Kapitel 4
Dingelstedt auf dem Eichsfeld im Juli
1617
Seit Tagen brannte
die Sonne auf das Eichsfeld herab, so dass die Hitze Mensch wie
Tier lähmte.
Die edlen Rösser des
Arnoldschen Gestüts standen dicht gedrängt auf den Koppeln zusammen
und versuchten sich gegenseitig mit ihren Schweifen die Fliegen zu
vertreiben, die in dunklen Wolken um ihre Köpfe
schwirrten.
Die Fohlen lagen
regungslos im Schatten der Bäume, bewacht von ihren Müttern, die
mit gesenkten Köpfen träge neben ihnen standen.
Hechelnd pressten
sich die Hofhunde in den Schatten der Hauswände. Einige suchten in
dem fast ausgetrockneten Bett der Unstrut einen kläglichen
Wasserrest, in den sie sich legen konnten.
Tagsüber ruhte die
meiste Arbeit in Dingelstedt, denn die Menschen flüchteten vor der
Sonne in ihre kühlen Häuser und ließen sich kaum blicken. Erst der
Abend, der ihnen Erleichterung versprach, würde Alt wie Jung wieder
vor die Tür locken. Doch seit der letzten Woche brachten selbst die
Nächte den Menschen keine Abkühlung.
Nur die Grillen
schien die Hitze nicht zu stören. Zuhauf zirpten sie im
vertrockneten Gras der Wiesen, und selbst in der Nacht konnte man
ihrem Konzert lauschen.
Der Arzt Friedrich
Schildknecht stand in der Tür seines Elternhauses und wischte sich
mit einem feuchten Tuch den Staub aus dem Gesicht. Erst vor wenigen
Minuten war er nass geschwitzt aus dem Nachbarörtchen Helmsdorf
zurückgekehrt.
Bereits in den
frühen Morgenstunden hatte der Sohn des alten Fridolin ihn rufen
lassen, da seinen Vater der Schlag getroffen hatte. Obwohl sich der
junge Schildknecht sputete, kam er zu spät, und der Alte war
bereits verstorben.
Friedrich klebte die
Zunge am Gaumen. Verschwitzt ging er hinüber zum Brunnen in der
Mitte des Dorfes und labte sich am kalten Wasser. Nachdem er seinen
Durst gestillt hatte, goss er sich einen Eimer eiskaltes
Brunnenwasser über den Kopf. Wie ein nasser Hund schüttelte er sich
und rieb sich anschließend das Gesicht trocken. Als er aufblickte,
sah er, dass Anna Münzbacher den staubigen Weg zum Friedhof
einschlug. Obwohl die Sonne den Tag erhellte und die junge Frau
einen Strauß bunter Sommerblumen in Händen hielt, wirkte ihre
Erscheinung düster. Nachdenklich schaute Friedrich ihr hinterher.
Es wird Zeit, dass sie die schwarze Kleidung ablegt!, dachte der
junge Mann, während ein zaghaftes Lächeln seine Lippen umspielte.
Viel zu lange schon hatte sie ihren Körper und ihr Wesen hinter
dieser schwarzen Wand versteckt.
Zuerst hatte Anna
sich in schwarze Kleidung gehüllt, weil ihre Eltern zu Tode
gekommen waren. Dann, weil sie glaubte, dass ihr Bruder Clemens
umgekommen wäre. Und nun trug sie Schwarz, weil auch ihr Mann
gestorben war.
Friedrich wusste,
dass der Tod ihres Ehemanns die junge Frau kaltließ. Die
Trauerkleidung diente lediglich dazu, die Leute im Dorf zu täuschen
und ihnen vorzugaukeln, dass die Witwe unter dem Verlust
litt.
Friedrich blickte
sich suchend um. Keiner der anderen Dorfbewohner war zu sehen.
Lächelnd strich er sich die feuchten Haare zurück, zupfte sein Hemd
zurecht und folgte Anna auf den Friedhof.
