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FRÜHLINGSERWACHEN
Frankfurt, 21. März 1910
Frau Betsy saß auf der mit kirschrotem Plüsch bezogenen Récamière vor dem weiß lackierten Wiener Kaffeehaustisch, den ihr Mann ihr zum fünfzehnten Hochzeitstag für den Wintergarten geschenkt hatte. Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen klappte sie das Buch zu, in dem sie die letzte halbe Stunde mehr geblättert denn gelesen hatte. In jeder Gesellschaft kam neuerdings einer auf »Königliche Hoheit« von Thomas Mann zu sprechen. Der Roman war im Vorjahr erschienen, und Betsys Freundin Margot Einstein, die als ein Blaustrumpf galt und deshalb ledig geblieben war, hatte beim Dienstagskränzchen im Café Hauptwache wieder einmal von der »raffinierten Romankonstruktion« geschwärmt. Obwohl Betsy durchaus für moderne Literatur empfänglich war, fand sie den Roman weit weniger animierend als den Titel; dass der Autor ein fiktives deutsches Fürstentum zum Schauplatz seiner Geschichte genommen hatte, irritierte sie. Gerade weil sich Madame Sternberg für den deutschen Adel interessierte, legte sie Wert auf Authentizität.
Ihrer Meinung nach war »Königliche Hoheit« jedenfalls nicht mit den »Buddenbrooks« zu vergleichen, die sogar Johann Isidor gelesen hatte, obgleich er Romane nicht mochte und Männer, die solche lasen, für verweichlicht hielt. Betsy schauderte, als sie sich erinnerte, dass sie Johann Isidor nur mit der allergrößten Mühe davon hatte abhalten können, bei einem Diner im Hause des Germanistikprofessors Dr. Dr. Eduard Sohle allen Anwesenden seine Meinung über Literatur und Heldennaturen mitzuteilen.
Der hoch angesehene Handelsmann Sternberg, der seine Erfolge der Eigenschaft verdankte, dass er im richtigen Moment schweigen konnte und dies meistens auch tat, hatte zum Abschluss des sechsgängigen Menüs reichlich Camembert gegessen und vier Gläser Burgunder getrunken – er vertrug weder das eine noch das andere; die warnenden Blicke seiner Frau hatten ihn nicht mehr erreicht, und sie hatte den enervierenden Redefluss nur mit einer abrupten Unterbrechung stoppen können, die nicht nur allen Anwesenden, sondern auch ihr selbst als besonders unweiblich missfiel. Trotzdem hatte Betsy ihren Gatten zu Hause mit kalten Kompressen auf dem Kopf und warmen Tüchern auf dem Leib behandelt und ihm selbstverständlich keine Vorhaltungen gemacht.
Betsy schaute ins Esszimmer. Dort hing seit drei Tagen der stolze Hausherr in Öl und modernem Holzrahmen, neben dem Bild vom seligen Onkel Heinrich. Johann Isidor selbst war am frühen Morgen zu wichtigen Bankgeschäften und Verhandlungen mit einer aufstrebenden Textilmanufaktur nach Paris abgereist. Für seine Frau bedeutete das, sie würde vier Tage lang nur ihre Kinder, das Hauspersonal und die Nachbarinnen sehen, die gleich ihr auf der Höhenstraße und der Bergerstraße einkauften. Obwohl ein solches Programm kaum Abwechslung versprach, war Betsy in gehobener Stimmung. Sowohl das Wetter als auch der Kalender zeigten Frühjahrsanfang an.
Die Natur hatte früh begonnen, den alljährlichen Zauber einzuläuten. Im Vorgarten blühten Buschwindröschen, in der chinesischen Vase auf dem kleinen Empiretisch dufteten die ersten Veilchen, die Blumenfrauen in der Stadt boten Narzissen und Vergissmeinnicht an und herrliche langstielige Rosen aus dem Treibhaus. Die kleinen Mädchen trugen weiße Strümpfe und mutige Buben nackte Knie.
Die Vögel waren wieder in den Hinterhof eingezogen. Die Herrin des Hauses Rothschildallee 9 hörte die Meisen zwitschern und die Tauben gurren. Sie öffnete das große Wintergartenfenster, schaute hinunter, atmete tief ein und spürte den alten Kinderdrang, eine Wolke vom Himmel zu holen. Der Sauerkirschbaum hatte Knospen. Ein Forsythienstrauch flaggte butterblumengelb, die Wäschebleiche leuchtete hoffnungsgrün. Betsy summte das Lied »Jetzt fängt das schöne Frühjahr an, und alles fängt zu blühen an«. Sie erinnerte sich an ein rosa Flügelkleid und einen Jüngling namens Carl Theodor, der ihren Namen in eine Birke geritzt hatte. Mit dem Hauch eines Seufzers kehrte sie aus der alten Heimat zurück und nahm sich vor, das gute Wetter zu nutzen, um die seidenen Sofakissen gründlich zu lüften, die Teppiche im Hof ausklopfen und die Sonntagskleider ihrer Töchter waschen zu lassen. Außerdem war es höchste Zeit, Johann Isisdor klarzumachen, dass sein Stammhalter einen neuen Anzug brauchte und die Zwillinge Jacken und Schuhe.
»Und deine Frau«, sagte Betsy, »wünscht sich einen schönen Hut, so groß wie ein Wagenrad und moosgrün, geschmückt mit Federn und Blumen. Und ein lila Kleid mit Taillenschärpe.« Wie immer, wenn sie Selbstgespräche führte, war ihr Ton ironisch. Neu war, dass sie spürte, wie sie errötete. Etwa schon wie eine Matrone, die einen Moment vergessen hat, wie alt sie ist? Seit einiger Zeit fiel Frau Betsy nämlich auf, dass das treu sorgende Familienoberhaupt trotz des Wohlstands im Hause Sternberg der allgemeinen Männermeinung war, eine Frau von achtunddreißig Jahren brauche sich nicht mehr modisch zu kleiden. »Hauptsache solide und reinlich«, hatte er tatsächlich vor zwei Wochen gesagt.
»Nicht auf dem Parkett«, rief Betsy in Richtung Salon.
Die Zwillinge waren dabei, einen riesigen Eisbären auf Rädern, über den nur ihre kleine Schwester zu gebieten hatte und der nur im Kinderzimmer rollen durfte, um die Möbel zu ziehen. Die fiebrige Halsentzündung, die Clara und Erwin eine Woche lang den Appetit und die Kraft der Stimme geraubt hatte, war ihnen nicht mehr anzumerken. Trotzdem hatte Doktor Meyerbeer striktes Ausgangsverbot bis zum Sonntag verhängt. Anna, das Kindermädchen, hatte ihren freien Nachmittag und konnte nicht mit der Jüngsten spazieren gehen. Weshalb Otto sich ohne Auftrag mit seinen Geschwistern abgab, als wären ihm sein Bruder und die beiden Schwestern lieb und teuer, beschäftigte seine Mutter schon seit einer Stunde, ohne dass sie eine Antwort fand.
Wie immer, wenn der Vater verreist war, durften die Kinder im Salon spielen. An diesem ersten Frühlingstag schienen sie das seltene Privileg besonders zu genießen. Mindestens seit einer halben Stunde hatte es weder einen Streit um Besitz noch einen plötzlichen Zornesausbruch gegeben, noch nicht einmal ein lautes Wort. Die lauschende Mutter, die einer langen Friedensphase aus Erfahrung zu misstrauen pflegte, runzelte die Stirn. Sie hörte ihren Ältesten etwas sagen, unmittelbar danach die Zwillinge klatschen und »Hurra« kreischen. Die kleine Victoria krähte. Otto brummte bärentief.
