Kapitel 21
 
Servatius blieb mehrere Tage verschollen. Barnabas sah ihn erst wieder, als die Einwohner von Weierweiler sich erneut in dem Gasthaus zusammenfanden, um das Urteil über Barbara Backes zu hören. Obwohl jeder wusste, wie der Spruch lauten würde, versammelte sich Alt und Jung erwartungsvoll im Schankraum. Aufgeregt sprachen sie durcheinander.
Barnabas ließ den Blick prüfend über die Anwesenden schweifen. Ihm war, als fehlten einige Personen.
Servatius stand derweil neben dem Tisch des Ausschusses und schaute selbstgefällig um sich. Als Barnabas in das zufriedene Gesicht des Mönchs blickte, seine glänzenden Augen und seine blutigen Fingerkuppen sah, von denen er sich die Haut seitlich abgerissen hatte, ahnte der Magier, dass man Barbara Backes die Folterinstrumente nicht nur gezeigt hatte, sondern dass diese auch zur Anwendung gekommen waren. Noch bevor die Frau in den Raum geführt wurde, wusste Barnabas, dass man ihr große Schmerzen zugefügt hatte, an denen sich Servatius sichtlich ergötzt hatte.
Angewidert wandte der Magier den Blick ab, als sich die Seitentür öffnete und Barbara Backes hereingeführt wurde. Der Magier schloss die Augen, denn das, was er sah, überstieg seine schlimmsten Befürchtungen. Barbara Backes war kahl rasiert und sichtbar verwirrt. Im ganzen Gesicht und überall an Armen und Beinen hatte sie verkrustete Wunden, Schwellungen und blutunterlaufene Stellen. Sie wimmerte vor Schmerz und hatte nichts mehr gemein mit der Frau, die noch vor wenigen Tagen im gleichen Raum gestanden und ihre Unschuld beteuert hatte.
Barnabas war zwar überzeugt, dass Foltern für die Wahrheitsfindung unumgänglich war. Doch diese harte Anwendung der Tortur, der man Barbara Backes offensichtlich unterzogen hatte, war ihm zuwider.
Als man die Frau, die auf ihren verstümmelten Füßen kaum stehen konnte, rücksichtslos vor das Pult des Ausschusses stieß, ging ein Raunen durch die Menge. Manch einer wandte sich entsetzt ab.
Mit verächtlichem Blick sah der Magier nun die vier Männer an, die die Verantwortung für den Zustand der vermeintlichen Hexe trugen. Doch sein ganzer Zorn galt Servatius, in dessen Blick Freude und Genugtuung zu erkennen waren.
 
Ungerührt und mit teilnahmsloser Stimme verkündete der Ausschussvorsitzende, der Mann mit den Krötenaugen, dass Barbara Backes nach eingehender Befragung geständig gewesen sei. Sie habe nach der peinlichen Befragung nicht nur zugegeben, Schadenszauber über das Dorf gelegt zu haben, sondern auch gestanden, dass ihre Stieftochter Maria die Wahrheit sage und sie das Kind zum Hexensabbat mitgenommen habe. Und sie selbst sei, so wie einige andere Frauen aus dem Dorf, vom Teufel verführt worden und habe mit ihm Unzucht getrieben.
»Außerdem«, dröhnte die Stimme des Krötengesichts durch den Saal, »ist es dem Ausschuss gelungen, die Namen dieser anderen Hexen in Erfahrung zu bringen. Die genannten Frauen sind vom Ausschuss in Gewahrsam genommen worden und werden ebenfalls der Zauberei anklagt.«
Nach dieser Verkündung ging ein Raunen durch den Saal, und die Leute schauten sich fragend an. Vereinzelt hörte man geflüsterte Namen von Frauen, die verhaftet worden waren.
 
Barnabas hatte sich nicht getäuscht. Nach seiner Schätzung fehlten sieben Frauen, die vor wenigen Tagen während der Anklageerhebung anwesend gewesen waren.
 
