg war die widerspenstige Herrin des Herdes von dem Gedanken abzubringen, Kanonier Otto Sternberg könnte unerwartet Urlaub von der Front bekommen und plötzlich vor der Tür stehen, und es wäre ein Sonntag und kein Kuchen im Haus.

»Soldaten stehen nicht plötzlich vor der Tür«, hatte der Hausherr am Morgen ihr zum wiederholten Mal gepredigt, ungeduldiger als sonst und entsprechend gereizt. »Schon gar nicht zum jetzigen Zeitpunkt. Die Welt erwartet von uns Deutschen, dass wir unsere Pflicht tun.«

»Man kann nie wissen«, hatte seine Frau ihrer Köchin beigepflichtet, »schließlich haben wir ja ewig nichts mehr von Otto gehört. Das könnte ja doch auf ein paar Tage Urlaub deuten. Ich mach mich jedenfalls immer auf Überraschungen gefasst.«

Morgens um acht konnte die Optimistin noch nicht ahnen, dass der dritte Sonntag im September tatsächlich ein Tag der Überraschungen werden würde – und der Tag der Wahrheit. Die zog nicht mit Pauken und Trompeten in die Arena. Sie schlich auf leisen Sohlen an die Kaffeetafel, war zugleich ein sadistisches Gespenst und ein äußerst unwillkommener Gast, verwirrte alle Beteiligten, machte sie erst verlegen, dann stumm. Sowohl der Herr des Hauses als auch seine düpierte Gattin konnten wochenlang nicht fassen, dass ein Gespräch von fünf Minuten eine so gewaltige Lawine ins Rollen gebracht hatte. Noch als Großmutter hörte Betsy ihr Herz klopfen. Jeder Blick und jede Geste blieben ihr gegenwärtig, vor allem die Seufzer, die sie verschluckt hatte, und erst recht die Worte, die sie nicht hatte zurückhalten können. Wie eine Närrin war sie sich vorgekommen, wie eine täppische alte Frau, die nicht mehr auf sich achtet, sich überall lächerlich macht und die ihren eigenen Kindern peinlich wird. Wenn ihr Gedächtnis kein Erbarmen mit ihr hatte und sie zwang, den Weg zurückzugehen, hörte Betsy auch Johann Isidor reden. Dann flehte sie wie damals zum Himmel, er möge auf der Stelle klug werden und schweigen, doch er war nicht klug geworden, und er hatte nicht geschwiegen.

Es war ein Tag der Gegensätze – die Idylle auf der Allee, die liebenswürdigen Pastellfarben, der Vogelflug, ein schwankender Erntewagen, hoch beladen mit Zuckerrüben, alles ein heiteres Zwischenspiel vor der Schlüsselszene. Die beiden Hauptdarsteller saßen schon auf der Bühne: ein seit neunzehn Jahren verheiratetes Paar, das seiner Lebtag noch nicht über Gefühle und Ängste geredet hatte und dem nun aufgegeben war, genau dies zu tun.

Wenn Betsy an dieses Gespräch dachte, war es ihr, als hielte sie eine Fotografie in Händen. Johann Isidors Gesicht mit den markanten Zügen und dem klaren Blick hatte sich auf einen Schlag verzerrt. Aus dem naiven Staunen eines Mannes, der vom ersten Tag der Ehe in seiner fest gemauerten Welt von Pflicht und Bewährung gelebt hatte, war im Bruchteil einer Sekunde eine ungläubige, für eine Frau besonders kränkende Verblüffung geworden.

»Das kannst du doch nicht im Ernst meinen, meine liebe Fritzi«, hatte Johann Isidor gesagt und war nach der Namensverwechslung sofort verstummt. Der Kaffee war in die Untertasse geschwappt. Seine Hand zitterte noch, als er sie hinstellte.

Betsy hatte ihren Mann noch nie so derangiert und hilflos erlebt. Wie ein Ritter ohne Rüstung kam er ihr vor, wie ein Reiter, dem der Fuß aus dem Steigbügel gerutscht ist. Johann Isidor, immer beherrscht und nie um eine Antwort verlegen, war von seinem Denkmal gestürzt. Mit halb geöffnetem Mund saß er da, und statt seine Frau anzuschauen, knetete er seine Hände ineinander wie ein mittelloser Bräutigam, der nicht wagt, von einem reichen Vater die Tochter zu erbitten – eine entsetzliche Mischung aus erschrockenem Kind und altem Mann.

Es gab auch nicht den Hauch eines Zweifels, dass dieser unsanft gestürzte Held genau wusste, dass die Mutter seiner vier Kinder dabei war, einen todbringenden Pfeil aus ihrem Köcher zu ziehen. Die Gelegenheit, den Ehemann der Untreue zu überführen, ließ sich keine Frau entgehen, weder die armen noch die reichen, nicht die klugen und nicht die dummen.

Im alles entscheidenden Augenblick kam Betsy jedoch die trotzige Klugheit zu Hilfe, die es seit Anbeginn der Menschheit den Frauen möglich macht, mit dem Wissen zu leben, dass Männer fehlbar sind und ihre Fleischeslust größer ist als ihr moralisches Empfinden. Mit einem Gefühl von Triumph, das sie zugleich belebte und stark machte, begriff Betsy, dass sie ihren Johann Isidor, diesen vorbildlichen Ehemann und treu sorgenden Familienvater, nie nach einer Person namens Fritzi fragen würde.

Durch ihr Schweigen blieben die Dinge im Lot. Das Ehepaar Sternberg konnte noch miteinander reden, ohne dass er bleich wurde und sie errötete. Im Verlauf der Jahre hatten sie sich angewöhnt, sonntags die Gespräche zu führen, die sich weder für Kinderohren noch für die des Personals eigneten.