»Warte nur ab«, warnte er seine kleine Schwester, »dir wird das Lachen noch vergehen, wenn sie dir an deinem sechsten Geburtstag mit großem Getue einen Griffel in die Hand drücken und einen Ranzen umhängen.« Zum hörbaren Vergnügen des jüngsten Familienmitglieds ahmte er ein grunzendes Ferkel nach. Wieder jubelten die Zwillinge. Ihre Mutter lächelte, obgleich die Kostprobe jugendlicher Lebenserfahrung ihre Sinne schärfte.
Mit ihrem üblichen Argwohn für Abweichungen von der Norm grübelte sie, ob Otto mit seiner unerwartet entflammten Geschwisterliebe wohl etwas im Schilde führte und, wenn ja, wen er beeindrucken wollte und weshalb. Nach fast achtzehn Monaten Eingewöhnungszeit war ihrem Ältesten das jüngste Familienmitglied noch immer nicht geheuer, und er gab sich nicht viel Mühe, seine Seelenverwandtschaft mit dem biblischen Kain zu verleugnen. Jedenfalls erschien es seiner Mutter verdächtig, dass Otto, der Meistertaktiker, nicht unmittelbar nach dem Mittagessen Verhandlungen aufgenommen hatte, um den Nachmittag außer Haus zu verbringen. Dass es ihn an einem solch prächtigen Tag nicht lockte, das Abenteuer des Lebens zu suchen, und er stattdessen seine Geschwister unterhielt und sie auch noch behandelte, als wären sie ihm willkommene Kameraden, verwirrte Betsy mehr, als dass es sie entzückte.
»Nicht so grob, Otto«, rief sie prophylaktisch.
»Nein«, versprach der Sohn.
Die Märzsonne brannte die Glasfront im Wintergarten sommerheiß. Das Licht schimmerte violett. Der intime kleine Raum war vom ersten Tag an Frau Betsys Refugium und Paradies gewesen. Wenn sie in Stimmung war, die Segnungen zu bilanzieren, die ihr Leben bestimmten, vergaß sie nie den Wintergarten. Auch nun schaute sie sich um und ließ ihre Augen das Glück des eigenen Heims trinken. Die Blätter des Gummibaums, am Vortag von ihr selbst mit schwarzem Tee abgewaschen, glänzten in tiefem Grün. Die kostbare Zwergbanane, die erst seit Kurzem von deutschen Gärtnern gezüchtet wurde, hatte ein neues Blatt, dem Korallenmoos war das Umtopfen ausgezeichnet bekommen, und die Duftpelargonie roch nach Eukalyptus und machte ihrem Namen alle Ehre. In einem weißen Porzellantopf, der mit winzigen Goldputten verziert war, leuchtete die rosa Blüte eines Hibiskus. Die empfindliche Pflanze war vor zwei Jahren ins Haus gekommen, hatte jedoch noch nie geblüht. Jetzt hatte sie sich über Nacht von einer gewöhnlichen Grünpflanze in eine atemberaubende Schönheit verwandelt. Betsy empfand das als gutes Omen für einen langen Frühling.
Einen belebenden Augenblick dachte die pflichtbewusste Hausfrau nicht an Frühjahrsputz und neue Küchengardinen, nicht an die ersten Radieschen und dass es bald Pessach sein würde und sie beizeiten die Matze und den Hecht bestellen müsste. Frau Betsy träumte von einer Sommerreise – ohne die Kinder und ohne Verpflichtungen, nur mit ihrem Mann, vielleicht nach Karlsbad, wohin sie schon lange wollte, weil man sich Wunderdinge von der dortigen Küche und der Kur erzählte. Oder nach Bad Gastein, wohin jetzt etliche fuhren, die gut zu leben wussten. Betsy war zwar gesund an Leib und Seele und bedurfte keiner Kur, doch sie gab ihrer Phantasie gern Nahrung und konnte dies am besten tun, wenn sie auf den Spuren der Berühmten wandelte. Meran fiel ihr ein. Dort hatte selbst die rastlose österreichische Kaiserin Elisabeth Ruhe gefunden. Fontanes Effi Briest, mit der Frau Betsy immer noch zu leiden beliebte, wenn sie Geschmack beweisen wollte, war nach Ems gefahren.
»Ach«, seufzte sie, »Ems wird es wohl sein.« Sie schämte sich ihrer Unzufriedenheit. Johann Isidor hielt nicht viel von Sommerreisen und noch weniger von Frauen, die in berühmten Heilbädern Kur machten und ihre Ehemänner eine Stange Geld kosteten. Seine Frau hatte manchmal die Vermutung, die Jugendzeit auf dem Dorf und ein Vater, der nie weiter als bis nach Frankfurt gekommen war, hätten gewisse Spuren bei ihrem Mann hinterlassen. Sie stand auf und schaute in die Hinterhöfe der gegenüberliegenden Wohnungen. Wie immer um zwei Uhr mittags saß ein grauhaariger Schneider mit gekreuzten Beinen auf einem langen Tisch, ein Maßband um seinen Hals, ein rotbrauner Dackel zu seinen Füßen. Betsy winkte dem Nachbarn zu, doch der blickte nicht hoch, der Dackel schlief. Sie nahm sich vor, gleich am nächsten Tag sämtliche Oberhemden von Johann Isidor hinüberzutragen und ihnen neue Kragen machen zu lassen. Der gut betuchte Handelsmann Sternberg mochte sich von keinem Kleidungsstück trennen. »Ich hab nur ein Haus«, pflegte er zu sagen, wenn seine Frau ihm den Kauf eines neuen Überziehers oder eines modischen Sakkos vorschlug.
Die Berufung auf ein Haus als Besitz entsprach nicht mehr der Realität. Johann Isidor Sternberg, Handelsherr, Partner in einem Verlag mit Renommee und in höchst einträgliche Bankgeschäfte involviert, hatte vor einem halben Jahr ein Doppelhaus in der Glauburgstraße erworben und das Gebäude von Grund auf renovieren lassen. Die stadtbekannte Posamenterie Sternberg in der Hasengasse gab es immer noch.
»Von seinen Anfängen trennt man sich nicht«, sagte Johann Isidor, wenn es die Gelegenheit erforderte, »sonst verliert man den Boden.«
Madame Betsy ließ sich ebenso wenig wie ihr Gatte vom Wohlstand zu Extravaganzen hinreißen. Ihr wäre es nie eingefallen, ihrer Freundin Henriette nachzueifern. Deren Mann hatte ein Vermögen mit dem Import französischer Weine und mit Sherry aus Spanien gemacht. Sie trug sogar zu Hause Blusen aus Honanseide und dekolletierte Roben aus Paris und ließ auch an Werktagen den Kuchen auf einer Tortenplatte von Hutschenreuther servieren.
Wenn Betsy mit den Kindern allein war, wurde die Nachmittagsschokolade in der Küche eingenommen. Josepha servierte dazu flämische Waffeln mit rheinischem Apfelkraut und neue Geschichten von der Zarenfamilie, die immer noch nach Bad Nauheim kam. Die fünfzehnjährige Olga und die dreizehnjährige Tatjana machten bereits Trinkkuren, die Zarin hatte Doktor Georg Grote zu ihrem Badearzt erkoren; bei dem arbeitete eine gewisse Hedwig, die wiederum eine Cousine zweiten Grades von Josepha war. Also kamen alle Nachrichten vom Zarenhaus aus fast erster Hand.
Betsy hatte sich an diesem entspannenden Frühlingstag noch nicht einmal für den Nachmittag umgezogen. Sie trug ein blau-weiß gewürfeltes Kleid, das sie, was sie niemandem eingestanden hätte, an ihre Jungmädchenzeit im Pensionat in Montreux erinnerte. Es hatte einen kleinen Spitzenkragen, einen breiten Stoffgürtel und einen bauschigen Rock, der es ihr gestattete, wenn sie in halb sitzender Stellung auf der Récamière ruhte, ihre Beine anzuziehen, ohne dass es zu freizügig wirkte. Obgleich sie vier Kinder geboren hatte und die kleine Victoria erst knapp achtzehn Monate alt war, war Betsy immer noch schlank und beweglich. Einige ihrer Freundinnen fanden allerdings, Betsy schulde sowohl ihrer gesellschaftlichen Stellung als auch ihrem Alter ein wenig mehr von der Körperlichkeit, die in guten Kreisen als stattlich bezeichnet wurde. Um ihr frisches Aussehen und dass sie immer guter Stimmung war, wurde sie indes allerorten beneidet.
