Kapitel 9

 

 

»Was für ein Durcheinander, was für ein grauenhaftes Durcheinander!«

John Mina schlug sich mit den behandschuhten Fäusten seitlich an die Beine, während er durch das Meer aus Flüchtlingen watete, die aus dem Zug stiegen.

So weit das Auge reichte, lagen die Höhen südlich und östlich von Kew unter einer primitiven Zeltstadt begraben. Alles war voll von unaufhörlichem Hämmern und Geschrei, von kreischenden Kindern und schimpfenden Müttern, eine irrsinnige Kakofonie. Ein Gespann mit einem Wagen voller frisch geschlagenem Holz fuhr vorbei und bespritzte John mit Matsch. Er blickte an der fleckigen, tropfnassen Uniform herab und fluchte. Das war etwas, was er von jeher am Armeeleben hasste: man konnte niemals sauber werden. Damals in seiner Zeit in der Potomac-Armee auf der Erde hatte es ihn mit Selbstabscheu und Verlegenheit erfüllt, als er entdeckte, dass er Läuse hatte. Dabei tröstete ihn nicht, dass auch alle anderen, von Andrew abwärts, von Ungeziefer geplagt wurden. Die abscheulichen Kreaturen saßen an ihm, das war alles, was Bedeutung hatte.

Nervös kratzte er sich. Ging der Juckreiz darauf zurück, dass er seit fünf Tagen und Nächten in denselben Klamotten steckte, ohne dass er sich einmal hätte umziehen können, oder hatte er sich wieder diese Viecher eingefangen?

Er schob sich durch die Menge und ignorierte dabei die Abordnung des Stadtrats, die ständig versuchte, eines Offiziellen habhaft zu werden und ihm ihre Beschwerden in die Ohren zu brüllen.

Er blieb einen Augenblick lang stehen und betrachtete einen Haufen gemahlenen Weizens, der in Segeltuchsäcken neben der Straße lag, halb vergraben im Schlamm und vom Regen durchnässt.

»Welche hirnverbrannte Teufelsbrut ist dafür verantwortlich?«, tobte John und deutete dabei auf die verdorbenen Lebensmittel.

Der Vormann der Packarbeiter stand stumm da.

»Genug Weizen, um eintausend Menschen einen Tag lang zu ernähren, und er ist ruiniert!«, schrie John.

»Hier halten jeden Tag fünfundsiebzig Züge!«, protestierte der Bahnhofsvorsteher. »Es ist das reine Chaos!«

»Natürlich ist es das!«, schrie John. »Es ist Wahnsinn, verdammter Wahnsinn!«

Er blickte sich unter den Männern auf dem Bahnsteig um.

»Wer ist hier der stellvertretende Leiter?«

Ein alter Mann mit hängenden Schultern trat vor.

»Petrow Gregorowitsch, Eure Exzellenz.« Der Mann nahm die Mütze ab, und sein Kahlkopf fuhr nickend auf und nieder.

»Na, gottverdammt, Petrow, Sie sind jetzt Colonel Petrow. Falls Sie die Lage hier bis morgen nicht verbessert haben, werden auch Sie gefeuert, bis ich jemanden finde, der hier etwas Ordnung schaffen kann.«

John drehte sich zu dem gefeuerten Manager um.

»Ihr Regiment? Wo stationiert?«

»Fünfzehntes Kew. Nach dem, was ich zuletzt hörte, nördlich der Furt.«

»Suchen Sie Ihr Gewehr, nehmen Sie den nächsten Zug und schließen sich Ihrer Einheit wieder an!«, bellte John und stolzierte davon, und ein zitternder Mann blieb mit offenem Mund zurück.

»Er hat sein Bestes getan«, wandte ein Adjutant ein.

»Es war nicht gut genug!«, knurrte John zur Antwort.

Er rempelte sich einen Weg aus dem Bahnhof frei und stieg über die improvisierten Gleise hinweg, die für Rangierzwecke angelegt worden waren. Der schrille Ton einer Zugpfeife schnitt durch die Luft, und er blickte zurück und sah einen langen Zug in hohem Tempo durchfahren. Menschen, quiekende Schweine, kreischende Hühner und schwerfällige Kühe verstreuten sich vor ihm. Der Zug donnerte hindurch, und der rot-goldene Wimpel eines Expresszuges mit Ziel Roum flatterte am Schornstein. Hinter der Lokomotive schwankten zehn Schlafwagen heftig unter ihrer kopflastigen Beladung. Die Wagen waren völlig überladen mit den Glücklichen, die direkt in die relative Sicherheit fünfhundert Kilometer weiter fahren durften.

»Mina!«

John drehte sich stöhnend um, als Emil Weiss aus einer Hütte kam und sich zu ihm gesellte.

»Wo zum Teufel sind meine Zelte?«

»Noch irgendwo in Suzdal.«

»Ich habe hier dreitausend Verwundete aus der letzten Schlacht, und viele von ihnen liegen unter Decken auf freiem Feld. Ich verliere dreißig Jungs pro Tag, die ich sonst retten könnte!«

John hob abwehrend die Hand.

»Und außerdem brauchen wir Zelte für die Gesunden, Holz für Unterkünfte und Wasser, John. Derzeit nehmen sie es direkt aus der Wolga – ungefiltert, einfach so. Ich habe schon ein paar Typhusfälle – bald wird es eine verdammte Epidemie sein!«

»Später, Doktor.«

Emil schloss sich John an, als dieser weiter die Bahntrasse entlangging. Hinter der Stadt wandte sich die Strecke nach Norden und begann einen langen Anstieg entlang der Weißen Berge. John stieg über die Schienen und watete den nassen, schlammigen Bahndamm hinab. Ohne sich um Emil zu scheren, schrie er seinen Leuten Befehle zu, deutete auf einen weiteren Stapel herumliegender Lebensmittel und brüllte vor Wut, als er ein totes Pferd erblickte, halb ausgeschlachtet, während der restliche Kadaver langsam im Schlamm versank. Emil rümpfte die Nase über den Gestank, und folgte John einfach weiter, als dieser den langen Hang hinter der Stadt hinaufging.

»Ich weiß, dass Sie Ihr Bestes tun«, sagte Emil mit unvermittelt sanftem Ton, und John drehte sich überrascht zu ihm um.

»Wie geht es Ihnen?«

»Wie üblich«, antwortete John, der am liebsten gar nicht darüber nachdenken wollte, wie er sich fühlte. Der Magen war ein Spannungsknoten. So fühlte sich das an, seit Andrew den Begriff Evakuierung gebraucht hatte, und so war es die ganzen zehn Tagen seither geblieben.

»Wann haben Sie zuletzt geschlafen?«

John lachte und schüttelte den Kopf, gab jedoch keine Antwort.

Emil schwieg und musterte ihn.

Bergan wurde John langsamer, und Emil bedachte ihn mit einem besorgten Blick.

»Wie alt sind Sie, mein Sohn?«

»Dreiunddreißig.«

»Ich bin doppelt so alt, und Sie sind schon außer Atem. Junge, Sie sind ja richtig fertig.«

John hob die Hand, wie um ihn abzuwehren.

Die Bahnlinie zog sich vor ihnen bergan und erstieg in nördlicher Richtung über lange sechseinhalb Kilometer die Gebirgsflanke, bis sie den Pass durch die Weißen Berge erreichte. Dort verlief sie fast achthundert Meter über dem Talboden, ehe es auf der anderen Seite der Berge wieder abwärts ging und in pfeilgerader Richtung bis zur Kennebecbrücke in hundertsechzig Kilometern Entfernung.

Nach wie vor waren die Berge dicht mit riesigen Kiefern bestanden, obwohl diese im Verlauf der zurückliegenden Woche zu Tausenden gefallt worden waren, um beide Gebirgsflanken für die anstehenden Aufgaben zu roden: den Westhang für Befestigungen, den Osthang für die vorläufigen Standorte der Fabriken und Unterkünfte. Noch einen Tag dauerte es bis zur Fertigstellung der Eisenbahn-Wendeschleife auf der anderen Seite der Berge, die es überflüssig machte, die Züge erst noch über den Gebirgspass zu schicken, damit sie entladen werden konnten, um anschließend wieder langsam zurückzusetzen.