»Jettchen ist nicht in ihrem Zimmer«, beruhigte Betsy ihren Mann. »Du musst dich also nicht so ängstlich umschauen. Sie meint nicht alles ernst, was sie sagt. Im Übrigen hätte ich sie längst gerufen, um mir hier aus der Patsche zu helfen. Im Gegensatz zu deiner Frau kann dein Tantchen nämlich hervorragend stricken.«

Obwohl sie in ihrer Jugend zwei Handarbeitslehrerinnen und die eigene Großmutter von ihrer mangelnden Begabung für das Manuelle überzeugt hatte, war Betsy damit beschäftigt, Maschen für einen grauen Schal anzuschlagen. Zwar war jeder gute Deutsche überzeugt, der Krieg wäre Weihnachten schon zu Ende, doch die meisten von Betsys Freundinnen und auch deren Töchter im Backfischalter strickten eifrig Winterkleidung, und ausnahmslos alle ließen sie die Nadeln für des Kaisers brave Soldaten klappern. Betsy, die für keines ihrer Babys auch nur ein einfaches Jäckchen zustande gebracht hatte, wärmte der Gedanke sehr, ihr Sohn würde im Winter durch einen Schal aus teurer Angorawolle und Bergen von Mutterliebe vor allen Kalamitäten des Krieges geschützt sein.

»Er wird aussehen wie ein Kaninchen«, befand Johann Isidor, »ein jüdisches Kaninchen mit einer jiddischen Mamme. Soweit ich weiß, eignet sich Angorawolle nur für Kinderpullover und als Bettjacken für alte Damen.«

Sein Gesicht verdüsterte sich, als er nach der Zigarettendose griff. Kosmopolitisch klingende Markennamen waren umgehend nach Kriegsausbruch durch deutsche ersetzt worden. Johann Isidor erschien das einer selbstbewussten Nation unwürdig. Zigarettenfirmen zeigten sich besonders vaterlandstreu. Die »Manoli« und die »Gabáty« wurden als Erste umbenannt, aus »Gibson Girl« wurde »Wimpel«. »Chic« war französisch, die Deutschen sollten »flott« sagen. Aus dem englischen »Dandy« wurde ein deutscher »Dalli«.

Die Zigarettendose auf dem Rauchtisch trug einen gelben Aufkleber, der anzeigte, dass Johann Isidors Lieblingsmarke »Duke of York« nun »Graf Yorck von Wartenburg« hieß. Der Hausherr bediente sich kopfschüttelnd. »Auch bei unseren Feinden«, dozierte der stets gut Informierte und hielt seine Zigarette hoch, »kämpft man mit der Zunge. Das verehrte britische Königshaus hat alle Verbindungen zum Haus Sachsen-Coburg-Gotha gekappt und nennt sich nun Windsor. Wenn du mich fragst, gewinnt man so keinen Krieg.«

»Nein«, stimmte Betsy ihm bereitwillig zu. Allerdings galten ihre Sorgen weit mehr ihrem Mann als den sprachlichen Einfällen der Kombattanten. Ihr war klar, dass seine anhaltend schlechte Laune und seine plötzlichen Anfälle von Erschöpfung daher rührten, dass niemand von Belang überhaupt noch nach seiner Meinung fragte. Sämtliche Versuche des soignierten und hoch geachteten Handelsmannes Johann Isidor Sternberg, seinem Vaterland zu dienen, waren fehlgeschlagen – zuletzt sogar eine Bewerbung bei einer Militärdienststelle in Bad Homburg, die sich mit der Nutzbarmachung von gebrauchten Textilien für Kriegszwecke beschäftigte. Selbst der alte Tichauer, Besitzer einer Weinhandlung und schon seit einiger Zeit Rentier, der kurzsichtig wie ein Maulwurf war und einen Wollstoff nicht von Popelin unterscheiden konnte, war dort untergekommen. Johann Isidor hatte das erst am Vortag in der Synagoge erfahren. Seit Otto weg war, ging er fast jeden Sabbat zum Gottesdienst; für seine sensible Frau war auch dies ein Hinweis, dass er Trost suchte. Oder hatte er Angst um seinen Sohn?

Betsy beugte sich über ihr Strickzeug, zählte angestrengt die Maschen und kam jedes Mal zu einem neuen Ergebnis. Ihr wurde bewusst, wie wenig passend der Moment gewesen war, ihrem Mann zu offenbaren, dass er, der mit seinen vierundfünfzig Jahren nicht mehr für sein Vaterland kämpfen durfte, durchaus noch viril genug war, um wieder Vater zu werden. Seit wann knirschte er mit den Zähnen? Noch dazu mitten am Tag? Sie presste ihre Lippen fest aufeinander, die Augen starr auf die Stricknadeln gerichtet.

»Was hast du?«, fragte er.

»Nichts. Ich hab doch kein Wort gesagt.«

»Eben.«

Das Lied war alt, doch immer wieder neu. In der Ehe der Sternbergs wurde nichts offenbart, keine Rechenschaft erwartet, schon gar nicht wurde diskutiert. Ein jeder glaubte zu wissen, was der andere dachte. Die Gewohnheit der Schweigsamkeit bestimmte den Alltag, machte ihn manchmal grau, gelegentlich einsam, doch das Leben blieb stets in den Fugen. Routine war ein verlässlicher Bundesgenosse gegen die Veränderungen der Zeit. Der graue Wollknäuel fiel von Betsys Schoß und rollte bis zum Fuß des Vertikos. Minka fiel ihr ein, ein schneeweißes Katzenkind aus Pforzheim, das keinem Wollbällchen und keiner Garnrolle hatte widerstehen können. Betsy schmeckte Wehmut. Ihr Rücken schmerzte, der Nacken war steif. Was würden die Schwestern, die die »Sternberg’sche« immer um ihr sorgloses Leben und um den wohlhabenden, großzügigen Mann beneidet hatten, zu einer Mutter von zweiundvierzig Jahren sagen? Und was um Himmels willen die eigenen Kinder? Würde Clara mehr maulen als Victoria oder umgekehrt? Bereit zu teilen waren sie beide nie gewesen. Betsy überlegte, ob sie mehr mit ihren Töchtern reden müsste, doch wer redete schon mit seinen Kindern, wenn die gesund waren und es täglich neue Aufgaben gab, und einen Ehemann, der ständig Angst hatte, man würde die Kinder verwöhnen und aus ihnen anspruchsvolle kleine Snobs machen? Vielleicht hätte wenigstens Otto beizeiten lernen sollen, sich dem Leben zu fügen.