Vor allem wenn sie sich unbeobachtet fühlte, wirkte Betsy Sternberg so lebensfroh wie das junge Mädchen, das sie gewesen war. »Deine Schwestern«, hatte der Vater bei seinem letzten Besuch vor zwei Monaten festgestellt, »sind längst so breit wie hoch. Und auf den Stiegen schnaufen sie wie ein Biergaul. Dabei haben sie weniger Kinder als du.«
»Die Hälfte meiner vier Kinder«, hatte die Lieblingstochter des Preziosenhändlers Siegfried Strauß gelacht, »habe ich ja auf einen Streich erledigt. Zwillinge sind ein besonderer Himmelssegen.«
Bei Clara und Erwin galt das ausschließlich für die Zeit, in der sie ihre Wünsche noch nicht artikulieren konnten. Nur ihr Vater vermochte ihre Freude am Widerspruch zu zügeln. Gegen ihre Phantasie und die furchtlose Art, sich in der Welt der Erwachsenen zu behaupten, war kein pädagogisches Kraut gewachsen. Ihre Mutter wurde zur Entgegennahme von Beschwerden regelmäßig in Erwins Schule bestellt und hatte jedes Mal immense Mühe, Fräulein Hirt, die Lehrerin der vierten Klasse, zu beruhigen, die Erwin einen Satan nannte und ihm ein schlimmes Ende auf dem Gymnasium prophezeite. Nach solchen Diskussionen pflegte sich das Vorurteil von Fräulein Hirt zu festigen, dass Kinder, die an keinem Kommunionsunterricht teilgenommen hatten, meistens zur Renitenz neigten.
Clara, die schon mit sieben Jahren fließend hatte lesen können und deren Gedächtnis für Zahlen selbst ihrem kritischen Vater außergewöhnlich erschien, sollte nicht auf eines der üblichen Mädchen-Lyzeen. Sie war für die Viktoriaschule im Westend angemeldet. Das bedeutete zwar, dass die künftige Sextanerin noch lange Begleitung auf ihrem Schulweg brauchen würde, doch der Aufwand erschien den Eltern lohnend. Es gefiel ihnen sehr, dass die Viktoriaschule nach der verehrten Mutter des Kaisers benannt war. Noch wichtiger: Die Viktoriaschule wurde in jüdischen Kreisen besonders geschätzt. Bei allen Assimilationsbestrebungen der Sternbergs hätten sie nicht gern gesehen, dass ihre Clara das einzige jüdische Mädchen in der Klasse gewesen wäre.
Noch zweifelten die Eltern, ob Erwin eine ebenso schnelle Auffassungsgabe hatte wie seine Schwester. Trotzdem sollte er seinem Bruder auf das humanistische Kaiser-Friedrichs-Gymnasium folgen, das von der Rothschildallee aus zu Fuß in einer Viertelstunde zu erreichen war und als eine Lehranstalt für die Elite galt. Zu Ottos geheimem Kummer hatte sein kleiner Bruder, an dem er ausschließlich den Anker Steinbaukasten schätzte und den er für einen Dummkopf hielt, die Aufnahmeprüfung für die Sexta sehr viel besser bestanden als einst er.
Noch wurde nicht viel von der schulischen Zukunft der Zwillinge gesprochen. Vorerst interessierten sich Clara und Erwin hauptsächlich für ihren zehnten Geburtstag im April. Beide wünschten sich je einen Amur-Tiger und einen Löwen. Seit einem Jahr lebte ein prächtiges, von den Frankfurtern ehrfürchtig bestauntes Tigerpaar im Zoo, und vor zwei Jahren war der Bestand des Tiergartens um zwei Löwen aus dem Senegal bereichert worden. Selbst Otto, der sich für zu erwachsen hielt, um vor den Käfigen wilder Tiere zu stehen, kannte die Löwen. »Und dies von der Mähne bis zum Schwanz«, wie er übellaunig anzumerken pflegte. Da das »Kaiser Friedrich« dem Zoo benachbart war, hatte er auf Anordnung der pädagogischen Obrigkeit viele Unterrichtsstunden im Zoo verbracht und die Senegal-Löwen sogar zeichnen müssen. Indirekt hatte dies seinen Eltern einen ersten Hinweis auf den Berufswunsch ihres Ältesten geliefert. Zu ihrem großen Missfallen hatte Betsy nämlich ihren Otto bei seinem neuen Freund Theo spotten gehört: »Als ob ein Offizier der hessischen Gardedragoner irgendwann in seinem Leben in die Lage kommt, einen Löwen zeichnen zu müssen.«
»Keiner in meiner Familie ist je auf die Idee gekommen, Soldat zu werden«, hatte die entsetzte Mutter am Abend geklagt.
»Denkst du in meiner«, erwiderte Johann Isidor. »Aber wir sollten uns nicht aufregen. Mit vierzehn wollte ich noch Staatsanwalt werden.«
»Ausgerechnet! Und was hat dich davon abgebracht?«
»Dass mein Vater immer gesagt hat, Juden nehmen die nicht.«
Die Zwillinge machten noch keine Zukunftspläne. Ihren Hang zu Capricen, dass sie frech wie Gossenkinder werden konnten, wenn man sie reizte, und dass sie allenfalls Respekt vor dem Vater und ihrem großen Bruder hatten, sah man ihnen nicht auf Anhieb an. Zumindest auf den ersten Blick sahen sie wie die munteren kleinen Engel auf den Postkarten aus, die besonders beliebt zur Weihnachtszeit und an Ostern waren.
Betsy sammelte solche Karten. Durch sie inspiriert, fing sie auch wieder zu zeichnen an, und sie versuchte – allerdings vergebens –, wenigstens Clara für Malerei zu interessieren. Noch mehr Zeit opferte sie, um die drei Ältesten in die von ihr so sehr geliebte Welt der Musik einzuführen. Allerdings ahnte sie schon zu einem frühen Zeitpunkt, dass sie kaum Erfolg haben würde. Trotzdem setzte sie sich jeden Tag guten Mutes an den Flügel, der so berauschende Frühlingsträume in ihre Seele geträufelt hatte.
Ein wenig lustlos blätterte die pflicht- und bildungsbewusste Mutter in den Klaviernoten für Anfänger. Sie verfluchte, als sie den ersten Ton anschlug, die Klavierlehrerin der Zwillinge. Die verwelkende Jungfer, die nie lächelte und immer nach Kampfer roch und ständig erkältet war, hatte Madame Sternberg empfohlen, jeden Tag die Lieder vorzuspielen, die Clara und Erwin für die Musikstunden einzuüben hatten. »Die können dann gar nicht anders, als ihrer Mutter nachzueifern«, hatte Fräulein Schiffer behauptet.
Betsy setzte eher auf einen Backenstreich und Stubenarrest als wirksame Mittel gegen Aufmüpfigkeit und Lernunwilligkeit, doch es widerstrebte ihr, eigenmächtig gegen den neumodischen, von Fachleuten empfohlenen pädagogischen Strom zu schwimmen. Die tendierten dazu, Kinder nicht mehr wie früher zur Musik oder zum Zeichnen zu zwingen, sondern sie behutsam in die Welt der Kunst zu geleiten. Bei Otto, Clara und Erwin war die Saat der Behutsamkeit absolut nicht aufgegangen. Musik war für das träge Trio erst interessant geworden, als ihr Vater, der keiner technischen Neuerung widerstehen konnte, ein Grammophon ins Haus gebracht hatte. Hätte seine entsetzte Gattin nicht eingegriffen und die Zeit für die Benutzung des »Teufelsdings« rigoros beschränkt, wären Familienleben und guter Geschmack im Handumdrehen Opfer der albernen Schlager geworden, die neuerdings jeder Leierkastenmann in den Hinterhöfen dudelte und die die Dienstmädchen beim Teppichklopfen trällerten.