John blieb jetzt ganz stehen und verfolgte mit dem Blick den Flüchtlingszug, der Kew inzwischen durchquert hatte und sich mühsam den Hang hinaufkämpfte, wobei die Lok dunkle Rauchschwaden ausspie, handelte es sich bei ihr doch um einen der ersten Kohlebrenner der Linie. Sie hatte beinahe zu viel Last zu schleppen; Funken sprühten aus der Oberseite und Flammenzungen aus der Unterseite. Der beißende Rauch wälzte sich als dicke Schicht nach Süden.

An der Kurve hinter Kew machte sich gerade ein weiterer Zug auf den Weg bergan, die offenen Güterwagen hoch beladen mit Drehbänken und Gussformen der Kanonengießereien. Die Lok dieses Zuges würde am Ziel zerlegt werden, um als Antriebsquelle für die Drehbänke zu dienen. Fast die Hälfte aller Lokomotiven sollten für die Fabriken ausgeschlachtet werden, sobald das erste Stadium der Evakuierung abgeschlossen war. John verfluchte sich selbst lautlos dafür, dass er die Fabriken nicht früher schon auf Dampfkraft umgestellt und sich lieber fest auf die bequeme und nahezu unbegrenzte Energie aus dem Winastaudamm verlassen hatte.

Er wurde langsamer, zog ein Taschentuch und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Ohne jeden Gedanken um das richtige Image setzte er sich auf einen Baumstumpf, aus dem noch Harz sickerte. Er sah, wie er wohl wusste, ohnehin schon schlimm aus, sodass ein Hosenboden voller Harz auch nicht mehr von Bedeutung war.

Er holte den Feldstecher hervor und blickte zurück nach Westen. Er hatte eine schöne klare Sicht quer durch das Herz von Rus. Die Regenschauer der vergangenen Nacht hatten einem warmen Frühlingstag Platz gemacht, über dem sich ein kristallblauer, wie frisch gewaschener Himmel spannte. In den Obstgärten fielen die letzten Blüten, und die Hügel südlich von Kew lagen von einem rosa Teppich bedeckt. Hätte er nur die Gedanken an den ganzen Wahnsinn abschütteln können, dann wäre alles eine Szenerie ländlicher Pracht gewesen, würdig der Malkünste eines Church oder Cole. Der Duft grüner Felder, frischen Grases, wilder Blumen und der Kiefern überdeckte beinahe die Unterströmung aus Schweiß, ungewaschenen Körpern und Exkrementen.

Im Norden, knappe zehn Kilometer entfernt, gingen die letzten massiven Bestände des großen Waldes, die sich über die Höhenzüge ausbreiteten, in der Tiefe in dünneren Baumbestand über, der sich an der Feuchtigkeit der Bäche und tiefen Flussläufe orientierte, wie sie die sanft gewellte Landschaft durchschnitten. Hinter John wurden die Weißen Berge, die in gerader Linie vom Wald bis zum Binnenmeer verliefen, von unberührtem Wald gekrönt, dessen riesige Bäume teilweise die dreißig Meter überragten.

Er versuchte, sich die groben Landkarten ins Gedächtnis zu rufen, die parallel zur Volkszählung angefertigt worden waren. Das Reich der Rus erstreckte sich vom Neiper über fast vierhundert Kilometer bis hierher, wobei sich ein paar verstreute Siedlungen noch auf der gewaltigen Steppe fanden, die sich über weitere fünfhundert Kilometer bis nach Hispania und Roum ausdehnte.

Falls eine letzte Rückzugslinie existierte, die verteidigt werden konnte, dann hier – wenigstens in diesem Punkt hatte Andrew eine gute Wahl getroffen. Weiter westlich, gen Suzdal, war die offene Landschaft zwischen Meer und großem Wald im Durchschnitt gut hundert Kilometer breit und erreichte an einigen Stellen eine Breite von gut hundertfünfzig Kilometern. Hier bot sich der einzige Engpass, denn hier bildete der dreihundert Meter hohe Kamm der Weißen Berge ein natürliches, dicht bewaldetes Hindernis – gut dreißig Kilometer Front, die zu verteidigen waren.

Der Talboden unterhalb von Johns Position bot sich als Meer des Chaos dar. Fast eine Drittel Million Menschen wurden hier durchgeschleust. Weit draußen auf der freien Steppe sah er Wagen auf Wagen nach Osten fahren, hoch beladen mit Lebensmitteln und den spärlichen Habseligkeiten, von denen sich die Menschen von Rus einfach nicht trennen mochten.

Jeder Arbeitsfähige schuftete am langen Westhang der Berge, fällte Bäume und grub, wobei manche mit nichts weiter zu Werk gingen als zugespitzten Pflöcken. John drehte sich auch zu den Frauen, den alten Männern, den bis zehn Jahre alten Kindern um, eine lange Reihe, die schon auf Kilometer angewachsen war. Die Techniker, die ihre Kenntnisse am Potomac gewonnen hatten, legten jetzt hier Schussfelder an, trieben Markierungspflöcke in den Boden und dirigierten die Tausende Arbeiter.

»Wo im Namen Gottes nehmen sie nur die Kraft her, so weiterzumachen?«, flüsterte John auf Englisch.

»Es sind Rus«, erklärte Emil. Er setzte sich neben John, pflückte eine schon fast welke blaue Blume und drehte sie geistesabwesend zwischen den Fingern.

»Gerade denken wir, wir hätten sie bis zum Äußersten getrieben, da machen sie immer noch weiter. Das gehört zur Seele des Bauern. Glauben Sie mir, John, ich weiß das – ich erinnere mich aus meinem alten Heimatland daran. Und ganz gewiss als Jude. Auf der alten Welt hätten deren Vettern mir mit Begeisterung den Bart versengt. Aber was den slawischen Bauern angeht: man lad ihm einen Kummer nach dem anderen auf den Buckel, und er trägt ihn. Oh, Gott weiß, dass er einem die Kehle durchschneidet, wenn man es mit ihm verdirbt, aber hier wissen sie, dass sie die Last entweder ertragen oder letztlich alle umkommen.«

»Ich denke immer daran«, sagte John, »wie viel leichter alles gewesen wäre, hätten wir auf Tobias gehört. Bestimmt erinnern Sie sich noch an die Ratsversammlung damals, nachdem der tugarische Künder der Zeit aufgetaucht war.«

»Nein«, entgegnete Emil. »Ich habe mich nie dafür interessiert, was dieser aufgeblasene Trottel sagte.«

»Er sagte, wir sollten von hier fortgehen, eine Zuflucht im Süden suchen und abwarten, dass die Horden wieder verschwinden, um danach zurückzukehren und zwanzig Jahre Zeit für den Aufbau zu haben. Wissen Sie: hätten wir das getan, dann wären die Horden inzwischen weitergezogen.«

»Und zwanzig Prozent der Rus, der Roum und der Carthas wären in den Schmausgruben gelandet.«

»Mein lieber Doktor, mehr als die Hälfte der Rus sind in den zurückliegenden fünf Jahren umgekommen, und ich wette, dass kein Zehntel der Carthas den nächsten Winter erlebt.«

»Vergessen Sie nicht, dass wir, indem wir blieben, den Pocken ein Ende bereiten konnten, die sich sonst weiterhin vor den Tugaren ausgebreitet hätten. Die geretteten Menschenleben in Roum und anderswo wiegen es also mehr als auf. So kalt eine solche Rechnung erscheint, John, es gleicht die Sache aus.«

»Falls wir hier geschlagen werden, sind im Winter die Roum an der Reihe. Ihre Stadt ist eine Falle – an drei Seiten von Bergen umgeben. Die Merki werden sie in Stücke schießen.«

»Gehen Sie mal hinüber und fragen Sie einen der Leute, die dort unten graben, ob sie sich wünschen, es wäre anders gekommen.«

»Nur zu – was zum Teufel denken Sie, würden die mir sagen?«, schniefte John, beugte sich vor, pflückte einen Grashalm und drehte ihn in der Hand.