Der Mann mit dem fein geschnittenen Gesicht bat die Versammlung um Ruhe. Als Stille herrschte, nahm er ein Blatt Papier in die Hand und las mit sanfter, aber eindringlicher Stimme vor: »Das Hochgericht hat nach Prüfung unserer Anklageschrift folgendes Urteil bestimmt: Da Barbara Backes geständig war, wird sie zum Tod durch den Strang verurteilt. Anschließend wird ihr Leichnam dem Feuer übergeben, so dass die Hexe endgültig aus der Welt geschafft und ihr Weiterleben als Wiedergängerin verhindert werde.«
 
Barbara Backes schien nichts von alldem zu verstehen. Ihr Verhalten wechselte zwischen heftigem Jammern, lautem Weinen und wahnsinnigem Lachen. Meist blickte sie stumm und verwirrt um sich. Als sie ihre Stieftochter Maria sah, entspannte ein kaum wahrnehmbares Lächeln ihre verkrampften Gesichtszüge. Barbara breitete die Arme aus, und es schien, als wolle sie auf das Kind zueilen, doch die Aufpasser und die Ketten hinderten sie daran. Mit großen Augen und unverständlichem Blick schaute sie um sich.
 
Maria ihrerseits schien die Lage nicht zu verstehen. Das Mädchen stand dicht an Barnabas’ Seite und blickte böse zu seiner Stiefmutter hinüber. Mehrmals murmelte es: »Sie hat mich zum Hexentanz mitgenommen!«
Beruhigend legte ihr Barnabas die Hand auf das Haupt, doch plötzlich schrie sie los: »Sie ist der Teufel! Ihre Augen glühen! Ich will sie nicht mehr sehen, ihre Augen brennen in meinen Kopf!«
Maria versteckte sich hinter Barnabas und lugte seitlich an ihm vorbei. Jedes Mal, wenn sie ihre Stiefmutter erblickte, riss sie an ihren Haaren und schrie: »Sie brennen in meinem Kopf!«
Der Mann mit dem fein geschnittenen Gesicht schaute das Mädchen erschrocken an. Dann sagte er mit ruhiger Stimme: »Maria, du musst keine Angst haben. Deine Stiefmutter wird dir kein Leid mehr zufügen. Bereits heute wird sie hingerichtet werden.«
Das Mädchen trat hinter Barnabas hervor. Tränen rannen ihm über die Wangen. »Was ist mit den anderen Frauen? Die mit den Masken?«
»Wir haben alle gefangen genommen. Auch sie werden ihre gerechte Strafe bekommen.«
»Ich muss nicht mehr zum Hexensabbat?«, flüsterte Maria. Der Mann verneinte.
»Aber es waren so viele, die dort getanzt haben.«
»Sei unbesorgt, mein Kind! Wir haben alle Hexen aus Weierweiler eingesperrt. Keine wird dir je wieder Leid zufügen.«
Maria nickte und zwirbelte ihre langen dunkelbraunen Haare.
056
 
Der Hinrichtungsplatz von Weierweiler befand sich ein Stück außerhalb des Ortes. Da Barbara Backes durch die Folter nicht fähig war zu gehen, wurde sie auf einem Fuhrwerk dorthin gefahren. Ihre Hände waren an einem Querbalken über ihrem Kopf festgebunden, damit sie nicht vom Karren springen konnte. Immer mehr Gaffer, die sich das Spektakel nicht entgehen lassen wollten, folgten dem Wagen zu Fuß. Da dieser nur langsam vorwärtsrollte, war Barbara dem Spott und Zorn der Leute ausgeliefert, die sie beschimpften, bespuckten und verhöhnten. Mit vor Angst geweiteten Augen blickte sie um sich. Noch immer schien sie den Ernst der Lage nicht zu begreifen. Als sie ein Stein an der Schläfe traf, heulte sie laut auf und rief nach ihrem Mann, ihrer Mutter und sogar nach Maria.
 