Anna setzte sich auf
die Bank unter der dicken Eiche. Das dichte Blätterwerk spendete
zwar Schatten, jedoch keine Abkühlung. Die Luft war von der Hitze
erfüllt, und jede Bewegung trieb ihr den Schweiß aus den Poren. Der
jungen Frau klebte das schwarze, dicht gewebte Kleid feucht am
Körper. Langsam strich sie sich die Haarsträhnen aus dem Gesicht,
die sich aus ihrem Knoten gelöst hatten und nun an Hals und Wangen
hafteten. Eigentlich hatte sie erst am Abend auf den Friedhof gehen
wollen, doch die Unruhe trieb sie schon jetzt aus dem
Haus.
Mit traurigen Augen
schaute Anna auf das Grab ihrer Eltern. Sie stand auf, um die
Blumen, die sie in der Hand hielt, niederzulegen und zu
beten.
Drei Jahre waren sie
tot! Drei Jahre, in denen viel geschehen war!
Annas Blick
schweifte zu der Grabstelle neben der ihres Vaters. Hier hatten sie
eine verbrannte Leiche begraben, von der jeder in Dingelstedt und
Umgebung annahm, dass es ihr Bruder Clemens sei. Doch in
Wirklichkeit lag hier die Wäscherin Marga beerdigt – was allerdings
keiner der übrigen Dorfbewohner wusste, und das sollte auch so
bleiben. Anna hatte wegen dieser Lüge kein schlechtes Gewissen. Sie
tröstete der Gedanke, dass die Wäscherin Marga als mittellose Frau
ein Armengrab am hinteren Rand des Kirchhofs erhalten hätte. So
aber lag sie an einem schönen Platz mit Blick über die Koppeln in
einem teuren Sarg. Da Marga keine Familie hatte, musste niemand
benachrichtigt werden, und so konnte das Geheimnis gewahrt
bleiben.
Neben der Wäscherin
war ein weiteres frisches Grab zu erkennen. Der Erdboden hatte sich
noch nicht gesetzt, weshalb bis jetzt kein Grabstein darauf stand,
sondern nur ein schlichtes Holzkreuz. Wenn es nach ihr ginge, würde
die Stelle schmucklos bleiben, obwohl hier Wilhelm Münzbacher
beerdigt lag – ihr Ehemann -, der Mörder ihrer Eltern, der
Wäscherin Marga und beinahe auch der ihres Bruders Clemens. Allein
der Anblick der Grabstelle rief heftige Gefühle in der jungen Frau
hervor. Trauer, Wut, Hass und Verzweiflung entluden sich in einer
einzigen Geste: Mit voller Wucht trat sie gegen das Kreuz, so dass
es anschließend schief im Boden stand. Anna wollte gerade noch
einmal danach treten, als plötzlich Friedrich neben ihr auftauchte.
Mit gesenkter Stimme sagte er ruhig zu ihr: »Lass gut sein, Anna.
Er ist tot! Er kann dir nicht mehr schaden, nur du dir selbst, wenn
jemand sieht, wie du hier wütest.«
Stumm setzte sich
die Frau zurück auf die Bank und sah zu, wie der Arzt das Kreuz
gerade rückte. Anschließend nahm er neben ihr Platz.
»Jeden Tag danke ich
unserem Herrgott dafür, dass Wilhelm tot ist. Hoffentlich schmort
er bis zum Jüngsten Gericht in der Hölle.«
»Anna! Sag so etwas
nicht«, ermahnte Friedrich sie vorwurfsvoll. Die ungewohnte Härte
in ihrer Stimme rief Besorgnis in ihm hervor.
Leise fuhr Anna
fort: »Meine Mutter hätte heute ihren neununddreißigsten Geburtstag
gefeiert. Doch dieser Mensch hat alles zerstört.«
»Sei froh, dass
Clemens den Brand überlebt hat«, versuchte er sie zu
trösten.
