Kapitel 9
 
Barnabas und Servatius standen am Ufer des Mains und beobachteten, wie in Höhe des Weinmarkts mehrere kleine Boote entladen wurden. Neugierig schaute Barnabas den Hafenarbeitern zu, die Fässer auf Planken von den Booten zu den einzelnen Lagerhallen rollten. Die Hände auf dem Rücken verschränkt verfolgte er mit den Augen die kostbare Fracht. Servatius stand gelangweilt neben ihm.
»Da läuft einem das Wasser im Mund zusammen! Hier ein edler Topfen aus Spanien und da einer aus Übersee«, schmatzte der Magier und zeigte auf einzelne Fässer, in deren Holz fremd aussehende Schriften eingebrannt waren.
 
Servatius interessierte sich nicht für den kostbaren Wein. Sein Blick schweifte hinüber zu der Brücke, die über den Main nach Sachsenhausen führte. Schon seit Tagen versuchte er Barnabas zu überzeugen, dass sie sich eine Unterkunft in diesem Viertel suchen sollten, da dort angeblich reiche Leute lebten. In die bescheidene Herberge am Hafen, in der sie ein kleines Zimmer gemietet hatten, verirrten sich nur einfache Arbeiter und Huren, um sich von Barnabas behandeln zu lassen. Viel Geld konnten sie auf diese Weise nicht verdienen.
Servatius war entschlossen, nicht weiter umherzuziehen, sondern in Frankfurt zu bleiben. Seinen ursprünglichen Plan, Burghard zu finden, hatte er in dem Augenblick aufgegeben, als er die vielen Menschen sah, die in einer Stadt lebten. Es erschien ihm hier unmöglich, jemals wieder auf den jungen Franziskaner zu treffen. Hasserfüllt wünschte er sich leise: »Ich hoffe, dass er irgendwo in einer Ecke verrotten wird.«
Servatius war sich sicher, dass er in dieser Stadt eine Zukunft haben würde, zumal er glaubte, hier unentdeckt seine Bedürfnisse ausleben zu können. Bei diesem Gedanken lächelte er und versuchte erneut seinen Begleiter umzustimmen. Doch wie die Tage zuvor antwortete der Magier nicht und tat stattdessen, als würde er seine Worte nicht hören.
 
Barnabas beachtete Servatius nicht weiter und blendete sein Geschwätz aus. Schon seit Tagen bedrängte ihn der Franziskaner, in der Stadt sesshaft zu werden, was für ihn nicht in Frage kam. Mit unnachgiebigem Blick schaute der Magier zu der Brücke, wo ein stetiger Menschenstrom zwischen Frankfurt und Sachsenhausen hin und her pilgerte. So viele Menschen und so viele Kranke, die ich heilen könnte. Aber was nützt es? Hier werde ich keinen Nachfolger für mich finden, dachte Barnabas erschöpft und fuhr sich mit beiden Händen durch das silbrige Haar. Ungewollt drangen Servatius’ Worte zu ihm durch.
»Warum sträubst du dich? Die Stadt lebt! Sie pulsiert! Kannst du ihren Herzschlag nicht spüren?«
Barnabas wandte sich dem Mönch zu und schnaubte: »Ich spüre nur die Rastlosigkeit in dieser Stadt. Die Menschen hetzen ruhelos hin und her. Ihr unerträglicher Gestank verpestet die Luft, die ich einatmen muss. Auch höre ich nur den Lärm der Stadt, keinen gleichmäßigen, ruhigen Herzschlag.«
Eine tiefe Falte war zwischen Servatius’ Augenbrauen zu sehen, als er aufgebracht erwiderte: »Du siehst wieder mal nur das Schlechte, Barnabas! Aber in der Stadt spielt das Leben, und nur in der Stadt können wir Geld verdienen. Was willst du tun, alter Mann? Deine Tage sind gezählt. Begreife doch, dass wir nur hier sesshaft werden können.«
In diesem Augenblick schnellte der sehnige Arm des Magiers nach vorn, und seine langen dürren Finger umklammerten den Hals des Mönchs. Scheinbar mühelos drückten sie Servatius’ Kehle zusammen. Der Franziskaner versuchte sich zu befreien, doch Barnabas war stärker. Erst als sich das Gesicht des Mönchs verfärbte, lockerte der Magier den Griff, ließ ihn los und stieß ihn von sich.
Servatius taumelte und fasste sich röchelnd und hustend an den Hals. Er versuchte Barnabas anzuschreien, doch es kam nur ein heiseres Flüstern aus seiner Kehle.
Die schwarzen Augen des Magiers blickten Servatius boshaft an. »Denkst du törichter Wicht wirklich, dass ich nicht weiß, warum du in der Stadt bleiben willst? Ich kenne deine krankhafte Neigung und habe dich beobachtet! Wage nie wieder, mich zu beleidigen oder anzugreifen. Du kannst gegen mich nicht gewinnen. Ich werde weiterziehen, doch dir steht es frei zu bleiben!« Sprachlos blickte Servatius den Magier an und rieb sich den Hals, an dem sich die Fingerabdrücke dunkel abzeichneten.
Barnabas ließ den Mönch stehen und ging von dannen. Als er einige Schritte entfernt war, rieb er sich über den Arm, in dem der Krampf langsam nachließ. Auch krümmte und streckte er immer wieder die Finger der Hand, die die Kehle des Franziskaners umklammert hatte. Seine Gelenke schmerzten, und Barnabas wusste auch, warum. In den letzten Tagen hatte er es versäumt, seinen Sud zu trinken, den er aus Brennnesselblättern herstellte. Ich muss mehr auf meine Gesundheit achten, dachte er.
Als er hinter sich Schritte hörte, richtete er sich gerade auf und versuchte leichtfüßig zu gehen. Nichts sollte dem Mönch Barnabas’ körperliche Gebrechen verraten.
Servatius wird die nächste Zeit folgsam und keine Gefahr für mich sein!, dachte Barnabas. Doch ich muss dringend jemanden finden, dem ich mein Wissen weitergeben kann. Schon morgen werden wir die Stadt verlassen.
Der Magier war sich sicher, dass Servatius ihn begleiten würde.
022
 