»Sie spielen mit Was-wäre-wenns herum, John«, hielt ihm Emil energisch entgegen. »Ein Bauer macht sich bei weitem nicht so viele Gedanken. Er weiß, dass er frei ist, und notfalls stirbt er mit der Waffe in der Hand. Sicher, wir hätten fliehen können, aber hätten wir auch eine sichere Zuflucht gefunden? Ich bezweifle es. Falls doch, hätten wir dort auch Eisen und Kohle schön auf einem Haufen vorgefunden? Und was wäre gekommen, hätten wir uns dermaßen in Tobias’ Hand gegeben? Sie haben ja erlebt, wie er sich entwickelte. Ich stehe lieber das durch, was wir hier angefangen haben.«

»Sogar wenn wir verlieren?«

Emil lächelte nachsichtig.

»Jemals ein Pogrom miterlebt?«

»Ein was?«

»Ihr Amerikaner«, sagte Emil kopfschüttelnd. »Ich wurde in dem geboren, was einmal Polen war. Mein Vater wurde 1813 von einer Bande betrunkener ungarischer Soldaten ermordet, als sich die Franzosen aus Russland zurückzogen. Sie spuckten auf seine Leiche und nannten ihn einen dreckigen Juden, und dann vergewaltigten sie meine Mutter. Natürlich war sie für diese Art von Gunstbeweis nicht zu dreckig.«

Er schwieg eine Zeit lang und blickte ins Leere.

»Sie starb an den Folgen dieses Erlebnisses«, flüsterte er, »und ließ mich und einen älteren Bruder zurück, der am Typhus starb, wie es im Gefolge der Armee auftrat. Ich habe niemals vergessen, was es bedeutet, in solcher Angst zu leben. Noch nachdem ich bei meinem Onkel aufgewachsen und in Budapest Arzt geworden war, und nachdem ich später nach Wien gegangen war, blieb ich im Griff dieser Angst. Oh sicher, ich war jetzt ein Arzt, aber ich wusste trotzdem nicht, wann die Ungarn oder sonstige Goyim lachend an der Tür auftauchten, wohl wissend, dass sie mich umbringen konnten, ohne dafür etwas befürchten zu müssen. Deshalb bin ich schließlich nach Amerika gegangen. Ihr Amerikaner, geboren in eurem gesegneten Neuengland, habt eine solche Angst nie erlebt.«

Emil seufzte und blickte nach Westen.

»Deshalb habe ich euer Maine, mein Maine so geliebt. Deshalb habe ich das gehasst, wofür die Konföderierten standen, auch wenn ich mehr als einem Rebellenjungen das Leben gerettet habe, der in einen Krieg verstrickt wurde, an dessen Ausbruch er keine Schuld trug.

Ich war entsetzt, als wir hier landeten und herausfanden, dass wir unter Russen waren – unter Rus –, und atmete richtig auf vor Erleichterung, als ich feststellte, dass sie gar nicht wissen, was ein Jude ist. Für sie bin ich nur ein Yankee unter vielen.« Er lachte selbstironisch. »Umgeben von Shiksas, und sie halten mich für einen der ihren. Können nicht mal den abweichenden Akzent deuten.«

Mina sah ihn an und lächelte.

»Sie sprechen besseres Englisch als viele andere, die ich gehört habe. O’Donalds irischer Akzent klingt zuzeiten schon sehr dick.«

»Genau das, wovon ich rede. Fragen Sie O’Donald danach, wie er den Hungertod seiner älteren Schwester während der irischen Kartoffelfaule miterlebt hat. Er weiß, wovon ich rede, kennt diese schreckliche Angst. Nun, auch die Menschen hier haben sie mit der Muttermilch eingesogen. Angst vor den Bojaren, den Tugaren, der eigenen Kirche. Man brauchte ihnen nur einen ersten Geschmack von einem Leben ohne diese Angst zu geben. Deshalb graben sie hier auch, bis sie vor Erschöpfung tot umfallen. Deshalb werden sie sich den Merki auch am Fluss zum Kampf stellen, auf diesen Ebenen vor uns, in diesen Bergen und notfalls einmal um diesen ganzen verdammten Planeten herum.«

Er unterbrach sich für einen Augenblick.

»Deshalb sind ihre Söhne und Väter zusammen mit Hans gefallen, während sie die ›Batde Hymn‹ sangen.« Ihm erstickte die Stimme.

»Also sagen Sie nicht noch einmal, dass wir diese armen elenden Bastarde den Tugaren hätten überlassen sollen.«

John nickte, während er über die Ebene hinausblickte. Er betrachtete die Schatten der Kumuluswolken, die träge zum Meer hinabtrieben und sich durch die Wärme dieses Frühlingstages nach einer Regennacht kräftig aufblähten.

»Schwer zu glauben, dass in einem Monat hier Krieg sein wird, so verdammt friedlich wirkt alles.«

»Vielleicht gibt es für Ihre Kinder Frieden«, sagte Emil müde und rappelte sich wieder auf.

»Nebenbei, John: ich habe Lazarettbedarf in Suzdal, Nowrod und Wasima lagern, und ich möchte sofort einen Zug mit höchster Priorität, um sie zu holen!«

John lachte leise.

»Ich wusste ja, dass Sie irgendwann den Knüppel auspacken würden.«

»Das ist mein Job«, sagte Emil und streckte die Hand aus, um John wieder auf die Beine zu ziehen.

»In Ordnung, ich schreibe den Befehl und schicke ihn ab«, sagte John. »Sie erhalten das Material übermorgen.«

Er legte eine Pause ein und blickte nach Süden zu der dunklen Linie aus Erde hinüber, die einst ein Kiefernwald gewesen war. Falls diese Stellung rechtzeitig fertig wurde, würde sie sich als mörderisches Schlachtfeld erweisen.

Über dreißig Kilometer vom Meer bis zum Wald, die Berge an manchen Stellen fast vierhundert Meter hoch. Den Wald hatte man hier direkt im Rücken – man brauchte also nur noch die Bäume zu fallen und aufzustapeln. Der einzige Nachteil bestand in der harten, steinigen Erde, ganz anders als der Lehmboden an der Potomac-Front, der es zum Vergnügen gemacht hatte, Schützengräben auszuheben. In einem Monat konnte hier eine einzelne befestigte Linie entstehen, in drei Monaten regelrechte Bastionen, Rückzugsstellungen und Festungen, die jeden Pass blockierten, der Gebirgshang außerdem in einen Irrgarten aus Verhauen verwandelt. Zeit – immer lief es auf Zeit hinaus.

Er blickte über die Schulter. Knapp hundert Meter hangaufwärts arbeitete eine Gruppe hart. Ein niedriges, doppelwandiges Blockhaus entstand dort und wurde zusätzlich durch Erdaufschüttungen an den Wänden verstärkt. Die Männer kamen gut voran, und wenn das Blockhaus erst mal fertig war, würde es fast jedem Angriff standhalten.

»Wie viel Zeit bleibt uns noch?«, fragte Emil. »Ich war hier oben ohne Verbindung.«

»Sie haben gestern Abend einen schweren Angriff über die Furt vorgenommen und konnten sich vorübergehend auf unserer Seite festsetzen; erst am Morgen gelang es uns, sie zurückzutreiben. Wir haben tausend Mann verloren – das 1. Orel und das 2. Roum wurden schwer getroffen. Ich habe vergessen, es Ihnen zu sagen, aber bis zum Abend wird ein ganzer Zug mit ihren Verwundeten eintreffen.«

Emil nickte geistesabwesend.

»Ich denke, ich lege mich lieber etwas schlafen – es wird eine lange Nacht.«

John schwieg. Seine tiefste Angst war, dass er eines Tages als Patient zu Emil gebracht wurde. Bislang hatte er den Krieg ohne einen Kratzer durchgestanden, aber er hatte schon zu viele Feldlazarette besucht – erfüllt von Schreien, scharrenden Sägen und blitzenden Skalpellen – um etwas anderes als eine urwüchsige Angst vor ihnen zu empfinden. Er sah Emil an und fragte sich, wie ein so sanfter Mann – denn schließlich sprudelte unter dem reizbaren Äußeren ein unerschöpflicher Quell an Güte – mit dem Skalpell in das zerrissene Fleisch so vieler junger Soldaten schneiden konnte. John spürte das Übelkeit erregende Bedürfnis zu fragen, wie viele Arme, wie viele Beine Emil schon amputiert hatte, als er dessen verwitterte Hände betrachtete, die permanent gerötet schienen von den ätzenden Spülungen, mit denen der Doktor Infektionen vorbeugte.