Ohne Begeisterung spielte die entschlossene Retterin der Kultur das Lied vom treuen Paladin, das Erwin und Clara in der Klavierstunde eingeübt hatten, ehe sie krank geworden waren. Die beiden zeigten keine Spur von Erinnerungsvermögen. Ihre Mutter hörte sie im Salon kichern. Den anspornenden Rufen, mit denen sie sich gegenseitig bedachten, entnahm sie, dass sie nach wie vor mit Victorias Eisbär auf Rädern beschäftigt waren. Noch war Betsy in zu friedlicher Stimmung, um einzugreifen. Sie dachte an die Klavierlehrerin und deren Empfehlung, holte die Noten zu Engelbert Humperdincks »Hänsel und Gretel« aus der Musikkommode und fing an zu spielen.
Betsy kannte den Komponisten noch von seiner Zeit beim Hoch’schen Konservatorium in Frankfurt und schätzte ihn sehr. Lächelnd, weil sie an die erste Begegnung mit ihm dachte und noch immer ihr Geheimnis gut verwahrte, spielte sie »Suse, liebe Suse, was raschelt im Stroh?«, dann »Brüderchen und Schwesterchen« und schließlich »Der kleine Sandmann bin ich«.
Clara brüllte gellend »Hurra« und Erwin noch viel lauter »An die Gewehre, Männer«. Seufzend klappte ihre Mutter den Flügel zu und hetzte ahnungsvoll zum Kriegsschauplatz. Einige Sekunden verharrte sie erstarrt am Rundbogen, der das Esszimmer mit dem Salon verband. Sie musste sich mit aller Kraft bezwingen, ihre Kinder nicht wie einen nassen Sack durchzuschütteln und ihre Köpfe aneinanderzuschlagen. Die kleinen Teufel mit den Engelsgesichtern hatten dem horrend teuren Eisbären der Firma Steiff – ein Geschenk von Tante Luise, die in Victoria vernarrt war – mit Wasserfarben einen schwarz-weiß-roten Sattel aufgemalt und ihm aus der Goldborte von der Samtgardine Halsband, Zaumzeug und Leine geschnitten. Die Borte, eine exquisite Handarbeit aus der Provence, war derzeit eines der kostbarsten Stücke, das in der Sternberg’schen Posamenterie angeboten wurde. Die gerade erst mit mühevollem Aufwand gereinigte Gardine hatte ein Loch in Einmeterhöhe und einen zerfetzten Saum.
Clara begriff vor ihrem Bruder, dass die Stunde der Abrechnung gekommen war. Sie knickste ungeschickt und sagte näselnd: »Pardon.« Wort und Aussprache waren die letzte Erinnerung an das kultivierte französische Kinderfräulein, das es keine sechs Wochen bei den Sternbergs ausgehalten hatte und am Tage, da sie das Haus in der Rothschildallee für immer verließ, den Schwur tat, sie würde nie wieder bei einem Handelsmann in Stellung gehen, und bei einem deutschen schon gar nicht.
»Verschwindet, ehe ich mich vergesse«, brüllte Betsy. Auch sie gedachte gerade der Mademoiselle Antoinette. Aus der sanften, pflichtbewussten, klugen Mutter wurde eine wütende Amazone, die keinen verschonen würde, der ihr den Hausfrauenstolz raubte. Mit dem linken Fuß stampfte sie auf das empfindliche Parkett. Drohend erhob sie ihre Rechte. Ein Zorn, der keine Barmherzigkeit kannte, peitschte ihre Nerven. Madame Sternberg, für die Ausgeglichenheit erste Mutterpflicht war, vergaß erst ihre Contenance und danach ihre Erziehung. Mit aller Kraft schlug sie nach Erwin, doch als sie sich schnaufen hörte, geriet die Rächerin ins Straucheln; um ein Haar hätte sie auch ihr körperliches Gleichgewicht verloren. Allerdings krümmte Betsy ihrem Kind kein Haar. Der flinke kleine Teufelskerl hatte sich dem Schutz des Personals unterstellt und war in die Küche geflüchtet. Als seine Verfolgerin ihn dort nach einiger Zeit aufspürte, tröstete Josepha gerade ihren geliebten Hätschelbuben mit einem Stück vom feinen englischen Rumkuchen, den seine Mutter für den bevorstehenden wöchentlichen Kaffeenachmittag mit ihren Freundinnen gebacken hatte. Auf der Fensterbank kauerte Clara, ein wenig bleich, vielleicht sogar eine Spur schuldbewusst, doch augenscheinlich nicht appetitlos. Auch sie ließ sich den für den Damennachmittag bestimmten Kuchen munden – auf einem zartgrünen Dessertteller aus dem Service, das ihr Vater aus Limoges hatte kommen lassen und das nur für einen auserwählten Gästekreis benutzt werden durfte.
»Wartet nur«, drohte Betsy, doch sie merkte, dass ihr Zorn verraucht war, gab die Partie geschlagen und machte sich auf den Weg zurück in den Salon.
Die kleine Victoria saß, fast ganz von der schweren Übergardine verdeckt, auf dem Fußboden und lutschte an Claras Malkasten. Ihre Schuhe fehlten, die hellblaue Zierschürze aus Voile war zerrissen, das neue beige Samtkleid mit tintenblauer Farbe beschmiert. Otto, der sich den ganzen Nachmittag rührend um seine jüngeren Geschwister gekümmert hatte und offenbar Victoria auch mit einem seiner Zinnsoldaten hatte spielen lassen, denn ein Infanterist mit dem Gewehr im Anschlag schaute aus der Tasche ihres Kleids hervor, war nirgends zu sehen. Noch während sie sich umschaute und die barfüßige Victoria hochhob, die zu weinen begonnen hatte und nun wie eine durchnässte kleine Katze aussah, entknotete die Mutter mit geübtem Griff sämtliche Fäden der häuslichen Kalamität. Der erste Frühlingstag, dieser Rausch aus Sonne, Farbe, Erinnerung und Erwartung, hatte für sie seinen Zauber verloren. Betsy versuchte – ein probates Mittel bei Missstimmung – sich mit einem Schuss Galgenhumor zu trösten. »Du musst besser auf deinen Bruder aufpassen«, sagte sie zu der Kleinen.
»Nein«, jubelte Victoria. Es war, weil neu, ihr Lieblingswort.
Ihr großer Bruder setzte seit einiger Zeit eher auf den lautlosen Protest von Feingeistern, die das Geheimnis des Lebens ergründet haben. Bezüglich seines Nachmittagsprogramms hatte er es erst gar nicht zu den Verhandlungen mit seiner Mutter kommen lassen, die beide Parteien über die Maßen zu erschöpfen pflegten. Seit der Ankündigung, dass seine Versetzung in die Obertertia gefährdet wäre, waren nämlich seiner Freizeitgestaltung auf väterliche Anordnung hin unangenehm einengende Grenzen gesetzt worden. Gewöhnlich hielt sich Otto an die belastenden Restriktionen, obwohl er sie als eine Behandlung empfand, die eines Vierzehnjährigen unwürdig war.
Gerade am ersten Frühlingstag war ein Ausgehverbot, dessen Dauer von der mütterlichen Nachgiebigkeit und von den Hausaufgaben abhing, die der Arrestant zu erledigen hatte, dem Untertertianer Sternberg als eine Demütigung erschienen, die seine Persönlichkeit auf Dauer schädigen würde. In wechselnder Reihenfolge hatte er sein Schicksal, seinen Vater, den Lateinlehrer samt Schuldirektor und ein Bildungsideal verflucht, das immer noch auf tote Sprachen statt auf Naturwissenschaft und moderne Technik setzte.