Barnabas und das Mädchen schritten nebeneinander hinter dem Fuhrwerk her. Als Maria ihren Namen hörte, ließ sie Barnabas’ Hand los und zwängte sich durch die Menschen, die vor ihnen gingen, nach vorn zum Karren durch. Barnabas folgte ihr hastig, denn er fürchtete Schlimmes.
Als Maria sah, wie das Blut von der Schläfe ihrer Stiefmutter tropfte, klatschte sie in die Hände und hüpfte hin und her. Dann suchte auch sie nach einem Stein, und als sie einen gefunden hatte, warf sie ihn nach Barbara. Doch Maria traf nicht, was sie zornig machte und sie die Hände ballen ließ. Erneut bückte sie sich nach einem Stein, schloss wie ein Jäger ein Auge und versuchte genau auf Barbaras Stirn zu zielen. Bevor sie jedoch werfen konnte, hielt Barnabas ihre Hand fest. Wutentbrannt schlug Maria um sich, und als das nichts half, biss sie den Magier in die Hand. Doch Barnabas ließ nicht los. Selbst als er spürte, wie die Zähne des Mädchens sich immer fester in seine Haut bohrten, hielt er es fest. Tobsüchtig trat sie ihm gegen das Schienbein und boxte mit ihrer freien Faust an jede Stelle seines Körpers, die sie treffen konnte. Barnabas fühlte, wie der Biss tiefer in sein Fleisch drang, und kniff vor Schmerzen die Augen zusammen, doch er ließ nicht locker.
Die Menschen, die an den beiden vorbeigingen, schüttelten den Kopf. Barnabas glaubte, das Wort Hexenkind zu hören. Aber sie ist kein Hexenkind, sondern eine Kinderhexe, dachte er mit schmerzverzerrtem Gesicht.
Endlich gab Maria auf. Ungläubig blickte sie zu dem Mann empor, der stärker und unnachgiebiger war als sie selbst.
Barnabas sah ihr in die Augen und sagte weder ein Wort des Vorwurfs noch der Schelte. Stumm nahm er ein Tuch aus seinem Beutel und verband sich damit die tiefe Wunde. Dann ergriff er erneut Marias Hand und folgte den anderen zum Richtplatz. Gefügig marschierte das Mädchen nun neben ihm her.
Als sie den Henkersplatz erreichten, stieß man Barbara Backes gerade vom Fuhrwerk.
Barnabas stellte erstaunt fest, dass man hier keinen Scheiterhaufen aufgetürmt, sondern eine Hütte aus Binsen gebaut hatte. Er erinnerte sich, dass der Henker in Euren erwähnt hatte, dass dort ebenfalls Binsenhütten gebrannt hätten.
Der Magier trat näher heran, um sich die Hütte genauer zu besehen. Dabei ließ er Marias Hand nicht los und zog das widerspenstige Kind hinter sich her. Er blickte in die Hütte hinein und sah einen Pfahl, der in der Mitte eingegraben war. Trockene und dünne Äste, die dicht an dicht und mannshoch aufgestellt waren, bildeten die Wände.
Als der Henker, dessen Kopf mit einer schwarzen Kapuze verhüllt war, mit Barbara Backes auf sie zutrat, wichen der Magier und Maria zurück. Ungewollt stand Barnabas plötzlich neben den Männern des Ausschusses und auch neben Servatius, der gebannt auf das weitere Geschehen wartete.
Ungerührt führte der Henker die weinende und schreiende Frau in die Hütte, wo er ihr die Hände hinter dem Rücken an dem Pfahl festband. Barbara flehte, man solle sie losbinden, doch stattdessen legte der Henker ihr eine Schlinge um den Hals und zog zu. Als sie röchelte und zuckte, zog der Henker fester. Erst als ihr Körper schlaff am Pfahl hing, löste er das Seil. Der Scharfrichter trat vor die Hütte und zündete die trockenen Äste mit einer Fackel an. Knisternd fraß sich das Feuer durch die Binsen.
 