»Angst?«, fragte Emil sanft.

»Nacktes Grauen«, flüsterte John.

»So geht es uns derzeit allen. Eine Zeit lang fürchtete ich, Andrew darin untergehen zu sehen. Ich erkenne die Angst aber auch in Ihnen, Fletcher, Kai und ganz tief sogar in dem jungen Hawthorne.«

»Aber nicht in Pat. Ich denke, er liebt es richtig.«

»Ein tumber Kerl, aber wir brauchen Leute dieses Schlages. Es betrifft jedoch alle anderen von uns. Schon beim ersten Mal hatten wir Angst, nur denke ich, waren wir einfach zu sehr von unseren Aufgaben in Anspruch genommen, um uns Sorgen zu machen. Die Sache vergangenen Sommer, die hat uns völlig überrumpelt. Ich denke, sie hat unsere Zuversicht ein bisschen erschüttert, obwohl wir gesiegt haben. Sie hat uns nervös gemacht. Als dann jedoch die Katastrophe von vor zwei Wochen eintrat, als sie durch uns hindurchbrausten, das hat uns alle bis ins Mark erschüttert und uns deutlich gemacht, dass wir diesmal wirklich geschlagen werden könnten.«

»Ich erinnere mich an diesen Tyrann in meiner Heimatstadt Waterville«, sagte John, und ein Lächeln spielte kurz über seine Züge. »Er hat mich wochenlang verspottet, und ich hatte fürchterliche Angst vor ihm. Schließlich bin ich explodiert, und bei Gott, ich habe die Scheiße aus ihm herausgeprügelt! Und ich habe mich wirklich großartig gefühlt. Als ich am nächsten Morgen zur Schule ging, habe ich ihn mit seinem blauen Auge gesehen. Hinter ihm stand sein großer Bruder, der doppelt so groß war wie ich und mich dermaßen verprügelte, dass es mich fast das Leben kostete.

So ähnlich lief es mit den Tugaren und später den Merki. Ich schätze, dass ich deshalb so viel Angst habe. Was wir hier tun, das ist unser letzter verzweifelter Versuch, Doktor. Wir verlieren ganz Rus, um sie zu besiegen. Und Sie wissen verdammt gut: falls sie diese Linie hier durchbrechen, können vielleicht einige von uns noch nach Roum flüchten, aber wir werden nie zurückkehren. Rus bleibt dann für immer verloren.«

»Und Sie denken, dass es dazu kommt, selbst nach all dem hier?«

John nickte traurig.

»Wissen Sie, mir ist klar, dass Andrew hier ein Spiel spielt«, sagte John und flüsterte nur noch. »Sobald sie durchbrechen und das Land leer vorfinden, werden sie heranstürmen, Nachschub hin, Nachschub her. Ihnen bleibt gar nichts anderes übrig. Sechs Tage nach dem Durchbruch sind sie hier, mein guter Doktor, und wir können verdammt noch mal nichts tun, um sie daran zu hindern.«

»Andrew spricht immer wieder von einem Monat.«

John schüttelte den Kopf.

»Propaganda, eine letzte Hoffnung. Ich bete zu Gott darum, dass wenigstens Andrew selbst weiß: es ist nur ein Traum. Glauben Sie mir, Doktor, diese Bastarde werden mit Mord im Blick anstürmen. Geben Sie mir einen Monat, und ich kann vielleicht einrichten, dass wir hier eine echte Chance haben. Aber ich denke, mein Freund, dass unsere Knochen in einem Monat in den Schlachtgruben verstreut liegen. Nichts wird sie aufhalten, wenn sie erst mal über den Fluss sind.«

»Hoffen wir, dass Sie sich irren«, wisperte Emil, aber John hörte die Angst aus der Stimme des Doktors heraus.

Sie machten sich auf den Rückweg hangabwärts. Ein paar Soldaten eines Pionierregiments salutierten, als die beiden Offiziere an ihnen vorbeigingen, aber die Bauern nahmen kaum Kenntnis von ihnen.

Emil lud John mit einem Wink ein, ihm in seine Unterkunft zu folgen, wobei sie an einer langen Reihe von Zelten mit offen stehenden Klappen vorbeikamen. John blickte aus dem Augenwinkel auf die Feldbetten darin -Verwundete von der Schlacht am Potomac und den unaufhörlichen Scharmützeln am Neiper lagen dort zu Hunderten. Er hatte das Gefühl, es wäre seine Pflicht, für ein paar Minuten hineinzugehen und ein paar aufmunternde Worte an die Männer zu richten, aber aus Angst und Erschöpfung wandte er lieber den Blick ab, obwohl ihn ein Schuldgefühl plagte.

Er hörte leises Stöhnen, Fetzen von Gebeten, das pfeifende Keuchen eines Mannes mit einer Brustwunde, das irre Kichern eines anderen, der zu viel gesehen und dabei den Verstand verloren hatte. John spürte, wie er weiche Knie bekam.

Gott, lass es nie geschehen! Lass es schnell gehen, aber nicht so – nicht wie ein panisches Tier schreiend auf dem Tisch liegen und Emil in die Augen blicken.

Seine Erinnerungen wanderten kurz zu jenem Lazarett nach der Schlacht von Cold Harbor zurück. Der Junge, der vor einem Zelt lag, die Beine an den Hüften amputiert, wie er geschrien, immer nur geschrien hatte.

»Alles in Ordnung, John?«

Er blickte hinüber und sah, dass Emil ihn anstarrte.

»Wie ertragen Sie das nur?«, flüsterte John.

Emil versuchte, sich ein Lächeln abzuringen.

»Gar nicht. Ich versuche einfach, mich an die zu erinnern, die ich wieder zusammenflicken konnte. Die anderen …«

Er wedelte mit der Hand, als wollte er einen üblen Dämon abwehren, und ging weiter.

»Ich sollte lieber ins Depot zurückkehren«, sagte John.

Emil deutete auf sein Zelt.

»Trinken Sie erst etwas.«

»Ich muss einen Zug auf die andere Seite der Berge erwischen. Dort wird der Hochofen für eine vorübergehende Munitionsfabrik errichtet, und ich muss dabei sein.«

»Nehmen Sie sich nur ein paar Minuten.«

John nickte müde. Er zog den Kopf ein, betrat das Zelt und setzte sich auf Emils Feldbett. Emil ging zu einer Holztruhe, holte eine Flasche hervor, goss den Inhalt in einen Becher und reichte ihn John.

John nahm den Becher zur Hand, trank ihn mit einem raschen Schluck aus und seufzte.

»Schmeckt gut. Was ist es?«

»Ein guter Wodka, versetzt mit einem kräftigen Schuss Laudanum. Konnte etwas mit Hilfe des Opiums zusammenmischen, das wir südlich von Roum entdeckt haben.«

»Was zum Teufel haben Sie mir gegeben?«, fragte John langsam.

»Einen guten Schlaftrunk. In ein paar Minuten werden Sie schlafen, mein guter Sir. Anweisung des Arztes. Entweder das, oder ich liefere Sie aufgrund eines Herzanfalls oder Nervenschwäche ins Lazarett ein.«

»Verdammt, ich habe keine Zeit dafür«, flüsterte John.

»Die hat keiner von uns.«

John fluchte matt, als Emil seine Beine aufs Bett hob. Innerhalb weniger Minuten schnarchte er.

»Und auch noch in meinem Bett«, seufzte Emil.

Es lag mehr als einen Tag zurück, dass er selbst zuletzt geschlafen hatte, und er hatte eine lange Nacht vor sich. Amputationen, Schneiden und immer wieder schneiden – und er zitterte innerlich über den roten Preis, den der Krieg seinem Herzen abverlangte. Es schien, als hätte er nie etwas anderes getan.

Er blickte zu seinen Notizbüchern und dem Mikroskop neben ihnen hinüber – seine kostbaren Forschungen über Schwindsucht, Typhus, entzündete Wunden und diesen seltsamen Pilz, den er am Stamm bestimmter Bäume fand und der Infektionen durch bloße Berührung abtötete. All das musste jetzt wieder warten.

Er verließ das Zelt und fand dort Johns Mitarbeiter vor, die geduldig warteten.