Da das gestrenge Familienoberhaupt ja in Paris weilte und sich nach den Vorstellungen seines Erstgeborenen der Sünde hingab, gestattete sich Otto der Kühne mit besonderer Lust die Ausnahme von der tristen Regel. Vergnügt machte er sich klar, dass er weder ein Zauderer noch ein Feigling war, und beherzt nahm er die Chance wahr, Friedrich Schiller, dessen »Bürgschaft« er bis zum nächsten Tag auswendig zu lernen hatte, zu entfliehen. Der Deserteur verließ ohne ein erklärendes Wort das Haus und die Seinigen.
Nur in dem Moment, da ihr die Übertölpelung bewusst wurde, zweifelte Betsy, wohin es ihn gezogen hatte. Als sie in den Spiegel blickte und erfolglos versuchte, sich Ermutigung zuzunicken, raste ihr Herz und pochte ihr Hirn. Hatte sie ein für alle Mal begriffen, dass die Geschichte, die sie gerade erlebte, zu den ältesten der Menschheit gehörte? Aus dem rührenden Knaben, der an Mutters Hand seine ersten Schritte getan und die Wunder des Lebens mit großen Kinderaugen bestaunt hatte, war ein Jüngling geworden, der jeden, der ihm zuhörte, wissen ließ, nichts Menschliches wäre ihm fremd. Der erste Bartflaum war gesprossen, die Stimme gebrochen. Das Heer der Zinnsoldaten schlummerte im Karton und kämpfte nur dann noch um Ruhm und Ehre, wenn dem jungen Herrn Sternberg zugemutet wurde, sich mit seinen Geschwistern abzugeben.
Er trug Schuhe in Größe vierzig, und weil er sowohl in die Höhe als auch in die Breite gewachsen war, brauchte er immerfort neue Hosen. Seinen Matrosenanzug musste nun Erwin auftragen. Clara ließ die Fische aus Zelluloid schwimmen, die einst Otto in die Badewanne begleitet hatten, Victoria suckelte sich mit dem Plüschhäschen in den Schlaf, ohne das ihr ältester Bruder nicht hatte zu Bett gehen wollen. Der wünschte sich eine automatische Repetierpistole und einen Vater, der nicht so verbitternd sarkastisch war und sagte: »Ein jüdisches Kind schießt nicht mit dem Gewehr.«
Der Vierzehnjährige interessierte sich für Rasiergarnituren, Fahrräder mit abfallendem Rahmen und Sportmützen. Er hatte die teure Dampfmaschine seiner Kindertage gegen einen billigen Muskelstärker eingetauscht, was bei der Entdeckung zu einer häuslichen Katastrophe geführt hatte. Seit dem letzten Sommer verehrte er – aus weiter Ferne – Julia von Tannenberg, die fünfzehnjährige Schwester eines Klassenkameraden, der Otto nur deshalb zu seinem Geburtstag geladen hatte, damit der ihm endlich bei Mathematikarbeiten Einblick in sein Heft gewährte. Das Fräulein von Tannenberg ritt wie eine Amazone, betrieb Bogenschießen und sprach, wenn sie es überhaupt tat, hauptsächlich von Tennis. Im Übrigen gönnte sie den Bekanntschaften ihres Bruders keinen Blick aus ihren wasserblauen Augen. Im Falle des Untertertianers Sternberg genügte ihr zur Vermeidung einer Kontaktaufnahme das Wissen, dass dieser mosaischen Glaubens war.
Über Ottos Schreibpult hing ein Bromsilberdruck in einem weiß geriffelten Rahmen. Das Bild zeigte Kaiser Wilhelm II. mit einem seiner Enkel. Sehnte sich der heranreifende Weltmann im Schutze der Nacht nach des Lebens verborgenen Schätzen, öffnete Otto den Rahmen und holte hinter seiner Majestät Rücken französische Postkarten von äußerst dürftig bekleideten Mädchen heraus. Wären sie entdeckt worden, hätte die Hüterin des Hauses ihrem Sohn den Umgang mit weiblichen Personen vorgeworfen, die in ihrem Sprachgebrauch grundsätzlich als Luder bezeichnet wurden. Ihr Mann sprach da schon eher von »appetitlichen Frauenzimmerchen« – allerdings nur in Gesellschaft Gleichgesinnter. Darüber hinaus hatte Johann Isidor nicht die Zeit, um herauszufinden, was seinen Jungen wirklich interessierte. Das viel beschäftigte Familienoberhaupt wollte am 12. Juli seinen fünfzigsten Geburtstag angemessen feiern und tat sich unerwartet schwer bei der Auswahl der Gäste. Von Ottos nächtlicher Lektüre bekam er lediglich mit, dass dessen Zimmer häufig noch lange nach Mitternacht beleuchtet war.
Ausschließlich zur Tarnung lagen »Der Schatz im Silbersee« und der gerade erschienene vierte Band von »Winnetou« auf Ottos Nachtschränkchen. Unter der Matratze hatte der Schüler Otto S. Schätze ganz anderer Art deponiert. Eingeschlagen in die »Frankfurter Zeitung« schlummerte ein Handbuch der Frauenheilkunde. Heini Ochsenknecht, ein Klassenkamerad mit hoch entwickeltem Sinn für das Praktische, hatte es aus der väterlichen Bibliothek gestohlen und überließ es Otto gegen eine Leihgebühr von wöchentlich zwanzig Groschen und einem täglichen Tausch der Pausenbrote. Otto bezweifelte nur allzu bald, dass er ein gutes Geschäft gemacht hatte. Er vermisste seine Leberwurstbrote, vermochte die meisten Zeichnungen in dem wissenschaftlichen Nachschlagewerk nicht zu deuten und konnte die medizinischen Fachausdrücke nicht aus dem Lateinischen übersetzen. Als ebenso enttäuschend erwies sich das zweite von Heini Ochsenknecht geliehene Buch: eine ausführliche Darstellung der Prostitution in der Antike, illustriert mit Bildern aus Pompeji und versehen mit Textproben aus Ovid, die zwar den Schülern des humanistischen Frankfurter Kaiser-Friedrichs-Gymnasiums vorenthalten wurden, die für Otto aber viel zu verschlüsselt waren, um ihm zu dem Wissen zu verhelfen, nach dem es ihn verlangte. Die seltsam stockenden Andeutungen seines Vaters über Geschlechtskrankheiten und ein Referat über die gesetzliche Verpflichtung junger Männer, für außerehelich gezeugte Kinder Unterhalt zu zahlen, halfen Otto nur bedingt weiter.
Vor einem Jahr hatte er Bar-Mizwa gehabt, und somit war er nach jüdischer Lehre ein Mann. An seiner Absicht, dass er vorhatte, gerade in dieser Beziehung den Glauben der Urväter sehr ernst zu nehmen, ließ er nicht zweifeln. Gelegentlich träumte das Kind von einst zwar noch von Schlachten, Kriegen und deutschen Siegen, doch wichtiger als die Vergangenheit war dem Jüngling nun eine Zukunft, in der schöne Frauen und kernige Männerfreundschaften, die alle Fährnisse des Lebens überdauerten, die Hauptrolle spielten.
Zu Ottos Empörung wurde er auch nach seiner Einsegnung von seinen Eltern als Kind behandelt. »Mich wundert’s, dass mein Vater mir nicht noch das Denken verbietet«, beschwerte er sich bei seinem Freund. Trotzdem gelang es ihm, sich mit Geduld und Methodik einiger Fesseln zu entledigen. Zunächst gebot Otto seinen Wünschen und Träumen Mäßigung; er beschloss, die große Welt, in die es ihn zog, zu einem späteren Zeitpunkt zu erobern, seine Heimatstadt indes umgehend zu entdecken. Die Eltern, beide nicht in der Großstadt aufgewachsen, zögerten noch mehr als andere, die Zügel zu lockern. Sie waren misstrauisch und ängstlich und gaben selbst in Kleinigkeiten nicht ohne Kampf nach. Ein Vierzehnjähriger hatte in ihren Augen Gott und das Vaterland zu ehren, den Eltern zu gehorchen und seinem Glauben keine Schande zu machen. Dass Otto dann doch so viel früher als gleichaltrige Jungen seiner Gesellschaftsschicht den Weg ins Leben fand, verdankte er dem einzigen Freund, den er im Leben finden sollte.