»Auf dass die Hexe niemals wieder Angst und Schrecken über die Menschen bringt!«, sagte der Mann mit den Glupschaugen zu Barnabas. Widerwillig wandte der Magier sich ihm zu.
»Ich habe gehört, dass Ihr ein Zauberer seid?«
Barnabas nickte.
»Euer Freund weiß, wie man die Wahrheit aus den Hexen herauspresst«, feixte der fette Mann schnaufend, während er sich mit der Hand den Schweiß von der Stirn wischte.
»Ja, darin ist er besonders gut«, antwortete Barnabas scheinbar ungerührt. »Servatius kann gerne bei Euch bleiben und weiterhin behilflich sein.«
Vielleicht werde ich ihn so endlich los, dachte der Magier hoffnungsfroh, doch der Mann winkte ab.
»Die anderen Frauen werden morgen gestehen und ebenfalls hingerichtet werden. Und damit ist die Sache aus der Welt. Nur sie«, er blickte nachdenklich zu Maria, »könnte uns noch Scherereien machen.«
»Wie ich erfahren habe, ist das Mädchen ein Waisenkind. Jemand aus dem Dorf müsste es bei sich aufnehmen und versorgen. Vielleicht hat der Ausschuss die Güte …«, fragte der Magier mit Unschuldsmiene.
Barnabas wusste, dass er das Mädchen nicht einfach auf seine Reise mitnehmen konnte. Er war sich außerdem sicher, dass sich niemand im Dorf des Mädchens annehmen würde. Die vier Mitglieder des Ausschusses schienen diese Annahme zu bestätigen. Der Gedanke, das Kind zu sich zu nehmen, bereitete ihnen sichtbar Unbehagen. Der Mann mit den eng zusammenstehenden Augen hatte als Erster die Sprache wiedergefunden und zischte: »Das Kind war auf dem Hexensabbat. Zwar unfreiwillig, da von der Mutter dazu verführt, und somit nicht schuldig. Aber die Dämonen könnten sich dem Kind nähern. Der Teufel könnte ihr einen Pakt anbieten und sie zur Hexe machen.«
Der dicke Mann schnaufte: »Bis jetzt hat sie sich ihre kindliche Unschuld noch bewahrt, und Kinder sagen grundsätzlich die Wahrheit. Doch was wird in einem Jahr sein?«
Alle vier schienen große Angst zu haben, dass das Kind ebenfalls zur Hexe werden könnte.
Barnabas tat, als denke er nach. Immer wieder schweifte sein Blick zu Maria, die am Boden saß und mit ihren Fingern Ameisen zerquetschte. Schließlich erklärte er: »Wie Ihr richtig bemerkt habt, bin ich ein Magier, der Hexen erkennen und Schadenszauber aufheben kann. Deshalb würden die Dämonen ihr in meiner Nähe nicht nachstellen.«
Die Männer sahen ihn erstaunt an. Dann steckten sie die Köpfe zusammen, und obwohl sie flüsterten, ahnte Barnabas ihre Entscheidung.
Sie werden mir das Kind anvertrauen wollen, um ungestört das Vermögen der Barbara Backes für die Prozesskosten einziehen zu können, überlegte er.
Der mit dem fein geschnittenen Gesicht und der sanften Stimme wandte sich ihm als Erster zu und sagte: »Wir hatten überlegt, Maria in die Obhut eines Klosters zu übergeben. Allerdings deckt das Geld der Hexe kaum die Prozesskosten, geschweige denn die Ausgaben eines Klosters. Aber wenn Ihr das Kind zu Euch nehmen würdet, soll es Euer Schaden nicht sein.«
Barnabas stellte sich dumm. »Wie meint Ihr das?«
»Wir würden Euch reichlich entlohnen, wenn Ihr das Kind mitnehmen würdet. Denn wie Ihr selbst sagt, würden in Eurer Gesellschaft die Dämonen sich dem Kind nicht nähern können.«
Barnabas lächelte in sich hinein und blickte zu der brennenden Binsenhütte hinüber, die schwarz qualmte.
Die Menschen sind so leicht zu beeinflussen. Sag ihnen, was sie hören wollen, und sie geben dir das, was du willst!, dachte er bei sich. Dann sagte er laut: »Wenn ich Euch damit helfen kann, soll mich das Mädchen gerne auf meiner weiteren Reise begleiten.«