»Gehen Sie schon! Sehen Sie verdammt noch mal zu, dass Sie hier verschwinden und eine ruhige Ecke finden, wo Sie schlafen können!«, schrie er und fuchtelte mit den Händen, als wollte er eine Schar verwirrter Gänse verscheuchen. »Kommen Sie morgen früh zurück.«

Die Männer blickten sich gegenseitig an, erst verwirrt, dann beinahe dankbar, ehe sie zu einem Stapel Kisten unter einer Plane hinübergingen und es sich dort bequem machten.

»Ich lasse Ihnen etwas Warmes zu essen bringen«, sagte Emil, wandte sich ab und machte sich auf eine erneute Runde durch das Lazarett. Da lag ein Roumjunge mit einer schrecklichen Bauchwunde. Seit Emil Pat hatte retten können, schickte er am Bauch Verwundete nicht mehr einfach weg, damit sie in einem isolierten Zelt starben. Das Problem war nur, dass eine Amputation gerade mal fünf Minuten dauerte, eine Bauchwunde aber eine halbe Stunde oder länger behandelt werden musste. Er brachte es jedoch einfach nicht mehr fertig, diese Menschen sterben zu lassen. Diesmal hatte er die Wunde mit dem Schimmel abgedeckt und war neugierig darauf, ob sie sich wohl schon infiziert hatte. Vielleicht, wenn Gott es wollte, funktionierte es einfach. Falls das so war, würde er Suchmannschaften in den Wald schicken müssen, um mehr von diesem Schimmel zu sammeln, und er musste alle Feldärzte in der Behandlung von Bauchwunden unterweisen, etwas, worauf er bislang verzichtet hatte.

Er blickte auf und sah, wie sich ein Zug langsam seinen Weg bergab suchte, einen weiteren der riesigen Aerodampfer im Schlepp.

Er schnaubte abschätzig. Wieder eine neue Methode, die sich Menschen ausgetüftelt hatten, um einander umzubringen, dachte er zornig, ehe er in dem Zelt verschwand.

»Ein schöner Tag«, sagte Andrew seufzend und lehnte sich mit dem Rücken an einen Baum.

Aus der Ferne drang ein Geräusch herüber wie von Donnerschlägen an einem Sommerabend, aber er nahm es kaum zur Kenntnis. Licht blitzte über Sudal auf, unweit des Yankeeviertels. Lange Sekunden später brach sich ein dumpfes Krachen an den Hügeln. Er bemühte sich, nicht an Kathleen und Maddie zu denken. Kathleen hielt sich wahrscheinlich im Dom auf und arbeitete dort in der Chirurgieabteilung, zusammen mit etlichen Feldärzten in Ausbildung. Es war eine Vorstellung, bei der ihn fror. Seine Frau, wie sie das gemeinsame Kind stillte und eine Stunde später eine Säge hielt, um im Rahmen einer Schulungslektion einem verletzten Jungen den Arm abzuschneiden. Auf wie unterschiedliche Art man Leben schenken konnte – einmal durch Liebe, obschon auch diese andere Art, die Verstümmelung, ein Ausdruck von Liebe war. Sobald sie damit fertig war, würde sie sich waschen und erneut Maddie in die Arme nehmen.

»Tausendeinhundertdreißig Meter bis zum äußeren Tor«, sagte Andrew und blickte dabei Juri an. »Näher reicht der Wald nirgendwo an die Stadt.«

Juri nickte.

»Ein bisschen weit«, fand er und blickte durch das lange Teleskoprohr.

»Habt Ihr geübt?«, erkundigte sich Andrew.

»Tatsächlich werde ich langsam richtig gut«, antwortete Juri, und eine Spur Stolz klang in diesen Worten durch.

Andrews ganze Hoffnung ruhte auf diesem einen Versuch. Es musste einfach klappen.

»Das versteckte Feld, wo Ihr geübt habt – irgendwelche Probleme?«

Juri schüttelte den Kopf und blickte weiter durchs Teleskop.

»Alles läuft dem Ritual entsprechend«, sagte er schließlich. »Suzdal entspricht dabei der goldenen Jurte eines rivalisierenden Qar Qarth, und ihre Besetzung läuft auf den symbolischen Sturz des Feindes hinaus. Die Tugaren haben bei Orki die große Jurte der Merki erbeutet, und diese Demütigung brennt bis heute in den Herzen der Merki. Sie besagt, dass ein Qarth nicht den eigenen Herdkreis zu beschützen vermag.

Und obwohl Ihr nur Vieh seid, wird es sie vor ein Rätsel stellen, dass Ihr die eigene große Jurte nicht verteidigt.«

»Undjubadi?«

Juri lachte leise, richtete sich aus der Bauchlage auf dem Waldboden auf und lehnte sich an einen Baum.

»Er hat irgendwie geglaubt, die Einnahme von Suzdal wäre das entscheidende Element – wie damals, als Ihr gegen die Tugaren gekämpft habt.«

»Warum machen wir es nicht innerhalb der Stadt?«, fragte Andrew.

Juri schüttelte den Kopf.

»So dumm sind die Merki nicht. Ein volles Umen wird Eure Stadt durchkämmen, ehe Jubadi den Fuß hineinsetzt.«

Andrew nickte.

»Und wenn er feststellt, dass die Stadt verlassen wurde?«

»Ah, er wird wütend sein! Man wird darin den letzten Beweis der Feigheit sehen, die eigenen Jurten zu verlassen und die eigenen Herdkreise ohne Kampf preiszugeben. Unverständlich für einen Merki. Ich wage vorherzusagen, dass sie vorstürmen werden wie Hunde, die Witterung aufgenommen haben. Egal, wie viele Verwüstungen Ihr herbeigeführt habt, er wird zehn oder mehr Umen schnurstracks nach Osten schicken. In fünf Tagen stehen sievorKew.«

»Und wir sind noch nicht bereit«, sagte Andrew. »Es dauert mindestens noch einen Monat, bevor alle sicher evakuiert und die Linien befestigt wurden. Alle unsere tauglichen Männer sind bei der Armee, an der Front, in den Fabriken. Nur der kümmerliche Rest hebt die Gräben aus.«

»An dieser Stelle komme ich ins Spiel«, sagte Juri.

Andrew hätte es lieber gehabt, wenn jemand anderes Jubadi das Argument »vortrug«, wie er das inzwischen nannte. Jedoch kannte niemand die Rituale und den Pomp und die Symbole des Qar Qarth so gut wie Juri. Es musste Juri sein. Den Vorschlag, dass ihn noch jemand begleitete, hatte er rundweg abgelehnt. Und es hatte keinen Sinn, ihm einen solchen Befehl zu geben; außerdem konnte sich Andrew nicht überwinden, um eine freiwillige Meldung für diese Aufgabe zu bitten. Juris Einwand, dass er so gut war wie jeder andere, stach. Alle Hoffnungen ruhten auf ihm.

»Ich sage meinen Leuten immer wieder, dass es Wochen dauern wird, ehe die Merki erneut angreifen.«

Juri lachte in sich hinein und schüttelte den Kopf.

»Da ist der Wunsch der Vater des Gedankens. Jubadi ist kein Dummkopf. Er weiß, dass er für sich eine Katastrophe heraufbeschwört, wenn er wartet, und außerdem werdet Ihr ihn ausmanövriert haben. Das verträgt er nicht gut. Ich wage zu behaupten, dass er träumt, mit dem Fall von Suzdal wäre der Krieg in jeder praktischen Hinsicht vorbei.

Nein, er wird nachsetzen. Und er wird erneut das Hörnermanöver ausführen – zwei Angriffsflügel, einer an der Küste entlang, der andere am Wald entlang, der Kopf in der Mitte. Er hat Euch im Wald in die Flanke fallen können, und er wird es erneut tun.«

Und damit trifft er uns wiederum an der schwächsten Stelle, dachte Andrew, sagte aber nichts.

Ein Schatten lief über sie hinweg, fuhr vom Rand der dichten Wälder über die offenen Hänge am Ufer der Wina hinweg und dann hinauf zu den Festungen an der Nordmauer von Suzdal. Andrew stellte fest, dass es ein schöner Tag war, die Landschaft ein Muster aus Schatten und Licht. Perfektes Wetter für die Aerodampfer, die seit ihrer Niederlage seltsamerweise nicht wieder aufgetaucht waren.