Betsy stand auf und holte den Wollknäuel zurück. Noch konnte sie sich bücken, ohne dass jemand ihren Zustand bemerkte. Sie schob den Store mit dem eingearbeiteten Blumenmuster beiseite, schaute aus dem Fenster des Salons und sah ein goldgelbes Blatt zu Boden segeln. »Schön«, sagte sie. Hatte das Wort noch den gleichen Klang wie im Sommer oder doch schon einen Beigeschmack? Durfte eine Mutter, die nicht wusste, wo sich ihr Sohn befand und ob das Leben zu ihm gut sein würde, sich überhaupt noch an einem Kastanienblatt erfreuen?

Die Beschaulichkeit der Friedenszeiten war zum Greifen nahe. Auf den Straßen gab es keine marschierenden Soldaten mehr, die wie Schulbuben am Wandertag mit lauten Liedern aus der Stadt zogen und die auf Pappschildern und weißen Transparenten die Zurückbleibenden wissen ließen, Weihnachten wären sie wieder zu Hause. Ob Otto das auch glaubte? Seit er weg war, hatte er nur zwei Karten geschrieben und beide ohne anzugeben, wo er war und wie es ihm ging. Auf der zweiten hatte in winziger, kaum zu entziffernder, fremd gewordener Schrift »Es ist alles ganz anders, als ich gedacht habe« gestanden. Seine Eltern hatten einander angeschaut und beide so getan, als gehörten solche Erkenntnisse zu einem Männerleben. Johann Isidor hatte sogar gelächelt und Betsy aufmunternd auf den Rücken geklopft. Nur abends im Bett hatte er beim Zusammenfalten seiner Zeitung gemurmelt: »Na, ein großer Briefschreiber wird mein Sohn in diesem Leben nicht mehr werden.«

In der Allee marschierten zwei Buben von ungefähr fünf Jahren. Im Sommer waren sie noch auf einem hölzernen Holländer mit vier Rädern um die Häuser gedonnert. Nun spielten sie Krieg. Sie trugen spitze Helme aus Zeitungspapier, schlugen blecherne Kindertrommeln und schwenkten Holzschwerter. In den Musikpausen beschimpften sie sich als Serben und Russen, bewarfen sich mit Tonklickern und schworen einander den Tod. »Auf immer«, drohte der eine.

»Nur bis ich nach Hause muss«, schrie der Feind.

Sonntags gab es wenig Verkehr. Gelegentlich fuhr eine Pferdedroschke in Richtung Innenstadt, selten ein Auto. Die Spaziergänger im Sonntagsstaat waren verschwunden. Liebespaare und alte Männer mit aufgeputzten Ehefrauen am Arm, junge Eltern mit Kind und Kegel, die Buben im Matrosenanzug, die Mädchen mit Flügelkleidern hatten an den Sonntagen zur Rothschildallee gehört wie die Bäume, der Rasen und die Rosenbüsche. Nun, da die jungen Männer im Krieg waren und die Alten sich schämten, dass sie es nicht waren, war das Sonntagsleben auf der Allee zum Stillstand gekommen. Kaum, dass ein Hund bellte, eine Katze ins Gebüsch schlich. Auch die Kinderfräulein mit den steifen weißen Hauben waren von der Bühne verschwunden. Die Frauen im Nordend flüsterten einander feixend zu, die feinen Bonnen wollten lieber jungen Männern in den Lazaretts den Hintern versohlen als den Bälgern reicher Leute.

Im ersten Stock der Rothschildallee 9 war nur das Schlagen der beiden Uhren zu hören und das Gurren und Kratzen der Tauben, die auf dem Glasdach vom Wintergarten hockten. Selbst Papagei Otto war erschöpft. Beim Mittagessen hatte er sein gesamtes Repertoire zweimal hintereinander gekrächzt. Auch der Kanarienvogel schlief. Victoria hatte wieder einmal am Morgen die Decke nicht von seinem Käfig genommen und ihn um die Freude gebracht, den neuen Tag zu begrüßen. Noch um vier Uhr nachmittags wähnte er, es sei Nacht.

Fräulein Victorias Pflichtversäumnis war noch unentdeckt. Deshalb hatte ihr die Mutter gestattet, mit Tante Jettchen in den Zoo zu gehen. Beide waren sie fest entschlossen, alle Freiheiten zu genießen, die alten Damen nicht mehr und kleinen Mädchen noch nicht gestattet waren. Victoria, die pfiffige Lenkerin des eigenen Geschicks, hatte zudem ein besonderes Ziel im Sinn. Sie plante, den Zoobesuch zu nutzen, um von ihrer Tante dringend benötigte Hilfe zu erbitten. Das herzensgute Jettchen würde bestimmt verstehen, wie demütigend es für ein sechsjähriges Schulmädchen war, ihre Puppen nicht zeitgemäß einkleiden zu können. Der Puppenjunge Moritz brauchte dringend eine feldgraue Uniform und ein Gewehr. Dem glücklichen Mariechen hatte die Mutter gleich zwei Puppenuniformen genäht. Nach zähen Verhandlungen hatte sich Mariechen bereit erklärt, eine der beiden Uniformen gegen fünf Groschen und eine Tüte Sahnebonbons herzugeben. Wie meistens hatte Frau Betsy das Geschäft vereitelt und ihrer unglücklichen Tochter brüsk das Geld verweigert. Auch die Sahnebonbons hielt sie seitdem unter Verschluss.