Als Barnabas darüber nachdachte, wohin die weitere Reise gehen sollte, erinnerte er sich daran, dass er vor vielen Jahren über die »Elisabethenstraße« marschiert war, die quer durch das Reich führte.
»Wir könnten von Frankfurt nach Marburg gehen und dort zum Grab der heiligen Elisabeth wallfahren«, schlug er versöhnlich vor.
Servatius hatte sich von dem Schreck tags zuvor noch nicht erholt und wagte es kaum, Barnabas in die Augen zu blicken. »Was interessieren mich die Gebeine der Elisabeth?«, murrte er heiser. »Ich bin nicht Katharina, die dem Leben der Heiligen nacheifert.«
»Katharina!«, flüsterte Barnabas. Seit Wochen hatte er nicht mehr an das Mädchen gedacht. Was wohl aus ihr geworden ist? Ob sie noch mit Burghard unterwegs ist?, fragte er sich in Gedanken. Barnabas hatte das Mädchen mit den dicken blonden Zöpfen gemocht. Nicht nur ihr Liebreiz war erfrischend gewesen, auch ihr starker Wille hatte großen Eindruck auf ihn gemacht. Als sich die Gelegenheit bot, hatte Katharina sich gegen ihre Eltern gestellt und ihr Schicksal selbst entschieden. »Sind wirklich erst wenige Monate vergangen, seit das Mädchen Hand in Hand mit Burghard im Wald auf dem Hülfensberg verschwand?«, sinnierte der Magier. Ungläubig schüttelte er den Kopf und lachte leise in sich hinein. »Welch beherzte junge Frau sie doch ist!«
In den Erinnerungen des Magiers tauchte die farblose Gestalt Ottos auf, des Ehemanns von Katharinas verstorbener Schwester, den sie auf Geheiß der Eltern hatte heiraten sollen. Er hätte ihr sicherlich untersagt, im Sinne der heiligen Elisabeth Gutes zu tun, grübelte Barnabas. Bei dem Gedanken an Katharina nagte das schlechte Gewissen an ihm. Schließlich hatten die Jacobis ihm die Verantwortung für ihre Tochter übertragen. Er sollte sie wohlbehalten von der Wallfahrt auf den Hülfensberg nach Hause zurückbringen, doch stattdessen war das Mädchen verschwunden, ohne dass Barnabas es verhindern konnte. Damals hatte er es als seine Pflicht angesehen, nach der jungen Frau zu suchen, befürchtete er doch, dass die Eltern die Miliz nach ihm schicken würden, sobald sie von dem Verschwinden ihrer Tochter erführen. Je eher er das Mädchen nach Heiligenstadt zurückbrachte, desto weniger Scherereien würde er zu erwarten haben. So hatte sich Barnabas mit Servatius auf die Suche begeben. Ihnen war rasch klar gewesen, dass Katharina und Burghard das Eichsfeld und somit Thüringen in Richtung Hessenland verlassen würden. Da der Fluss Werra als natürliche Grenze zwischen beiden Ländern verlief, konnten sie aber nur mit einem Boot auf die andere Seite kommen – dessen war sich Barnabas sicher. So durchsuchte er mit Servatius jeden einzelnen Ort an der Werra, und stets hoffte der Magier, die Flüchtigen noch rechtzeitig zu finden. Als ihn im Städtchen Wanfried das Gefühl beschlich, beobachtet zu werden, glaubte er, dass Katharina in der Nähe war. Immer wieder hatte er den Blick über die Menschenmengen schweifen lassen, die sich durch das Stadttor drängten, er hatte sie aber nicht entdecken können. Und doch war ihm, als könne er ihre Anwesenheit spüren.
Bis in den Ort Eschwege, der ebenfalls am Fluss lag, waren sie gereist. Als dort Hexenprozesse stattfinden sollten, baten die Stadtväter Barnabas um Hilfe. Da, wie die Leute glaubten, nur ein Magier fähig wäre, den Schadenszauber aufzulösen, den Hexen über Mensch und Tier verhängt hatten, konnte er dem Rat seine Hilfe nicht verwehren und musste einige Tage in Eschwege verweilen. So verlor Barnabas die Spur von Katharina und Burghard, und es blieb ihm nicht anderes übrig, als in einem Brief Katharinas Eltern die Wahrheit mitzuteilen. Ihnen persönlich alles zu erklären, dazu war er nicht imstande gewesen, zumal er befürchten musste, dass sie ihn zur Rechenschaft ziehen würden. Aus dieser Angst heraus hatte er mit Servatius ebenfalls das Eichsfeld verlassen und zog seitdem durch Nassau.
 