Theodorich Rudolf Berghammer, grundsätzlich nur Theo genannt, hieß der Retter. Er war ein ungewöhnlicher junger Mann, der mit dem Selbstbewusstsein eines hellenischen Helden die Bühne betrat und ein unsichtbares Flammenschwert in der Hand hielt. Ein Blick reichte dem Ritter, um zu wissen, woran es Otto Sternberg fehlte, und flugs öffnete er das Schloss eines goldenen Käfigs, der aus sämtlichen bürgerlichen Idealen der Zeit bestand. Theo war erst sechzehn Jahre alt, doch vom Schicksal früh zum Mann geschmiedet. Er war höflich, ohne dass er untertänig wirkte, verbindlich wie ein Diplomat, selbstlos, witzig und keck. Familiensinn und Furchtlosigkeit und die Fähigkeit zum schnellen Entschluss bestimmten seinen Weg. Nie war er um eine Antwort verlegen, aber er drängte sich auch nicht ohne Grund zu Wort.
Dass dieser sympathische Junge seinen Hauswirt in einen Konflikt brachte, aus dem der keinen Ausweg fand, war absolut nicht ihm anzulasten, sondern dem Hauswirt selbst. Johann Isidor Sternberg, gewöhnlich ein Feind der Vorurteile, stets darauf aus, klug und maßvoll zu handeln, hatte absolut nichts gegen Theo, doch er mochte ihn nicht als Freund für seinen Sohn. Nie kam er länger als eine Viertelstunde gegen seine Befürchtung an, der früh selbstständige Theo verspreche sich von einer Freundschaft mit dem jüngeren und noch sehr naiven Otto entweder finanzielle Vorteile oder einen gesellschaftlichen Aufstieg.
»Volle Schüssel findet viele Freunde«, zitierte der Vater, als sein Ältester zum ersten Mal nicht pünktlich zum Nachtessen erschien.
»Wir haben uns doch immer Sorgen gemacht, dass Otto keinen richtigen Freund hat«, sagte Betsy später. »Und außerdem«, merkte sie mit einem Lächeln an, das ihr Mann durchaus richtig deutete, »ist es zurzeit Theo, der über eine volle Schüssel verfügt. Er hat nämlich ein Fahrrad, und falls du es noch nicht mitbekommen hast, ist ein Rad bei der Jugend von heute das Salz der Erde.«
»Muss ich das wissen? Jedenfalls sieht es unserem Herrn Sohn ähnlich, sich nicht einen Freund aus dem eigenen Milieu zu suchen.«
»Warst du denn als Junge nur mit den Söhnen von Viehhändlern befreundet?«
Theos Vater, ein Gymnasiallehrer, der im Treppenhaus seinen Hauswirt mit einem Anflug von Verlegenheit zu grüßen pflegte, wohnte seit Juni 1906 im dritten Stock. Ein halbes Jahr nach dem Einzug der fünfköpfigen Familie Berghammer in die Rothschildallee 9 war eine Tragödie geschehen. Im »Frankfurter Generalanzeiger« war das entsetzliche Unglück gar mit zwanzig Zeilen registriert worden, und monatelang war es Gespräch im Viertel. Die junge Frau Berghammer, eine blonde Schönheit, immer fröhlich und zu jedermann hilfsbereit, war unter das rechte Vorderrad des einzigen Autos geraten, das an diesem Tag auf der Nibelungenallee gefahren war. Ohne das Bewusstsein noch einmal zu erlangen, war die Zweiunddreißigjährige im Bürgerspital gestorben, nur einen Steinwurf weit vom Ort des furchtbaren Unfalls entfernt. Zurück blieb ein verzweifelter Witwer mit drei Kindern. Theo, das älteste, war damals zwölf. Das jüngste Kind, knapp sechs Monate alt, war am Zahnen, hatte Fieber und Koliken und konnte keine Nahrung bei sich behalten, doch ausgerechnet die Fieberschübe der kleinen Elise trugen zur Entschlussfreudigkeit ihres verwitweten Vaters bei; er galt als eher zögerlich. Doktor Berghammer engagierte Minchen Bockmann, ein besonders williges und sehr junges Dienstmädchen. Sie war ebenso schön wie seine verunglückte Gattin, schnürte selbst bei der Arbeit ihren Busen und trug sonntags zwei Spitzenunterröcke übereinander. Bald erzählten die Frauen auf der ganzen Allee, das schöne Minchen würde schier alles für die Kinder tun. Josepha wusste noch mehr.
»Und für den Hausherrn«, pflegte sie hinzuzufügen, wenn die Rede auf Minchens Arbeitseifer kam. Mochte Josephas Zunge auch ein wenig spitz geworden sein, sie hatte recht. Nach Ablauf des Trauerjahrs heiratete der Witwer Berghammer das Fräulein Bockmann, das so effizient dafür gesorgt hatte, dass er nachts wieder gut schlafen konnte. Sie liebte seine Kinder, als wären es die eigenen, und engagierte als Dienstmädchen eine grobschlächtige Person mit schütterem Haar und großen Füßen, die selbst an Sonntagen nicht auf die Idee kam, ihre Brust zu schnüren.
»Die Neue kann sogar die Taschentücher ihrer Vorgängerin benutzen. Das Monogramm stimmt ja noch«, sagte Josepha zu Maria, die der zweiten Frau Berghammer absolut das ihr zuteilgewordene Glück neidete. Maria war nun Ende zwanzig und hatte keine Hoffnung mehr, dass ihr Wachtmeister sich erklären würde, obwohl er sie an ihren freien Sonntagen immer noch abholte.
Als Frau Betsy, die noch so gern Schiller las wie in ihrer Jungmädchenzeit, die Vermählungsanzeige der Berghammers in ihrem Hausbriefkasten fand, erinnerte sie sich spontan an Don Carlos und an seine Liebe zu seiner jungen Stiefmutter. Madame Sternbergs erotische Phantasie war da allerdings der Zeit um Längen voraus. Theo kam erst als Sechzehnjähriger auf die Idee, dass er Minchen mit der hochgeschnürten Brust genauso verehrte wie sein Vater.
Auch ehe sich Otto und Theo anfreundeten, scheute Johann Isidor den Kontakt zu seinem Mieter im dritten Stock. Als das Unglück geschah, hatte ihn nämlich die Vorstellung geniert, ein Akademiker könnte es für aufdringlich halten, wenn er Beileid bekundete. Im Laufe der Jahre stellte sich dann auch noch heraus, dass Doktor Berghammer, obwohl er doch Lehrer war, sehr andere – geradezu sozialistische – Erziehungsideale hatte als sein kaisertreuer Hauswirt und dessen ebenso konservative Gattin. Von Otto berichtete Details, die über Theos Gedanken und die vom Vater gewährten Freiheiten Aufschluss gaben, beunruhigten immer wieder in einer Familie, in der das väterliche Machtwort als göttliches Gebot galt.