»Andrew Keane, Ihr müsst lernen, wie ein Merki zu denken, falls Ihr siegen möchtet.«

»Ich versuche es«, sagte Andrew und blickte dabei zu dem Mann hinüber, der zu beiden Welten gehörte und zwischen ihnen zerrissen war.

»Und die übrigen Vorkehrungen?«, fragte Juri.

»Die Näherin sagt, dass sie ihre Arbeit abgeschlossen hat.«

Juri lächelte.

»Gut, sehr gut, das wird helfen.«

»Mal angenommen, Ihr lügt?«, fragte Andrew unvermittelt und blickte Juri an. »Mal angenommen, dass alle Eure Worte nur einer mehrfach verschachtelten List dienen, dass sie ein Mittel sind, Eure sichere Rückkehr zu den Merki zu gewährleisten und dabei alle Eure Erkenntnisse über mich mitzunehmen?«

Er blickte an Juri zu mehreren Wachleuten hinüber, die keine sieben Meter entfernt herumstanden. Sie gaben sich uninteressiert, aber doch behielten sie scharf jede einzelne Bewegung Juris im Auge.

»Falls Ihr das vermutet, warum bezieht Ihr mich dann in diesen Plan ein?«

»Weil Ihr der Einzige seid, der überhaupt eine Chance hat, ihn umzusetzen.«

Juri lächelte.

»Ihr werdet es erst erfahren, wenn es geschehen ist«, antwortete der Rus.

Ein Schreckensschrei riss ihn aus dem Schlaf. Aus dunklen Träumen gerissen, war Hulagar sofort auf den Beinen. Er packte das Krummschwert und öffnete die Zeltklappe, als auch schon die Zungenlosen in die kleine Jurte gestürmt kamen. Auf der anderen Seite richtete sich Jubadi auf.

»Ein Traum?«, fragte Hulagar.

Jubadi nickte leicht verlegen.

Hulagar gab den Wachen mit einem Wink zu verstehen, dass sie sich wieder zurückziehen konnten.

Dann nahm er eine Kerze zur Hand und hielt den Docht an die noch schwelende Glut des Herdfeuers in der Mitte der Jurte. Ein matter Lichtschein breitete sich aus. Hulagar ging zu Jubadi hinüber und setzte sich neben ihn, steckte die Kerze in einen Schädel, nahm mit einer fast väterlichen Geste einen Mantel zur Hand und legte ihn Jubadi um die Schultern.

»Ich möchte etwas trinken«, flüsterte der Qar Qarth.

Hulagar streckte die Hand nach einem kleinen lackierten Ständer aus, nahm einen Lederschlauch voll fermentierter Milch zur Hand und reichte ihn Jubadi. Dieser beugte sich zurück, nahm einen tiefen Schluck und reichte Hulagar den Beutel, der selbst einen kleinen Schluck trank, ehe er den Ausguss zuband.

»Eine seltsame Gegend ist das hier«, seufzte Jubadi. »Dieser Wald, die feuchte Kälte, der Regen. Ich hasse es.

In unserem alten Reich spült jetzt die Wärme des mittleren Frühlings über die Steppe, und das Gras würde uns bis zur Taille reichen und bereits eine goldene Färbung annehmen. Hier findet man nur tropfende Bäume und Dunkelheit – man sieht nicht mal den Himmel. Der Gestank von Viehwaffen hängt in der Luft; der Tod treibt unerwartet durch die Bäume, und unsere Krieger sterben im Dunkeln, ohne dass ihnen die Sonne ins Gesicht scheint, wenn sie den Blick zum immer währenden Himmel heben.«

»Wir lassen das hier bald hinter uns«, sagte Hulagar beruhigend.

Jubadi nickte müde, legte sich seufzend zurück, zog den Mantel fester um die nackten Schultern und rollte sich unter der schweren Filzdecke zusammen.

»Erinnerst du dich an damals, als wir noch jung waren? Mein Vater hatte uns losgeschickt.«

»Um den Qarth der Fraqu zur Bestrafung zu holen«, fiel Hulagar ein, teilte die Erinnerung mit dem Freund.

»Und da kam der große Sturm. Du hast ein Loch in den Schnee gegraben, dein eigenes Pferd getötet, um das Loch abzudecken, und den Kadaver aufgeschnitten, um uns zu wärmen.

Es war dein erstes Pferd«, schloss Jubadi.

Hulagar blickte in die Ferne, und eine Spur Trauer trat in seine Augen.

»Du hast mir zur Belohnung tausend geschenkt.«

»Aber sie konnten ihn nicht ersetzen«, entgegnete Jubadi.

»Vergiss nicht, mein Qarth, dass ich damit auch mein eigenes Leben gerettet habe. Mache nicht zu viel daraus.«

»Ich mache mir seit fast zwei Umkreisungen viel daraus.«

Hulagar löste die Schnur vom Ausguss, nahm einen weiteren Schluck fermentierter Milch und bot Jubadi den Schlauch an, der jedoch ablehnte.

»Was hat deinen Schlaf gestört, mein Qarth?«

»Ich habe das schwarze Banner gesehen«, sagte Jubadi und blickte Hulagar in die Augen.

»Träume sind nur Träume«, erwiderte Hulagar ein wenig zu schnell.

Jubadi stieß ein leises, knurrendes Lachen hervor.

»Wenn man sich vorstellt, dass mir ein Schildträger so etwas sagt!«

»Falls du Träume gedeutet haben möchtest, schicke nach Sharg«, schlug ihm Hulagar leise lächelnd vor.

Jubadi schüttelte den Kopf.

»Es würde den alten Scharlatan erschrecken, wenn er hört, dass sein Qarth vom schwarzen Banner geträumt hat. Er hatte nie genug Verstand, den Mund zu halten -die Nachricht würde sich im ganzen Lager verbreiten.«

»Du kennst die Bedeutung dieses Traums so gut wie ich«, sagte Hulagar schließlich.

»Jetzt, da ich mich wieder in der Welt der wirklichen Dinge bewege, verbreitet er nicht mehr das gleiche Grauen wie noch Augenblicke zuvor.«

Er schwieg eine kurze Weile lang.

»War es ein Omen?«

»Möglicherweise, mein Qarth, aber Omen sind Warnungen, keine endgültigen Feststellungen.«

»Aber künden die Sänger des Wissens nicht doch häufig von jenen, die eines Omens wegen von ihrem Weg abwichen, nur um zu erleben, dass es sich allein deshalb erfüllte, weil sie sich von einer Gefahr abwandten, die auf dem alten Weg im Grunde nicht bestand?«

»Eine verwirrende Frage, mein Qarth.«

Jubadi griff nach dem Schlauch, und Hulagar gab ihn ihm. Der Qar Qarth trank einen tiefen Schluck und seufzte.

»Wir sollten eigentlich schon einen Monatsritt östlich von Cartha sein und derzeit auf die niedrigen Hügel mit den schweren roten Blumen reiten. Stattdessen …« Er deutete zum Eingang der Jurte und dem nicht sichtbaren dunklen Wald dahinter.

»Wir haben getan, was wir, wie du weißt, tun mussten. Ich habe daran nie gezweifelt, Jubadi.«

Der Qar Qarth nickte, setzte den Milchschlauch ab und legte sich zurück, die Hände im Nacken verschränkt, dass sich die zottigen Arme seitlich ausbreiteten, die straffen Muskeln gewölbt.

»Das Vieh war fast zu leicht zu bezwingen, wenn man an die Schlacht des vergangenen Sommers zurückdenkt und das, was es mit den Tugaren gemacht hat.«

»Die Tugaren waren Dummköpfe.«

»Trotzdem waren sie gute Krieger. Etwas, was ich nur dir gegenüber einzugestehen bereit bin.«

»Ich fühle mich nicht wohl, wenn ich an Muzta denke. Er widersetzt sich keinerlei Vorschlag. Da scheint kein Stolz mehr zu sein, kein Funke. Er ist viel zu still, so sagt es das Gefühl in meinem Blut.«

»Man sollte ihn im Auge behalten«, sagte Jubadi. »Er wäre ein Dummkopf, falls er glaubte, dass wir, wenn dieser Krieg erst überstanden und das Vieh unterworfen wurde, uns wieder nach Süden den Bantag zuwenden und ihn in unserem Rücken schalten und walten lassen.«

»Ich bin davon ausgegangen, dass so deine Pläne lauteten.«

»Die Kinder und ausgesuchte Frauen, sie kommen mit uns. Was die übrigen Tugaren angeht …« Er brach kurz ab. »… so habe ich ihnen Orki nicht verziehen.«

Er seufzte erneut und schloss die Augen.