»Es ist herrlich still, wenn Clara und Erwin fort sind«, sagte Betsy, als sie mit dem grauen Wollknäuel zurück in den Wintergarten kam. »Seit Otto fort ist, führen die sich manchmal auf wie Fünfjährige. Wahrscheinlich vermissen sie den Dompteur, der sie so schön bei der Stange hielt.«

»Ja«, gab ihr Johann Isidor recht. Er wirkte wie einer, der gerade dabei ist, Abschied zu nehmen, und der vergessen hat, auf sein Gepäck zu achten. Seine Finger zitterten ein wenig, als er eine neue Zigarette aus der Dose nahm. Tabakwaren begannen knapp zu werden. Trotzdem rauchte er seit Kriegsausbruch mehr denn zuvor; er glaubte, nur er würde seine Zigaretten zählen. »Es ist gut, dass wir darauf bestanden haben«, murmelte er und blies das Streichholz aus, »man darf ihnen nicht alles durchgehen lassen.«

Auf den massiven Druck ihrer Eltern hin waren die Zwillinge – gekränkt und wütend – zu einer Einladung beim befreundeten Ehepaar Goldberg ins Westend aufgebrochen. Deren Kinder, gleichfalls ein Zwillingspaar, feierten den fünfzehnten Geburtstag. Clara und Erwin hatten die beiden nie gemocht. Neuerdings verachteten sie die jungen Goldbergs und erklärten einmütig, man könne sich nirgends mit ihnen sehen lassen, ohne sich zu blamieren. Sie wären miese Parvenüs und schleimige kleine Streber, die sich sogar dem Lehrer in der Religionsschule an den Hals schmissen, obwohl den doch wahrhaftig keiner ernst nehme.

»Warum sollen wir es ausbaden«, hatte Erwin noch beim Weggehen gemault, »dass ihr Goldbergs seit Jahren kennt? Ja, ja, ich weiß, Madame hat freundschaftliche Verbindungen zum Konditorengewerbe, und das ist heute wichtiger als Stolz und Ehre. Uns ist es peinlich, unsere Seele für ein Stück Torte zu verkaufen.«

»Hör endlich auf, für deine Schwester zu sprechen. Das hat schon Otto gestört. Ihr seid ja keine kleinen Kinder mehr. Und warte nur ab, wie du über Buttercremetorte denkst, wenn Josephas Vorräte zur Neige gehen, mein Sohn. Oder warum, glaubt der Herr, ist sie schon wieder auf Achse?«

Josepha war, wie nun oft am Sonntag, unmittelbar nach dem Mittagessen nach Bad Nauheim aufgebrochen. Sie hatte die von ihr in Friedenszeiten bis zum Jüngsten Tag totgesagten Beziehungen zu ihrer Verwandtschaft wieder aufgenommen. Ihrer Meinung nach gab es nicht mehr genug frisches Gemüse und Obst in den Geschäften. Vor allem war die Produktion von Zwetschenmus in Gefahr, wenn sie nicht beizeiten ihre Verhandlungen »mit denen in Nauheim« aufnahm. Also setzte Josepha an ihren freien Sonntagnachmittagen das moosgrüne Reisehütchen auf und packte ein paar von den zerfledderten Groschenromanen ein, die Hanna aus dem Odenwald in der Eile des Aufbruchs in der Rothschildallee zurückgelassen hatte und für die der weibliche Teil ihrer Verwandtschaft einen halben Apfelbaum hergegeben hätte. Hinzu kamen das Geld, das Josepha bei ihren täglichen Einkäufen abzweigte, und die Bekundung, Weihnachten eventuell abgelegte Kinderkleidung mitbringen zu können. »Not lehrt den Affen geigen«, zitierte sie aus ihrem großen Sprichwortschatz, wenn sie sonntags den Weidenkorb aus der Speisekammer holte.

»Es ist eine Sünde«, pflegte Frau Betsy zu monieren, »die Not herbeizureden. Bis jetzt leiden wir kein bisschen Not. Wir schränken uns höchstens ein. Gott gebe, dass es so bleibe.«

»Na, ich werde wie ein Hund leiden«, widersprach Josepha, »wenn ich unserem Otto kein Zwetschenmus ins Feld schicken kann. Und Dörräpfel für die Verdauung wird der Bub auch brauchen. Sagen Sie nur, das wissen Sie nicht mehr, dass der sein Dörrobst haben muss.«

Josepha hatte Brot, Butter, Aufschnitt, Tomaten und geschnittene Zwiebeln für das Abendessen auf den Küchentisch gestellt und an der dickbäuchigen Teekanne einen Zettel mit dem Hinweis befestigt, der Rest vom Schokoladenpudding für Victoria und die Dose mit Tante Jettchens Salbeitee seien in der Speisekammer. Die Hausfrau nahm sich vor, spätestens beim Frühstück Josepha für ihre Fürsorglichkeit zu loben.

Eine Fliege klebte am Fenster. Betsy überlegte, ob sie aufstehen und die Fliege, falls sie noch lebte, zurück ins Leben treiben sollte, doch sie blieb sitzen. Fliegen hatten sie schon als kleines Mädchen geängstigt. Die Schwestern hatten die schöne Rivalin deshalb mit Wonne gehänselt, die Brüder sie mit ihren kleinen schmutzigen Fäusten verteidigt, und der Vater hatte seine Lieblingstochter auf den Schoß genommen und ihr erklärt, dass nur dumme Menschen keine Angst hätten.