Weiteres sprach dafür, dass es bei den Berghammers auch sonst befremdend bohemien zuging. Die Sprache der kleinen Elise, die wild wie ein Junge war, weil sie in allem ihren Brüdern nacheiferte, wurde sogar noch im Günthersburgpark diskutiert. Der Hausklatsch wusste zu berichten, Elise hätte zur Zugehfrau »Halt’s Maul« gesagt, und sie würde grundsätzlich den Milchmann in der Höhenstraße und den Scherenschleifer aus dem Hintertaunus duzen. Auch ehrten die Berghammers die Hausordnung nicht so wie andere Mieter. Vor ihrer Wohnungstür stand häufig Gerümpel, selten waren Treppe und Keller befriedigend geputzt. In den Staub des Flurfensters im dritten Stock hatte Josepha einmal das Wort »Sau« geschrieben, was sie allerdings bei Gegenüberstellung mit der empörten Frau Minchen vehement abstritt. Der stockfleckige Zustand von deren großer Wäsche, am ersten Mittwoch des Monats auf dem Trockenboden zu besichtigten, fiel selbst Frau Betsy auf. Obwohl sie es gemeinhin vermied, sich mit dem Privatleben ihrer Mieter zu beschäftigen, soll sie laut Josepha »die Berghammersche« zweimal eine Schlampe genannt haben.
Am verwirrendsten für die Sternbergs war Theos Entwicklung. Noch vor Erlangen seiner mittleren Reife ging der Sohn eines promovierten Akademikers von der Schule ab. In der Woche darauf begann er ein Volontariat bei einem Porträtfotografen in der Stadt. »Gestrauchelt«, kommentierte Betsy, als sie ihrem Mann Bericht erstattete. Bewusst unterließ sie es, auf das stadtbekannte Renommee von Theos Arbeitgeber hinzuweisen. Der Gestrauchelte erfuhr aus Ottos Mund vom harten Urteil der Hauswirtin, doch im Treppenhaus grüßte er sie so unbefangen wie zuvor. Er hatte den Schneid, jeden Morgen das Haus erhobenen Hauptes zu verlassen – in legerer Kleidung und laut pfeifend. Um den Hals trug er meistens ein rotes Tuch, und Josepha wollte ihn einmal gar in roten Strümpfen gesichtet haben. Sternbergs waren rat- und sprachlos. Sie gehörten ja noch nicht lange genug zur gehobenen Gesellschaft, um andere Lebensziele als die eigenen zu akzeptieren.
»Ein Junge aus gutem Haus hat das Abitur zu machen, zu studieren und zu promovieren. Selbst wenn sein Herr Vater sein Dienstmädchen geheiratet hat und wahrscheinlich die Sozis wählt«, pflegte Johann Isidor auf Ottos unziemlichen Einwand zu reagieren, der Kaiser hätte auch nicht promoviert. Vater Sternberg ahnte, von wem das Argument stammte. Seine Ängste, Otto könne seinem Idol nacheifern und gleichfalls vorzeitig von der Schule abgehen wollen, vermochte Johann Isidor allein Gott anzuvertrauen.
Lediglich als Geschäftsmann war er gewohnt, beide Seiten einer Medaille zu prüfen. Als Vater befahl er dem Sohn, den Verkehr mit Theo auf das Minimum zu beschränken, das »die Höflichkeit erfordert«. In der Unterredung, von der er hoffte, sie würde Otto endgültig davon überzeugen, dass es im Leben einzig auf den Umgang mit Ebenbürtigen ankomme, berief sich der Sohn des Viehhändlers Sternberg abwechselnd auf seine selige Großmutter, auf Bismarck, König Salomo und die eigene Lebenserfahrung. Wie es überhaupt zu der Freundschaft mit Theo gekommen war, fragte er nicht. Auch seine Frau begehrte keine Auskunft. So erfuhren weder Vater noch Mutter, dass ihr Sohn den einzigen Freund, den ihm das Leben bescheren sollte, einer jener demütigenden Situationen verdankte, die in Deutschland Generationen von jüdischen Kindern das Fürchten gelehrt haben. Auch der kleine Johann Isidor Sternberg aus Schotten und die niedliche Betsy Strauß aus Pforzheim waren nicht verschont geblieben.
Auf dem Nachhauseweg von der Schule war Otto in der Habsburger Allee von einer Clique Volksschüler angegriffen worden, die im ganzen Stadtteil gefürchtet wurde. Die rauflustigen Halbwüchsigen setzten alles daran, die Schüler des Kaiser-Friedrichs-Gymnasiums auf dem Heimweg zu erwischen und sie als »eingebildete Pinkel« zu verhöhnen; sie boxten ihren Opfern blutende Nasen, kaperten ihre Mützen und Taschen und bewarfen sie mit Pferdeäpfeln. An Otto hatten sie ein nachhaltiges Exempel statuieren wollen.
In dem kritischen Moment aber, da der Anführer der Bande den zappelnden Otto von hinten umklammerte, ihm die Schultasche aus der Hand und die Mütze vom Kopf riss und beide über einen zwei Meter hohen Zaun warf, tauchte Theo auf. Sämtliche Teilnehmer der Schlacht, die Rossäpfel wurfbereit, skandierten gerade aus vollem Hals: »Saujud! Saujud!« Der wohlbehütete Otto hörte das Schmähwort zum ersten Mal.
Theo reagierte spontan. Es war sein Sinn für Fairness, sein Mitgefühl mit den Schwachen, seine Anständigkeit, die ihn in den Kampf trieben, nicht Bubenlust, sich raufend zu bewähren. An Theos kleinen Bruder wagte sich keiner, der ihm sein Knabendreirad mit Pferdchen neidete. Der Puppenwagen der Schwester war allein schon durch den Ruhm des großen Bruders geschützt. So mancher roh attackierte Junge zwischen Rothschildallee, der Berger Straße und dem Prüfling verdankte Theo einen Überraschungssieg gegen einen übermächtigen Gegner, so mancher Grobian dem hilfsbereiten Goliath ein blaues Auge.
Für den schmächtigen Otto, der die Mieter seines Vaters so verlegen grüßte, als leide er an der Menschheit ganzem Jammer, hatte Theo oft Mitleid empfunden. Ab dem Zeitpunkt indes, da er ihn aus einer Notlage errettet hatte, fühlte sich der Ältere für den Jüngeren verantwortlich. Ottos Hilflosigkeit, als er von der Masse geschmäht worden war, und dass er noch nicht einmal versucht hatte, sich zu wehren, gingen Theo nie mehr aus dem Sinn. Sooft es ihm möglich war, gab er Otto Geleitschutz auf dem Schulweg.
Erst da lernten sich die Jungen wirklich kennen. Theo gefielen Ottos nachdenkliche Art und ein schlagfertiger Witz, den er nicht vermutet hatte. Ihn, der sich ausschließlich für die technische Entwicklung der Neuzeit interessierte, beeindruckte es, dass Otto täglich Zeitungen las und von den Ereignissen in der Welt berichtete, als würde er Abenteuergeschichten erzählen. Bald wurde es Brauch, dass Theo den Freund sonntags nach dem Mittagessen abholte, wobei er so höflich und geschickt um das Einverständnis von Ottos Eltern buhlte, dass es Sternbergs unangenehm war, bei ihren Vorbehalten zu verharren. Anfangs gingen die Jungen im Ostpark spazieren und sahen den kleinen Buben zu, die im Weiher ihre Schiffe vom Stapel ließen, später flanierten sie den Röderbergweg entlang, versuchten, mit kichernden Backfischen zu schäkern, die hinter ihren Eltern herliefen, und sahen sehnsüchtig den jungen Frauen im Sonntagsstaat nach.
»Wie lernt man überhaupt so ein Mädchen kennen?«, fragte Otto.
»Ich glaube, man wartet ab, bis sie stolpert und einem vor die Füße fällt«, malte sich Theo aus.
»Das verwechselst du mit dem Apfel, der Newton auf den Kopf gefallen ist.«
Als die beiden Freunde sich besser kannten, vertrauten sie einander die Träume an, die sie nachts verstörten. In solchen Momenten vergaßen sie ihr Bemühen, sich so zu geben, als wäre ihnen nichts Männliches mehr fremd, und sie wunderten sich sehr, dass in der deutschen Sprache überhaupt Worte existierten, um Gefühle zu beschreiben, die den Körper in Brand setzten, als wäre er aus Pappe.