Barnabas seufzte. Wir müssen weiter, dachte er und richtete sich von der Bank auf, auf der er eine kurze Rast im Schatten einiger Bäume am Ufer des Mains eingelegt hatte. Doch zuvor wollte er sich noch stärken. »Komm, Servatius!«, lockte er den Mönch. »Ich lade dich zu einer Vesper und einem Schoppen Äppelwein ein.«
 
Zurück in ihrer kleinen Kammer am Hafen, begann der Magier seine Utensilien sorgfältig zu ordnen. Er legte den Boden seines Tragekorbs mit Leinenbeuteln aus, in denen sich verschiedene Kräuter befanden. Tiegel mit Salben und Glasfläschchen mit unterschiedlichen Flüssigkeiten schichtete er darüber. Dazwischen stopfte er Kräutersäckchen, um das Glas vor Bruch zu schützen. Zum Schluss legte Barnabas das Buch, in dem er sein Wissen über die Brauchkunst und das Heilen niedergeschrieben hatte, obenauf. Der dunkle Ledereinband war abgegriffen und speckig, was davon zeugte, dass der Magier das Buch oft in Händen hielt. Als alles verstaut war, schulterte er den Korb und nahm seinen Wanderstab auf.
Auch Servatius hängte sich seinen Korb über die Schulter. In ihm befanden sich die wenigen Habseligkeiten der beiden ungleichen Gefährten sowie ein kleiner Kochtopf, einige Schüsseln und für jeden ein Löffel und ein Messer. Barnabas reichte ihm seinen Beutel mit Wegzehrung und einen Wasserschlauch.
»Komm, Servatius, wir wollen weiterziehen! Wenn du nicht nach Marburg gehen willst, dann werden wir in eine andere Richtung marschieren müssen.«
023
 