»Ich muss dir etwas gestehen«, sagte sie. Ihre Stimme erschien ihr dünn und fremd und lächerlich kindlich. Sie merkte, dass ihre Augen feucht geworden waren, nahm das kleine Stück Apfelkuchen, das schon seit einer halben Stunde auf ihrem Teller lag, legte es zurück auf die Etagere und räusperte ihren Hals frei. Selbst die Zunge war trocken, steif wie ein Stück Holz. Betsy fiel auf, dass ihr Mann sich sonderbar benahm. Er rechtete mit seinem Körper, setzte sich aufrecht hin, drückte den Rücken durch und die Brust hinaus, schlang das rechte Bein über das linke. Also hatte er sie doch gehört, wahrscheinlich sogar verstanden. Er war einer, der rasch begriff, wenn es sein musste, und der kühne Kombinationen nicht scheute und auch mit Imponderabilien rechnete. Betsy wunderte sich, dass er die Augen zusammenkniff. Wie ein Wandersmann, der plötzlich in eine Nebelwand läuft und sein Ziel nicht mehr ausmachen kann. Noch konnte Johann Isidor wie ein Adler sehen. Er war so stolz auf seine Augen und sein feines Gehör, als wäre ein gesunder Körper der eigenen Tüchtigkeit zu verdanken.

Ohne dass er es merkte, lockerte Betsy im Schutz der weiten Bluse den Rockbund. Es war das erste Mal seit Victorias Geburt, dass sie die cremefarbene Georgettebluse trug, die die Hausschneiderin im Sandweg vor genau neunzehn Jahren genäht hatte. Der weiche Schalkragen war zur Schleife gebunden. »So eine Schleife lenkt ab«, hatte die Schneiderin damals gesagt, und dann hatte sie auch noch »von Brust und Leib« hinzugefügt, und Betsy war rot geworden. Beim Anziehen hätte sie tausend Eide geschworen, der Gatte mit den Adleraugen und dem Gespür für Damenkleidung würde die Bluse mit ihren Rüschen und den weiten Ärmeln und der auffälligen Schleife erkennen. Nun starrte er auf ihren Bauch und kniff die Augen zusammen, als hätte er noch nie eine Frau in einer Umstandsbluse gesehen. Schließlich murmelte er: »Ach.«

Seine Frau zuckte zusammen. Johann Isidor hatte das brauchbare, unverfängliche, in der Ehe stets taugliche Wort just in dem Moment gesagt, in dem sie sich endgültig darauf eingestellt hatte, dass er nicht mehr auf ihr Signal zu einem Geständnis reagieren würde. Es gab immer wieder solche Gespräche in ihrer Ehe. Sie waren klebrig wie Honig und recht unerfreulich. Wenn ein Thema Johann Isidor nicht berührte, war er schweigsam und schwerfällig, manchmal gar feindselig. Dann schien er gekränkt, dass seine Frau ihn überhaupt angesprochen hatte – so, als wäre sie ohne anzuklopfen in sein Arbeitszimmer gestürmt und hätte seinen Schreibtisch leer gefegt.

Betsy faltete ihre Hände. Sie kam sich vor wie eine Schauspielerin in einer der hübschen modernen Komödien, die sie so gerne sah und die Johann Isidor fürchterlich fand. In diesen Lustspielen waren es immer die Frauen, die alle Trümpfe in der Hand hielten und die für das gute Ende sorgten. Anders als im Leben, standen die Männer zum Schluss wie begossene Pudel da, doch – auch dies anders als in der Wirklichkeit – lachten sie über sich selbst. Betsy überlegte, ob sie nicht doch spontan zur Sache kommen sollte.

Diesmal allerdings vergegenwärtigte sie sich, dass sich eine verheiratete Frau ja nicht einer ehelichen Verfehlung schuldig machte, wenn sie schwanger wurde; die Logik belebte sie so, dass sie eine gewaltige Lust verspürte, »Dazu gehören zwei« zu sagen, doch ihr Mut versiegte. Wie der berühmte Tropfen auf dem heißen Stein. Sie blickte geniert zu Boden, machte sowohl einen grauen Wollfaden als auch den Kopf eines abgebrannten Streichholzes auf dem empfindlichen Kelim aus, ärgerte sich und wurde wieder sicher. Mit resoluter Hausfrauenstimme schlug sie vor: »Wir sollten uns vielleicht doch wieder nach einem Zweitmädchen umschauen. Josepha kann ja nicht alles allein machen.«

Der schweigsame Gatte starrte auf das Bild, das er immer brütend fixierte, wenn er im Wintergarten saß und ihm nicht nach Reden zumute war. Es war eine zeitgenössische Arbeit und zeigte einen Garten in Königstein, im Hintergrund verkohltes Mauerwerk und einen efeubewachsenen Pavillon. Obwohl die Rosen in voller Blüte standen, machte die Szenerie einen düsteren Eindruck. Das Gemälde, betont bescheiden gerahmt, war mit Absicht so gehängt worden, dass es zur Hälfte von einem hochgewachsenen Palmfarn verdeckt wurde. Es war ein gemeinsames Geschenk der gesamten Verwandtschaft zu Johann Isidors fünfzigstem Geburtstag gewesen und hatte ihm von dem Moment an missfallen, da er es vor den Augen seiner erwartungsvollen Gäste hatte auspacken müssen. »Ein Hoch auf unseren Josi!«

Jubilar oder nicht, er hatte sich verbeten, dass die Sippschaft ihn Josi nannte. Ausgerechnet die nichtsnutzigen Vettern, die sich hatten taufen lassen! »Das durfte nur die Mutter. Und ob ich das im Ernst meine!« Johann Isidor kam der Gedanke, dass die Gelegenheit günstig wäre, das Bild endlich von der Wand zu nehmen. Wahrscheinlich würde es im Krieg weniger Besuch von Haus zu Haus geben. Es war ziemlich unwahrscheinlich, dass irgendeiner aus der Sippschaft sich noch mit dem Schicksal des Königsteiner Rosengartens beschäftigen würde. Schließlich hatten die Leute jetzt ganz andere Sorgen. Auch bei der Verwandtschaft taten die Söhne ihre Pflicht. Von zwei seiner oberhessischen Neffen wusste Johann Isidor, dass sie unterwegs nach Belgien waren, die Pforzheimer Buben wahrscheinlich schon in Frankreich.