»Sind Omen wahr?«

»Es bereitet dir wirklich Sorgen«, stellte Hulagar leise fest.

»Hättest du einen solchen Traum gehabt, würde er dir keine Sorgen machen?«

Hulagar gluckste.

»Vergiss nicht, mein Qarth: solltest du sterben, dann sterbe auch ich an deinem Grab. Ich wünsche dir ein langes, ein sehr langes Leben.«

»Persönliche Anliegen sind es, was uns bewegt, nicht wahr?«

Hulagar lachte und tätschelte den alten Freund am Ellbogen.

»Du hast diesen Krieg gut geplant, mein Qarth. Morgen wirst du am anderen Ufer des Flusses stehen. In einer Woche haben wir ihre große Stadt Suzdal umstellt. In einem Monat ist alles Vieh von Rus entweder tot oder hat sich unterworfen und seine Geheimnisse offen gelegt. Bis zum Mittsommer fallt Roum, und im kommenden Frühjahr wenden wir uns wieder nach Süden zu unseren alten Weidegründen, ausgerüstet mit zehn mal so vielen Viehwaffen wie die Bantag, und sie werden lernen, welches ihr Platz ist. Es gibt keinen Grund zur Furcht.«

»Aber das Unerwartete. Das, hast du gesagt, war stets meine Stärke: das Unerwartete zu erwarten. Auf diese Weise waren wir bislang siegreich; auf diese Weise haben du und ich zwei Umkreisungen lang überlebt, zwanzig große Schlachten, hundert Scharmützel, ein Dutzend Mordintrigen gegen mich. Ich begreife, wie unser Volk denkt; ich verstehe aber nicht, wie das Vieh denkt.«

»Tamukas Schoßtier wird diese Sorgen unnötig machen, sobald die Zeit gekommen ist. Falls nicht, weiß er, was geschieht.«

»Er hätte inzwischen schon handeln müssen.«

»Er wird handeln, wenn er handelt. Unser Viehspion, der im Winter entkommen ist, sagt, dass er noch lebt. Keane hat sich um Rat an ihn gewandt, auf die gleiche Weise, wie du mit jemandem sprechen würdest, der eine Umkreisung lang an Keanes Seite geritten wäre.«

Hulagar schnaubte verächtlich.

»Ich wünschte beinahe, Keane würde am Leben bleiben, anders, als wir es geplant haben. Er macht mich neugierig. Ich hätte ihn gern als Schoßtier.«

»Wie die anderen Gefangenen und diesen Hinsen?«

»Hinsen ist ein Verräter. Wir benutzen ihn, wir belohnen ihn, aber wir würden ihm nie über den Weg trauen. Wenn er einen Fehler macht, wird er wie Cromwell zum Mondfest gehen.«

Jubadi gähnte träge.

»Die Nacht muss schon halb vorbei sein«, seufzte er, streckte sich und rollte sich aufs Neue zusammen.

»Morgen wird ein langer Tag, mein Qarth. Schlaf jetzt.«

Jubadi nickte.

»Glaubst du an Träume?«, fragte er im Flüsterton, und seine Stimme verklang.

Hulagar zog die Decke zu den Schultern seines Qar Qarth hoch und entfernte sich leise, ohne eine Antwort zu geben.

Müde stieg Pat vom Pferd und brummte einen kräftigen Fluch, während er sich das Hinterteil rieb.

»Habe verdammt zu lange nicht mehr im Sattel gesessen!«, raunzte er und blickte sich unter seinen alten Kameraden aus der Vierundvierzigsten um, die heute als sein Stab dienten.

»Eine grausame Tatsache, liebster Major.« Harrigan, ein früherer Geschützkommandeur der Vierundvierzigsten, der mit seinen hellroten Koteletten als Pats Doppelgänger durchgehen konnte, stieg neben ihm aus dem Sattel. Lachend brachte er eine Flasche zum Vorschein.

»Werfen Sie das Ding weg!«, knurrte Pat. »Ich bin ein gottverdammter Lieutenant General, und Sie verfluchter Esel sind ein Brigadier!«

Harrigan deutete eine Bewegung an, als würfe er die Flasche in den Wald, steckte sie aber in die Hosentasche zurück.

Ein Brigadekommandeur der Rus kam aus der Dunkelheit zum Vorschein und salutierte vor Pat, als dieser gerade Anstalten traf, dem Pfad zu folgen.

»Was haben Sie zu melden?«, fragte Pat.

»Sie bereiten sich zum Angriff vor.«

»Nun, sehen wir uns das mal an.«

Der Rus-Brigadier deutete den Pfad entlang, und Pat folgte ihm. Beide Trabanten Waldennias hatten gerade die Vollmondphase hinter sich und erhellten den Wald mit abwechselnden Streifen aus Schatten und Licht. Pat war beim Vollmond an der Furt gewesen, und bei den Schreien der gefangenen Carthas auf der anderen Seite war ihm das Blut in den Adern gefroren, denn es hatte geklungen wie das Wehgeschrei irischer Todesfeen. Als die Morgendämmerung kam, ließen die Merki einen der Gefangenen aufstehen, und Pat erblickte die aus dem offenen Schädel schlagenden Flammen.

Er unterdrückte den Brechreiz, den diese Erinnerung auslöste. Die Rus-Soldaten waren bei dem geschilderten Anblick in Raserei geraten. Wer immer bei den Merki für dieses Schauspiel verantwortlich war, war gewiss ein Dummkopf, wie Pat wohl wusste, denn wenn man jemals Männer provoziert hatte, mit aller Härte bis zum Tode zu kämpfen, dann war es durch diesen Anblick geschehen.

»Ziehen Sie den Kopf ein!«, zischte der Rus-General. »Da drüben werden sie langsam richtig gut in dieser Übung. Manche von ihnen sind mit erbeuteten Gewehren aus unserer Fertigung ausgerüstet.«

Genug, um fast zwei Divisionen auszurüsten, dachte Pat kalt. Wie um das Argument des Rus-Generals zu unterstreichen, musste Harrigan in die Kiefernnadeln abtauchen, als er sich für einen kurzen Blick in die Runde aufrichtete und der Baum neben seinem Kopf von einer Miniekugel aufgerissen wurde.

Die Männer ließen sich in einen Schützengraben hinabgleiten, der sich am Flussufer entlangzog, und folgten dem Graben dann etwa zwanzig Schritte weit zu einer Stelle, wo eine schmale Scharfschützenkerbe zwischen zwei Baumstämmen angelegt war.

Pat spähte vorsichtig durch die Kerbe.

Der Fluss war keine hundert Meter breit, und das Mondlicht hüllte die Leichen von Menschen und Merki am anderen Ufer in geisterhaftes Licht.

Der Lärm zuschlagender Äxte drang vom anderen Ufer herüber. Die Mole reichte erst knappe dreißig Meter in den Fluss und war an der Spitze mit schweren Holzverschanzungen gesichert, aber auch von Zwölf-Pfund-Massivgeschossen zernarbt, die auf Kernschussdistanz hineingejagt waren.

Weiter stromaufwärts sah Pat unaufhörlich Mündungsblitze das Ufer hinauf- und herablaufen, wo beide Seiten einen mörderischen Beschuss aufrechterhielten.

»Sie bauen schon die ganze Nacht lang«, erklärte der General. »Tausende dieser armen Teufel von Carthas müssen im Wald daran arbeiten, die Flöße heranzuschieben, mit denen sie den Strom blockieren möchten.«

Pat nickte.

»Alle Männer auf den Beinen?«

»Haben seit gestern am frühen Morgen nicht mehr geschlafen.«

»Sie sollen sich bereithalten.«

»Was erhalten wir an Unterstützung?«

Pat lächelte.