Als sie im Westen über den Stadtgraben gingen und das Galgentor durchschritten, fragte Barnabas den Torwächter: »Sag, guter Mann, wenn ich mich nach rechts wende, wohin gelange ich dann?«
»Marburg!«, antwortete der Angesprochene wortkarg.
»Und nach links?«, wollte Barnabas wissen.
»Darmstadt!«
Der Magier zeigte wortlos mit seinem Stock nach vorn und blickte den Mann, der sich gelangweilt auf einen Speer stützte, auffordernd an.
»Wiesbaden!«
Nun bedankte sich Barnabas freundlich mit einem Kopfnicken und gab Servatius Zeichen, ihm zu folgen. Der Torwächter rief ihnen nach: »Geht ihr an der Weggablung nach links, kommt ihr nach Mainz!«
Barnabas hob dankend die Hand.
»Mainz? Kamst du einst nicht aus dem Kloster zu Mainz?«, fragte er Servatius. Der Mönch nickte.
»Möchtest du dorthin zurückkehren?«
Der Mönch blickte finster drein, und Zorn blitzte in seinen Augen auf, als er mit krächzender Stimme den Magier anfuhr: »Der Weg nach Mainz ist mir versperrt! Nie wieder werde ich dorthin zurückkehren können. Und alles nur, weil dieser unsägliche Burghard verschwunden ist.«
»Sag deinen Ordensbrüdern einfach, dass Burghard allein unterwegs ist. Wer will dir das Gegenteil beweisen?«
»Bruder Kuno wird im selben Augenblick wissen, dass es eine Lüge ist, kaum dass ich sie ausgesprochen habe.«
Fragend zog Barnabas eine Augenbraue in die Höhe.
»Burghard war der Lieblingsschüler Bruder Kunos, so wie eigentlich aller Brüder im Kloster«, giftete Servatius. »Weil er seine Eltern besuchen wollte, musste ich das Kloster verlassen und mit ihm gehen. Bruder Kuno, Bruder Paschalis und Bruder Ruppert haben ihn mir anvertraut. Niemals würden sie glauben, dass Burghard allein weiterziehen würde, ohne sich von ihnen die Erlaubnis zu holen.«
»Dann hast du in zweierlei Hinsicht versagt!«, schlussfolgerte Barnabas. »Katharina und Burghard sind dir fortgelaufen!«
»Wieso mir? Du hast den Eltern versprochen, dich um das Mädchen zu kümmern.«
»Ja, nachdem du den Eltern angeboten hast, Katharina zu begleiten und sie zu beschützen. Erinnere dich an deine Worte!« Spöttisch lächelte der Magier den Franziskanermönch an, der nichts zu entgegnen wusste. Als Servatius stumm blieb, bestimmte Barnabas: »Wir werden nach Mainz ziehen.« Erschrocken sah Servatius auf. »Keine Angst, wir werden nur an Mainz vorbeiziehen und dann der Straße nach Bingen folgen. Von dort können wir nach Kreuznach wandern.«
»Du scheinst genau zu wissen, wohin uns unser Weg führen soll«, unterbrach Servatius ihn. Barnabas nickte. »Es wird Zeit, wieder die Heimat aufzusuchen!«
024
 
Die Reise der beiden Männer verlief ohne besondere Vorkommnisse. Nur hier und da begegnete ihnen ein Wanderer oder ein Fuhrwerk. Auch das Wetter meinte es gut mit ihnen. Es war trocken, und die Sonne schickte ihre letzten wärmenden Strahlen auf die Erde. Manchmal hörte man noch einen Vogel zwitschern. Alles war ruhig und friedlich, bis Servatius’ Stimme die Stille durchbrach und er seinen Weggefährten ungestüm fragte: »Woher stammst du?«, »Und warum bist du fortgegangen?«, »Wann war das?«, »Ist es noch weit?« Unablässig wiederholte der Mönch seine Fragen, während Barnabas stumm den staubigen Weg entlangschritt und dabei den Kopf gesenkt hielt. Stur schaute er weder nach rechts noch nach links und erst recht nicht in Richtung des Mönchs. Als Servatius sich beklagte, dass Barnabas ihm kaum Beachtung schenkte, blieb der Magier stehen und hob den Blick.
»Ich wüsste nicht, was ich dir zu erklären habe«, sagte er und sah Servatius dabei kalt an. Bevor der Mönch etwas erwidern konnte, setzte der Magier seinen Weg fort. Hastig folgte ihm der Franziskaner und schimpfte: »Warum machst du so ein Geheimnis daraus? Du weißt über mich mehr als ich über dich!«
Erneut blieb Barnabas stehen und sagte spöttisch: »Was ich von dir weiß, würde ich liebend gern nicht wissen!«
Servatius begriff sofort, worauf der Magier anspielte, und schwieg fortan.
 