Durch Theos Berufstätigkeit wurde auch Otto vor der Zeit erwachsen. Es drängte ihn nach Unabhängigkeit, nach dem Leben in der Stadt, nach neuen Eindrücken und Erlebnissen jenseits des Vertrauten. Von Woche zu Woche erfand er glaubhaftere Ausreden, um dem Kokon seines Elternhauses zu entschlüpfen. Theos neue Bekannte begeisterten ihn. Sobald sie ausgelernt hatten, war es das selbst verdiente Geld, mit dem sie ihre Zigaretten und ihr Bier bezahlten und ihren Herzdamen eine Limonade spendierten. Sie waren Kellner in stadtbekannten Cafés, Angestellte in Hotels, Verkäufer in feinen Geschäften oder Volontäre in vornehmen Handelskontors. Otto erschienen sie reich und sehr klug. Auf alle Fälle waren sie reifer, spontaner, natürlicher, umgänglicher und herzlicher als seine Mitschüler. Je besser er sie kennenlernte, umso mehr beneidete er die Berufstätigen. Sie durften sich nach eigenem Geschmack kleiden, kein Lehrer schikanierte sie mit Schillers Balladen und den Essays römischer Geschichtsschreiber, ihre Mütter zwangen sie nicht ans Klavier. Sie fuhren nicht mit ihren Eltern in die Sommerfrische und dinierten unter keinem Lüster aus böhmischem Kristall, doch die Bücher, die sie lesen wollten, mussten sie nicht unter der Matratze verstecken. Diesen Freien predigte keiner mehr, sie würden nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen. Wann immer sie wollten, redeten sie von Frauen und der Liebe, und der Satz des Pythagoras war ihnen so gleichgültig wie Otto das mütterliche Gebot, er müsse jeden Morgen ein Glas Milch trinken.
Karl Kalubka, der Kellner vom Baseler Hof, und Willi Bleirich begeisterten Otto. Der wilde Willi balancierte im Sommergarten vom Café Hauptwache so hohe Tassentürme, dass die Damen in Federboa und Blumenhut jedes Mal applaudierten, wenn er ihnen die Schokoladentorte mit Sahnehaube brachte. Im Winter betreute er die Herrenwelt in der Billardstube, wobei er Zigarren geschenkt bekam, die sich Ottos Vater noch nicht einmal an Feiertagen gönnte. Schon der Vater vom wilden Willi war Kellner gewesen. Und was für einer! Er hatte in Bad Gastein sowohl Bismarck als auch Kaiser Wilhelm I. böhmischen Karpfen serviert, und damit man wusste, mit wem man es zu tun hatte, nannte er Blumenkohl immer noch Karfiol.
Theo und Otto verbrachten einen ganzen Sonntagnachmittag mit dem alten Bleirich. Er spendierte den Jungen im Café Hauptwache das teuerste Glace auf der Karte: Mokka mit in Rum getränkten Pistazien. Wann fand ein ehemaliger Saalkellner, dem nur seine Erinnerungen und ein kurzatmiger Dackel geblieben waren, noch Zuhörer, die ihm mit offenem Mund und starren Augen lauschten? Der Sohn hatte das Erzähltalent des Vaters geerbt. Bleirich junior wusste mehr von der gehobenen Frankfurter Gesellschaft, als der erfolgreiche Handelsmann Johann Isidor Sternberg je erfahren würde. Besonders das Schlüpfrige und Sündige beherrschte der Willi meisterhaft. Selbst Theos Ohren glühten.
Der Stern aber, der am Firmament von Ottos neuem Leben jeden anderen überstrahlte, hieß Paul Friedrich Hagen, ein Beau mit einem Schnurrbart, der wie Kaviar glänzte. Die Hand so zu küssen, dass die Damen feuchte Augen bekamen, hatte er von einem Wiener Baron gelernt, die Schlager »Schlösser, die im Monde liegen« und »Schenk mir doch ein kleines bisschen Liebe« von dem Operettenmeister Paul Lincke persönlich. Paul Hagen hatte ein goldenes Herz und eine Mutter, die ihm jede Braut ausredete, was er widerstandslos geschehen ließ. Trotzdem war er kein Hagestolz, sondern ein sehr fideler Fünfziger. Zudem war er der Vetter von Theos Vater. Theo war sein Patensohn, und in den war er so vernarrt wie andere Männer seines Alters in die blonde Soubrette auf der Bühne. Vor allem war der fesche Paul Hauptbuchhalter am Frankfurter Schumanntheater und somit König der Freikarten. Schon als Vierzehnjähriger war Theo regelmäßiger Besucher in dem prächtigen Theater mit den herrlichen Statuen und der Fassade aus weißem Sandstein gewesen.
Theo liebte den Zirkus und schwärmte für das Varieté, doch wenn das Schumann seinen Operettenmonat hatte, fehlte er bei keiner Vorstellung. Er träumte davon, ein so berühmter Fotograf zu werden wie sein Lehrmeister, und dann wollte er nur noch im Theater fotografieren. Otto hatte noch nicht einmal eine Ahnung gehabt, dass diese schöne Welt des Scheins überhaupt existierte. Seine Versäumnisse holte er in einer einzigen Nacht nach und dies nur, weil seine Mutter am ersten Frühlingstag vergessen hatte, seinen Käfig zu verriegeln, und weil der gestrenge Herr Papa seinen Geschäften in Paris nachging.
Mit Orpheus, der Thema seines letzten – mit mangelhaft benoteten – Hausaufsatzes gewesen war, machte Otto die Bekanntschaft der Muse Thalia. Dies tat er ausgerechnet mit dem Werk Jacques Offenbachs, eines Mannes, den Vater Sternberg als einen »miesen Kölner« zu beschimpfen pflegte, »der uns allen Schande macht«.
Jahrelang hatte Otto gebangt, es würde zu seinen Lebzeiten keinen Krieg mehr geben, in dem er für das Vaterland sterben durfte. Im Schumanntheater zu Frankfurt am Main, in einer Loge versteckt und mit klopfendem Herzen, opferte der kaisertreue junge Deutsche in einer einzigen Nacht seine patriotischen Ideale. Um seine Moral und Unschuld war es von der Sekunde an geschehen, da er die schöne Eurydike erblickte. Sie hatte Goldspangen im Haar und Goldschmuck um den Hals und trug ein Gewand, das jede Rundung des weiblichen Körpers offenbarte. Otto, der einst die Worte »Dulce et decorum est pro patria mori« in sein Schreibpult geritzt hatte, entdeckte das Weib und begehrte die Sünde. Als Eurydike dem Honighändler folgte, der sich als Fürst der Unterwelt entpuppte, träumte Otto bereits den kühnsten aller Männerträume. Die Beine der Cancantänzerinnen begleiteten ihn in den Schlaf.
Die Mutter fragte Otto nicht, wo er gewesen war. Zu sehr fürchtete sie, eine solche Befragung könnte ihrem Gatten nach seiner Rückkehr Erkenntnisse vermitteln, die sie ihm um des ehelichen Friedens willen vorzuenthalten gedachte. Allerdings täuschte sich Frau Betsy. Johann Isidor hatte sich in Paris nicht ausschließlich seinen Geschäften gewidmet; er hatte einem seit geraumer Zeit schwelenden Bedürfnis nachgegeben, die legendär schönen jungen Pariserinnen näher kennenzulernen. Frau Betsys zweiter Irrtum galt dem Sohn dieses vielseitig interessierten Vaters. Nur weil Otto nicht das Klavierspiel üben mochte, war er absolut nicht, wie seine Mutter voreilig angenommen hatte, musikalisch desinteressiert. Die Melodie von Jacques Offenbachs berühmtem Couplet »Als ich einst Prinz war in Arkadien« und das Höllenspektakel samt Cancan wichen nie mehr aus seinen Erinnerungen.