»Pah! Du hast doch
sein entstelltes Gesicht gesehen.« Vorwurfsvoll, als ob er daran
schuld wäre, sah sie den jungen Arzt an und fügte hinzu: »Und mein
Bruder kann nicht bei mir sein. Wer weiß, ob ich ihn je wiedersehen
werde. Warum sollte ich froh sein? Ich bin allein.«
Friedrich versuchte
sie zu besänftigen: »Ach Anna, du weißt, dass du nicht allein bist.
Ich werde immer für dich da sein.«
Als sie nicht
antwortete, fügte er hinzu: »Auch Clemens wird nicht für immer fort
sein. Wenn genügend Zeit verstrichen ist, wird er zu dir
zurückkehren.«
»Aber wann? Wann,
Friedrich, wird das sein? Wenn ich alt und grau bin? Und was ist,
wenn der Meuchelmörder ihn zu fassen bekommt?«
»Anna, Clemens ist
auf dem Weg ins Hessenland. Woher soll der Mörder das wissen? Und
so schlimm seine Verletzung im Gesicht auch sein mag, sie hat doch
auch etwas Gutes. Der Meuchelmörder wird Clemens nur schwer
erkennen können. Vielleicht lässt er sogar von Clemens ab, wenn er
erfährt, dass Wilhelm tot ist.« Friedrich versuchte Zuversicht in
seine Stimme zu legen. Doch die junge Frau vergrub ihr Gesicht
schluchzend in den Händen. Friedrich blickte sich um. Als er
niemanden sehen konnte, legte er zaghaft den Arm um ihre Schultern.
Sofort presste sie ihren Kopf an seine Brust und weinte. Sachte
drückte er ihr einen Kuss auf den Scheitel. Als sich Annas
tränennasses Gesicht ihm entgegenstreckte, zögerte er nicht lange
und küsste sie leidenschaftlich. Hungrig öffneten sich ihrer beider
Lippen. Friedrich schmeckte ihre salzigen Tränen und hörte ihr Herz
laut pochen. Nichts und niemand zählte in diesem Moment für die
beiden Liebenden, nur ihr Gefühl füreinander. Dabei übersahen sie
vollkommen den Mann, der sich unbemerkt hinter einem breiten
Grabstein erhob und davonschlich.
Adam Hastenteufel
hatte genug gehört. Zufrieden ging er zum Dorfbrunnen und
erfrischte sich mit kaltem Wasser. Vier Tage hatte er auf diese
Gelegenheit gewartet und deshalb vier Tage in der sengenden Hitze
zugebracht. Aber es hatte sich gelohnt, und das allein zählte. Auch
dieses Mal hatte sein Scharfsinn ihn nicht im Stich gelassen. Und
erneut hatte sich erwiesen, dass man nur eines besitzen musste, um
die richtigen Hinweise zu erhalten: Geduld!
Er war wie ein
Jäger, der tagelang auf der Lauer lag, um das Wild zu erlegen –
nur, dass seine Beute sich auf zwei Beinen fortbewegte.
Hastenteufel war es einerlei, was er jagte, genauso, wie es ihn
nicht kümmerte, ob Krieg oder Frieden herrschte. Auch spielte es
für ihn keine Rolle, dass sein Auftrageber mittlerweile das
Zeitliche gesegnet hatte. Münzbacher hatte ihn bereits entlohnt,
und deshalb würde er den Auftrag ausführen – einerlei, wie lange es
dauern würde.
Hastenteufel war
unter seinesgleichen berüchtigt. Man schätzte ihn, weil er mit
Sorgfalt vorging und man sich auf ihn verlassen konnte. Ihm eilte
der Ruf voraus, dass er sich erst zufriedengeben würde, wenn die
Beute zur Strecke gebracht wäre. Und das war dieses Mal nicht
anders, das war er sich und Münzbacher schuldig.