Als sie am Abend des zweiten Tages Mainz vor sich liegen sahen, beschleunigte Servatius seinen Schritt. Barnabas sagte nichts, obwohl er ihm nur mühsam folgen konnte. Erst als die Stadt hinter ihnen lag, wurde der Gang des Mönchs wieder langsamer. Erschöpft schlug Barnabas vor: »Lass uns einen Lagerplatz suchen. Es ist bereits spät, und ich bin hungrig und durstig!« Niemals hätte er zugegeben, dass seine Knie schmerzten und sein Herz von der Anstrengung raste.
 
In einem Waldstück fanden sie vor einem umgestürzten Baum einen geschützten Platz für die Nacht. Unaufgefordert suchte Servatius trockenes Holz, um ein Feuer zu entfachen. Währenddessen setzte sich Barnabas auf den Baumstamm und durchsuchte seine Tiegel nach einer bestimmten Paste. »Wolfsgelegena«, murmelte er leise vor sich hin. Er öffnete jedes Gefäß und schnupperte daran, bis er die richtige Salbe gefunden hatte. Mit den Spitzen von Zeige- und Mittelfinger nahm er von dem cremigen Balsam, der aus dem Öl der gelblichen Arnikablüte und Bienenwachs hergestellt wurde. Sorgsam rieb er seine schmerzenden Knie damit ein und verband sie mit einem Leinenschal. Erneut nahm er von der Paste, doch dieses Mal nur eine erbsengroße Menge und verrieb sie über seine Finger. Dabei verzog er leicht das Gesicht.
Servatius kam mit einem Bündel dürrer Äste auf dem Arm zurück und fragte: »Geht es dir nicht gut?«
»Was kümmert es dich?«, brummte Barnabas und strich sich über die kleinen Verdickungen seiner Fingergelenke.
»Ich werde Wasser erhitzen und einen Kräutersud aus Birken-und Brennnesselblättern aufbrühen. Er hilft gegen den Gichtschmerz.« Erstaunt blickte der Magier auf. Servatius’ Gesicht verriet keinen seiner Gedanken, und Barnabas konnte nichts Hinterhältiges in seiner Mimik erkennen. Trotzdem beobachtete er den Mönch argwöhnisch, denn seine Hilfsbereitschaft war ungewohnt.
Der Franziskaner tat, als bemerke er Barnabas’ Blick nicht. Er riss frische Äste von den Tannen ab und bedeckte damit breitflächig den Boden vor dem Baumstamm. Nachdem er trockenes Laub darübergestreut hatte, forderte er den Magier auf: »Leg dich hier auf das gepolsterte Lager. Das wird deinen Knochen guttun.«
Barnabas setzte sich und lehnte sich entspannt gegen den Stamm. Erneut musterte er den Mönch. Als er auf dem Gesicht des Mönchs einen freundlichen Ausdruck entdeckte, fragte er: »Was führst du im Schilde? Willst mich wohl im Schlaf ausrauben oder gar umbringen!«
Servatius lachte laut auf. »Warum sollte ich mir dann die Mühe machen und dir ein Lager herrichten? Dich ausrauben und umbringen kann ich auch, wenn du auf dem nackten Boden schläfst.«
Mehr sagte der Franziskaner nicht, sondern entfachte mit Zunderschwamm und Feuerstein das trockene Holz. Dann suchte er zwei Steine und legte sie rechts und links neben das Feuer. Auf die Steine stellte er einen Topf, so dass die Flammen den Topfboden berührten, und goss aus dem mitgeführten Schlauch Wasser hinein. Barnabas hatte in der Zwischenzeit die Beutel mit Brennnessel und Birkenblättern in seinem Korb gefunden. Er nahm eine kleine Menge und füllte die trockenen Blätter in ein Leinensäckchen, das er in das kochende Wasser hängte. Schon bald verfärbte sich das Wasser bräunlich. Nachdem der Sud lange genug gezogen hatte, goss Servatius ihn in eine Schüssel und reichte sie Barnabas. Schlürfend trank der Magier kleine Schlucke.