Seine Gedanken kehrten zurück ins eigene Heim. Was wohl Betsy von ihm wollte? Sie schaute ihn an, als hätte sie ihn etwas gefragt und er zu antworten vergessen, ein uralter, ziemlich übler Trick. Wahrscheinlich hatte ihn Sara schon an Abraham ausprobiert. Er fragte sich, ob sein ferner Sohn etwa seinen Vater hintergangen und heimlich seiner Mutter geschrieben hatte. So etwas kam vor. Wahrscheinlich öfter als gedacht. Niemand konnte sich ja ein genaues Bild von dem machen, was im Kopf eines Achtzehnjährigen vorging, der zum ersten Mal von zu Hause weg war. Außerdem war Otto rundum ehrlich und zutraulich und wahrhaftig kein Meister im Vertuschen. Jedenfalls noch nicht.

Vielleicht hatte die letzte Stunde in seiner Vaterstadt das Gewissen des Jungen zu schwer belastet, eventuell hatte er die kleine Konspiration unter Männern gar als Schuld empfunden und hatte nun das Bedürfnis, seine Mutter nicht auszuschließen. Die ganze Angelegenheit war ja ein wenig ungewöhnlich, aber doch kein Betrug, eher ein Lebensabschnitt in einer Zeit, die sich im Umbruch befand. Johann Isidor bohrte seine Hand in die Tasche seiner Jacke. Er sah nicht den geringsten Grund, sich auf die Brust zu schlagen. Sollte er etwa bereuen, dass er wie ein Mann gehandelt hatte?

»Ich auch«, sagte er. Er sprach, was ihn bei Erwin rasend machte und er jedes Mal rügte, mit geschlossenen Zähnen. Seine Stirn juckte. Weshalb schaute ihn seine Frau eigentlich so erwartungsvoll an? Sie sah so ganz anders aus als sonst, irgendwie kindlich und verwirrt, eine nicht sehr gelungene Mischung aus Kaninchen und Matrone.

Vielleicht war es der guten Betsy peinlich, dass sie nun Bescheid wusste und dass sie ihm dies nicht gesagt hatte. Eine Frau war es ja nicht gewöhnt, vor ihrem Mann ein Geheimnis zu haben. Für die Frauen spielten die kleinen Vertraulichkeiten die Hauptrolle, die sie der Freundin ins Ohr zu flüstern beliebten. Auch noch als reife Vierzigerinnen. Wahrscheinlich war die Bluse neu, und er hatte mal wieder nichts gemerkt und die Arme um die Freude eines Kompliments gebracht. Doch was in drei Teufels Namen hätte er sagen sollen? Das Gewand war ein Albtraum. Nach neunzehn Jahren Ehe musste sich doch eine Frau wie Betsy ein für alle Mal gemerkt haben, dass ihr Mann cremefarbene Blusen mit Volants und Rüschen abscheulich fand. Die waren nicht Fisch und nicht Fleisch und sahen alle aus, als seien sie aus ausrangierten Gardinen geschneidert worden. Keine gute Reklame für einen Mann, der sein Vermögen im Stoffhandel gemacht hatte.

»Irgendwann hättest du es doch erfahren«, sagte Johann Isidor. »Außerdem finde ich es ganz in Ordnung, dass ich mich nicht an Ottos mutigen Wunsch gehalten habe, ihn allein losziehen zu lassen. Die Vorstellung, mit meiner Aktentasche aus dem Haus zu gehen und auf einer Parkbank die Zeit totzuschlagen, während mein Sohn in den Krieg zieht, war mir doch zu fremd. Da hat mein Herz gestreikt. Mein jüdisches Vaterherz. Ohne Abschied, ohne ein Wort, das bleibt. Der Junge wusste ja gar nicht, was er sagte und worum er uns gebeten hat. Das muss ihm Meister Theo Berghammer gesteckt haben, der pfiffige kleine Teufel, der nun mit seinem großen Maul und seinem teuren Fotoapparat dem Vaterland dient. Berichterstatter Kanonier Theodorich Rudolf Berghammer vom Ersten Regiment der Drückeberger meldet sich zum Dienst, Herr Hauptmann.«

»Ich verstehe kein Wort. Was um Himmels willen willst du mir sagen? Und was hat das alles mit Theo zu tun? Den habe ich doch gerade erst gestern gesehen.«

»Eben«, sagte Johann Isidor. Ihm ging auf, dass er zu früh gesprochen und zu viel gesagt hatte und dass er gerade dabei war, einen gewaltigen Narren aus sich zu machen, einen Idioten, der sein Maul nicht halten konnte und der mit beiden Beinen ins Fettnäpfchen gesprungen war. Kein Wunder, dass ihn niemand mehr haben wollte. Noch nicht einmal mit Ärmelschonern in einem Hinterstübchen durfte er sitzen. Wer hatte in einem Krieg schon Verwendung für einen debilen Schwätzer? Was nutzte Männermut, wenn die Zeit verstrichen war, um sich als Mann zu bewähren? Otto hatte also seiner Mutter nicht geschrieben. Die Gute war unschuldig wie eine Jungfrau. Sie wusste von nichts und hätte nie etwas geahnt, doch für ihren oberschlauen Ehemann war es zu spät zur Umkehr. Die Brücke über den Fluss war eingestürzt.

Er versuchte, seine Verärgerung hinunterzuschlucken, ohne dass Betsy argwöhnisch wurde. »Das kann doch nicht so schwer sein«, sagte er. Mit der Andeutung eines Kopfschüttelns ließ er wissen, dass er seinerseits nun nicht mehr im Bilde war. »Ich bin einfach zum Ostbahnhof gegangen und habe dort auf meinen Sohn gewartet.«

»Wann? Was für ein Ostbahnhof?«

»Mein Gott, Betsy, guck doch nicht so erschrocken. Man könnte meinen, ich hätte dir dein letztes Hemd gestohlen. Es gibt nur einen einzigen Ostbahnhof in Frankfurt, und von dem ist unserer Otto abgefahren. Zunächst nach Hanau und wahrscheinlich von dort ziemlich bald weiter. Soweit ich das mitbekommen habe, war es jedenfalls so geplant. Es waren übrigens eine ganze Menge Väter da. Und kaum Mütter. Du kannst also ganz beruhigt sein. Es hatte alles seine Ordnung.«

Von dem Augenblick an, da ihr Mann sein Taschentuch herausholte und sich mit hektischen Bewegungen die Stirn abrieb, als würde er einen entlaufenen Dieb jagen, dauerte es nur zwei erregte Herzschläge. Da hatte Betsy begriffen, dass der Vater von seinem Sohn hatte Abschied nehmen können und die Mutter nicht. Der Brief fiel ihr ein, den sie Otto an seinem letzten Abend zu Hause geschrieben hatte; sie erinnerte sich, wie sie den Tornister neu gepackt hatte. Den alten grauen Tornister von den Schulwandertagen. Mit dem Fleck vom Himbeersaft, der auch mit der guten Kernseife vom Sandweg nicht mehr herausgegangen war. Betsy sah sich Ottos Gebetsschal aus dem Schrank holen, schwarzer Samtbeutel mit einem sechszackigen Stern – der Magen David – in Goldfaden aufgestickt. Die Mutter, die dem Sohn einen Gebetsschal in eine Welt mitgegeben hatte, in der allein die Waffen über Tod und Leben entschieden, war ganz sicher, sie würde zu weinen anfangen. Schon schmerzte die Kehle, die Möbel schwankten in einem Nebel der Trauer, wie sie ihn noch nie erlebt hatte. Das letzte Sonnenlicht wurde grau, doch es geschah nichts.

Betsy Sternberg brauchte kein Taschentuch, nicht den Trost einer starken Hand. Sie war nie schwach gewesen, sie hatte immer eine Scheu gehabt, ihrem Mann Tränen zuzumuten. »Die Tränen einer Frau sind Erpressung«, hatte der vor Urzeiten in einer jener kleinen Streitereien gesagt, die für junge Ehepaare typisch sind. Das war kurz vor Ottos Geburt gewesen, und Betsy hatte sich eine Wiege mit einem Himmelbett in den Kopf gesetzt und der künftige Vater entschieden: »Derlei Firlefanz kommt nur dem Kaiser und den Rothschilds zu.«

Johann Isidor Sternberg, der gestrenge Handelsmann, für den Disziplin und Haltung so wichtig waren im Leben wie Anstand und Redlichkeit, mochte es ja noch nicht einmal, wenn seine Töchter weinten. Selbst die sechsjährige Victoria schickte er auf ihr Zimmer, wenn sie bei Tisch ihre Tränen nicht halten konnte. Betsy lockerte ihren Schal, zupfte an der Bluse. Ihre Hände waren ruhig.

»Wie ist es denn dort zugegangen?«, fragte sie. »Am Ostbahnhof meine ich. War Otto sehr aufgeregt? Ich fand, er war an seinem letzten Tag anders als sonst. Er hat ja noch nicht einmal sein Frühstück richtig essen können. Ich meine, er muss doch auch am Bahnhof nervös gewesen sein.«

»Überhaupt nicht. Ihr Frauen habt einfach zu viel Phantasie. Ich glaube, er hat den ganzen Trubel sogar genossen, die schneidigen Offiziere, die vielen fröhlichen jungen Burschen, die Lieder und das Lachen. Ein bildhübsches junges Mädchen hat ihm eine Rose an den Rucksack gesteckt. Die meisten Männer hatten Blumen am Gewehr, doch er hatte ja noch kein Gewehr. Er war noch nicht in Uniform. Es kann sein, dass ihm das ein bisschen leidgetan hat, aber er hat es nicht gezeigt. Ich war stolz auf ihn.«

»Ich wusste nicht, dass man Blumen an ein Gewehr stecken kann«, sagte Betsy. »Wir hätten ihm doch eine Rose aus unserem Garten mitgeben können. Das wäre irgendwie persönlicher gewesen.«

»Irgendwie«, wiederholte Johann Isidor. Er spürte eine große, lähmende Müdigkeit, und er hatte Lust auf einen Cognac, doch er traute sich nicht zu gähnen, und schon gar nicht hatte er den Mut, aufzustehen und die Flasche aus dem Vertiko zu holen.

Sie starrten die Teekanne an und wünschten sich, einem von beiden würde das erlösende Wort einfallen, doch es war nur der Papagei, der zu reden begann. Er hatte von Erwin »Halt’s Maul« zu sagen gelernt, und er tat es ohne Unterlass. Die Wolken wechselten die Farbe, die Sonne tauchte weg, die Vögel flogen in die Bäume. Betsy stand auf, Johann Isidor folgte ihr so bereitwillig, als würde er immer in den Fußstapfen seiner Frau laufen. Sie setzten sich – auch dies ungewöhnlich – nebeneinander auf die Couch in dem großen Salon. Ihre Arme berührten sich. Betsy fiel ein Opernbesuch im vergangenen November ein, eine wunderbare Aufführung des »Fidelio«. Johann Isidor war eingeschlafen.

Die Seidenkissen waren weich und kühl, doch nicht beruhigend genug, denn der Vater zürnte Gott, dass er ihn nicht gelehrt hatte, mit seinem Sohn zu sprechen, als die Zeit dafür noch gegeben war. In die Stille hinein sagte er: »Nein.« Es klang, als hätte er im Schlaf geschrien und werde bedroht. Der Moment seiner Schwäche ermutigte Betsy, ihm zu sagen, dass sie wieder schwanger war.