»Ah, das tut gut«, freute er sich. Nachdem sie Blutwurst und Brot gegessen hatten, sagte Servatius plötzlich: »Ich will das Brauchen lernen!«
Sein freundlicher Blick war verschwunden, stattdessen waren seine Gesichtszüge hart geworden. Barnabas presste seine Lippen zusammen. »Ich dachte mir schon, dass du nichts umsonst tust!«
Servatius verzog den Mund zu einem spöttischen Lächeln. »Warum sträubst du dich? Sei froh, dass dein Wissen nicht verloren gegangen ist, wenn du vor unserem Schöpfer stehst.«
»Nur, weil ich Gicht habe, heißt das nicht, dass ich sterben werde.«
»Nicht an Gicht – das stimmt wohl! Aber wie ich bereits sagte, deine Tage sind gezählt. Deine Ader am Hals schwillt dick an, sobald dein Blut in Wallung gerät. Schweißperlen bedecken deine Stirn, wenn du dich schnell bewegst. Ich bin nicht blind, Barnabas!«
»Ich verstehe nicht, was du mir sagen willst, Servatius. Ich bin nicht mehr der Jüngste, das ist wohl wahr, aber ich bin noch lange nicht bereit, diese Welt zu verlassen.«
Beide blickten sich übellaunig an. Plötzlich verzog sich das Gesicht des Jüngeren. Er sah aus wie ein Kind, dem man sein Spielzeug weggenommen hatte. Trotzig stülpte er die Unterlippe vor.
»Ich weiß, dass du es vorgezogen hättest, Burghard zu deinem Nachfolger zu machen. Aber weshalb kann ich es nicht werden – jetzt, wo er fort ist?«
»Servatius, du bist in der Kräuterkunde bewandert, hast sie im Kloster gelernt. Somit kannst du helfen und heilen. Das Brauchtum ist besonders und den Magiern vorbehalten. Nur uns Zauberern ist es gestattet, das Brauchen einzusetzen.« Zornig sprang der Mönch auf, baute sich vor Barnabas auf und blickte auf ihn herab.
Das ist keine gute Ausgangslage für mich, dachte der Magier in dem Wissen, dass er nicht schnell genug auf die Beine kommen würde, sollte Servatius auf ihn losgehen.
»Du lügst! Brauchen kann jeder! Ich bin nicht dumm, alter Mann, ich weiß, dass es verschiedene Brauchtümer gibt, selbst die Kirche hat ihre eigenen. Aber die interessieren mich nicht! Ich will die der Zauberer lernen!«
»Warum?«
Servatius schwieg. Sein Blick, mit dem er den Magier von oben herab bedachte, sagte mehr als jedes Wort.
»Macht!«, flüsterte Barnabas. »Du denkst, als Zauberer hast du Macht über die Menschen!«
Servatius kam näher, kniete sich auf einem Bein vor Barnabas hin und sah ihm fest in die Augen. Sein Gesicht kam so dicht, dass der Magier jeden Pickel, jede Pore erkennen konnte. Als ihm der faulige Atem ins Gesicht schlug, musste er sich beherrschen, um nicht den Kopf abzuwenden.
»Bringst du mir das Brauchen bei?«, fragte Servatius mit erregter Stimme.
»Nie und nimmer«, flüsterte Barnabas. »Eher bringe ich dich um!«
Servatius holte aus, um auf ihn einzuschlagen, doch Barnabas hatte damit gerechnet und hob im selben Augenblick seinen Wanderstab in die Höhe. Noch bevor ihn Servatius’ Faust treffen konnte, schlug er dem Mönch das dickere Ende des harten Holzstabs gegen die Schläfe. Geräuschlos sackte dieser in sich zusammen und bewegte sich nicht mehr. Mühsam erhob sich Barnabas von seinem Lager.
 
Der Magier saß am Feuer, trank Sud und starrte in die Flammen, als Servatius wieder zu sich kam. Ohne ihn anzusehen, sprach Barnabas: »Ich werde dich die Brauchkunst nicht lehren, merk dir das.«
»Warum nicht?«, schrie Servatius und hielt sich den Kopf, in dem der Schmerz pochte.
»Weil du sie gegen Menschen verwenden würdest!«