Er hatte gerade hervorgestoßen: »Das kannst du doch nicht im Ernst meinen, meine liebe Fritzi«, und er war gespensterbleich geworden und seine Pupillen riesengroß. Seine Frau war endgültig zu dem Entschluss gekommen, dass sie ihn nie befragen würde, wohin und zu wem er sich in diesem Moment verirrt hatte. Da schellte es an der Haustür. Dreimal lang und eine ganz kurze Pause zwischen jedem Klingelton. Nur die Familie und das Personal des Hausbesitzers schellten so, stolz und selbstbewusst.

Jettchen und Victoria kamen nach Hause. Beide sahen sie wie die glücklichen kleinen Mädchen in den Bilderbüchern aus, denn sie waren den Zwängen des Lebens entkommen und in den Himmel getanzt. »Es war wunderschön im Zoo«, sagte Jettchen, »die Tiere sind so friedlich. Selbst die wilden.« Sie legte ihren Hut auf die kleine Konsole in der Diele und schüttelte ihr Haar aus. Jettchen war immer noch schön, ihr Herz so jung wie einst im Mai, als sie der Nachtigall gelauscht, denn sie zählte die Jahre nicht mehr – nicht die, die hinter ihr lagen, und nicht die, die ihr blieben.

»Es war der schönste Tag in meinem Leben«, präzisierte Victoria, »der allerallerschönste Tag.« Sie sah ihre Eltern an, holte fünfzig Pfennig aus der Tasche ihres meerblauen Samtkleids und tat einen Luftsprung. »Von meinem lieben, lieben Tantchen«, sagte sie triumphierend. »Und morgen kauft sie mir eine Tüte Sahnebonbons. Dann kann ich von Mariechen die Uniform und ein richtiges Gewehr für meinen Moritz kaufen.« Noch als der Puppenjunge bereits feldgrau eingekleidet war und gegen die Briten kämpfte und den Franzosen in den Rücken schoss, wunderte sich Victoria, dass ihre Eltern an diesem Sonntagnachmittag so wenig Einwände gegen die Geschäfte ihrer Tochter gemacht hatten.

Obwohl in den Zeitungen regelmäßig zu lesen war, die Post würde so gut funktionieren wie in Friedenszeiten und deutsche Soldaten wären sehr viel anhänglicher und familienbewusster als der Feind, trafen im Oktober von Otto nur zwei Feldpostkarten in Frankfurt ein, allerdings zwei, die die ganze Familie entzückten. Die erste zeigte deutsche Soldaten in einem Unterstand, sie saßen an einem Tisch mit einer karierten Decke, spielten Karten und tranken Bier. Victoria durfte die zweite Karte mit bunten Stecknadeln an der Wand ihres Zimmers befestigen. Sie zeigte einen barfüßigen Knaben mit französischer Offiziersmütze, Schnuller und Gewehr und trug die Unterschrift »Frankreichs jüngstes Aufgebot«.

Beide Karten waren im September geschrieben worden. Mit Datum vom 5. teilte Otto mit: »Morgen ist feldmäßige Schießübung, übermorgen fahren wir an die Front. Ich darf nicht sagen wohin. Alle sind lustig, ich freue mich sehr auf meine Feuertaufe.« Am 27. September schrieb er: »Zu Rosch Haschanah gab es einen Gottesdienst für die Juden. Danach verteilte der Rabbiner Brot, Wurst und ein extra Gebetbuch fürs Militär. Brot und Wurst habe ich mit den Kameraden geteilt. Wenn Ihr mir schreibt, schickt mir dauerhafte Esswaren, ein Mittel gegen Durchfall und ein Bild von Euch. Alle hier haben Fotos von der Familie. Euer liebender Sohn und treuer Bruder Otto.«

Das waren die letzte Worte von Kanonier Otto Wilhelm Samuel Sternberg. Er fiel am 11. Oktober 1914 bei Ypern. Die Mitteilung traf am 9. November um vierzehn Uhr in seinem Vaterhaus ein; sie war von Leutnant Henning von Brauweiler unterzeichnet worden. »Ihr Sohn fiel auf dem Feld der Ehre«, hatte der geschrieben. »Er gab sein Leben für Kaiser und Vaterland. Sie können stolz auf ihn sein.«

Es war das erste Mal, dass Victoria ihre Mutter weinen sah. Sie hörte sie ihren Vater »Bist du nun zufrieden?« fragen, und sie wunderte sich, dass der keine Antwort gab und in sein Arbeitszimmer ging. Sie rannte in die Küche. Josepha kniete vor dem Herd und bekreuzigte sich. Als sie sich in eine unbenutzte Damastserviette schnäuzte, schloss Victoria entsetzt die Augen. Auf Zehenspitzen schlich sie zum Balkon. So leise wie möglich öffnete sie die Tür. Eine Zeit lang stierte sie auf die Tränenden Herzen.

Die Wunderblumen mit der Zauberkraft, vor jeder Menschennot zu schützen, waren verblüht, einige Blätter aber noch grün und fest. Wie im Sommer stand der Tontopf, auf dem Otto für seine kleine Schwester in verschnörkelten Blockbuchstaben »Königin Victoria« gemalt hatte, auf dem Blumenhocker mit den gelben Kacheln. Victoria zählte bis zehn. Sie war sicher, sie würde bei der Zehn, genau wie immer, Ottos Stimme hören. »Du musst beim Wünschen zum Himmel schauen, Vicky, Gott ist schnell gekränkt«, hatte er immer gesagt. Und sie am Ohr gezupft. Ganz leicht nur, wie ein Kind vom Wind.

Die Welt blieb still. Nur ein Rabe krähte. Victoria nahm den Blumentopf mit den rot leuchtenden Buchstaben hoch. Einen Moment hielt sie ihn über ihrem Kopf. Dann schleuderte sie ihn vom Balkon.