»Sie planen an der ganzen Front solche Aktionen, achtzig Kilometerweit. Ich erhalte von überallher die gleichen Meldungen. Sie haben sechs Molen wie diese hier im Bau, und es gibt noch ein halbes Dutzend weitere Furten. Die Bastarde schwimmen sogar mit Hilfe von Baumstammen an tieferen Stellen durch den Fluss. Überall bereiten sie so den Angriff vor.«

»Ich mache mir nur Sorgen um mich«, entgegnete der Brigadier.

»Es wird ein langer Tag werden, Ilja. Tut mir Leid.«

»Ein Regiment bis Mitte des Vormittags, mehr verlange ich ja nicht. Verdammt, General, bis dahin sind die Merki schon über den Fluss!«

»Sie sollten es hier lieber nicht zulassen«, sagte Pat leise. »Hinter ihnen wartet ein guter Weg auf die Pferde der Merki. Falls Sie nicht standhalten, brausen sie einfach hindurch.«

»Na, danke für die Unterstützung«, zischte der Brigadier.

»War mir ein Vergnügen, General, war mir ein Vergnügen«, sagte Pat und gab dem Mann einen Klaps auf die Schulter.

Er legte eine Pause ein.

»Ilja.«

Der Rus-General sah ihn wütend an.

»Wir sind darauf angewiesen, dass Sie so lange wie möglich durchhalten, begreifen Sie das? Ich vertraue darauf, dass Sie alles geben, was Sie haben, ehe Sie Ihre Männer zurückziehen.«

»Danke, ich verstehe jetzt.« Die Stimme des Rus-Generals war kalt und klang, als käme sie schon aus der Gruft.

Pat kroch aus dem Schützengraben und weiter hinter die Linie, wobei er sich nicht um den Kugelhagel scherte, der über ihm durch die Bäume prasselte. Schließlich stand er auf und kehrte zu seinem Pferd zurück.

»Der arme Mistkerl hat nicht die Spur einer Chance«, sagte Harrigan auf Englisch.

»Jemand musste die schlechteste Stellung beziehen, und es hat ihn getroffen«, sagte Pat und blickte traurig zum Fluss, als er in den Sattel stieg. »Es ist dieselbe Stelle, wo uns die Tugaren zum ersten Mal in die Flanke fielen. Kein Wunder, dass sie sich daran erinnert haben.«

»Stellen Sie ihm die Reservetruppen zur Verfügung?«

»Sie haben sich acht Kilometer weiter hinten quer über eine Furche eingegraben. Mehr haben wir nicht.«

»Also nicht.«

»Man verstärke nie eine Stellung, von der man weiß, dass sie dem Untergang geweiht ist«, flüsterte Pat. »Wir sind entlang der ganzen Front nur schwach besetzt, und wir müssen den größten Teil der Armee für Kew schonen. Wir erkaufen hier nur Zeit, Harrigan. Zeit! Höchstens acht Kilometer pro Tag durch den Wald – das ist, was Andrew von uns verlangt, und das wird er auch bekommen. Wir brauchen mindestens drei Korps, um in Kew irgendeine Form von Widerstand leisten zu können, und wir brauchen noch zwei Wochen für den Abschluss der Evakuierung. Das heißt, dass dabei noch viele Menschen sterben werden.«

Pat wendete das Pferd und galoppierte davon, und er bemühte sich dabei, die Schuldgefühle in seinem Herzen zu stillen.

Andrew verließ das Hauptquartier und trat damit in das unaufhörliche Tosen der Schlacht. Über ihm flatterte ein Geschoss vorbei und detonierte auf der anderen Seite der Lichtung.

Weniger als einen Kilometer entfernt stieg an der Furt das Donnern zu einem scharfen Crescendo an. Die endlosen Schreie der Merki übertönten sogar das Krachen der Kanonen und das scharfe, durchdringende Knattern der Musketensalven.

Und doch war das nur eine Demonstration.

Andrew senkte den Blick auf die telegrafisch übermittelte Meldung Pats.

»›Jerganin-Furt auf achthundert Metern Breite überschritten. Empfehle Evakuierung des gesamten 2. Korps nach Süden.‹«

Die Merki hatten den Fluss überschritten, am fünfzehnten Tag einer Schlacht, die er gehofft hatte, dreißig Tage lang führen zu können.

Er sank an die Wand eines Eisenbahnwagens. In weniger als fünf Tagen würden Suzdal und das Herz von Rus überrannt sein.

»Die Navagh und Vushka haben den Übergang über den Fluss erzwungen!«

Jubadi blickte zu dem begeisterten Kurier auf und nickte nur kurz.

Er streckte sich müde und wünschte sich, er hätte die Gefechtsrüstung ablegen können, aber er musste nach wie vor das nötige Bild abgeben. Seine Qarths und Umen-Kommandeure grunzten zufrieden über die Neuigkeit.

»Es sind mehr als achtzig Kilometer durch den Wald, von der Furt bis zur offenen Landschaft bei ihrer Stadt Wasima«, gab Muzta leise zu bedenken. »Durchsetzt von tief eingeschnittenen Wasserläufen, steilen Schluchten und Sümpfen. Beim letzten Mal hatten sie nicht genug Leute, um das Gebiet zu halten, und überließen es uns. Diesmal wird es ein harter Kampf, Jubadi.«

»Wir treiben sie trotzdem zurück«, sagte Vuka.

»Und unser Futtervorrat wird knapp«, fuhr Muzta fort. »Pferde können nicht lange im Wald nach Wurzeln scharren. Sie können kein Viehfleisch fressen. Unsere Rösser werden weniger.«

Jubadi bat mit erhobener Hand um Ruhe.

»Wir werden das Land des Viehs besetzen und uns von ihm ernähren.«

»Falls das Vieh noch da ist«, warf Tamuka ein.

Jubadi blickte den Schildträger an.

»Doch nicht wieder deine Vision?«

»Es war eine Vision des Tu; das ist es, wovon ich spreche, mein Qar Qarth.«

Vuka schnaubte verächtlich, wendete das Pferd und trabte davon.

»Wir werden es genau wissen, wenn die Wolkenflieger wieder starten«, mischte sich Hulagar ein. »Sie sind bereit und warten nur noch auf günstigen Wind.«

»Schickt sie hoch, sobald der Wind wechselt!«, bellte Jubadi. »Ich muss es wissen!«

Er blickte zum dunklen, regenschweren Himmel hinauf und fluchte.

Als sein Pferd im Schlamm ausrutschte, zügelte Pat es heftig, und das Tier brach fast zusammen.

»Sie müssen hier bis zur Nacht durchhalten!«, schrie Pat und deutete mit dem Säbel zur Kammlinie über der Schlucht.

Die Männer auf dem Weg nickten, erstiegen die leichte Anhöhe und stellten sich quer zum Pfad auf. Auf der nächsten Kammlinie tauchte ein schlammverspritzter Mob auf, stolpernde Männer, rennende Männer, viele ohne Waffen.

Hinter ihnen wurden höhnische Rufe lauter.

Pat lenkte das Pferd vorsichtig auf den Kamm.

In der Schlucht unter ihm wateten Männer über den Sumpfboden beiderseits des Pfades. Durch Regen und Nebel kaum zu erkennen, kamen einige Merki jetzt über den Kamm gegenüber, einige zu Pferd, die meisten zu Fuß; sie schwenkten Krummschwerter; einige trugen Springfieldgewehre, wieder andere Bögen.

Pat hatte geplant gehabt, die nächste Front acht Kilometer hinter dem Fluss zu halten, aber als sich seine Schuldgefühle schließlich Bahn brachen, hatte er ein Regiment eilig nach vorn geschickt, um den Rückzug von Iljas zerschlagenen Einheiten zu sichern.

Rufe schollen durch den Wald zu beiden Seiten; auf mehreren Kilometern Breite war der Fluss vom Feind überquert worden.

»So schlimm wie damals in Virginia.«

Er blickte hinab und sah einen schwer atmenden Offizier neben seinem Pferd stehen. Er trug den Adler eines Colonels der Rus-Armee und steckte im verblassten Blau einer Nordstaatenuniform, auf der noch die Korporalsstreifen erkennbar waren.

»Verdammt richtig«, stellte Pat trocken fest. »Was ist da oben passiert?«

»Mein Regiment stand rechts von der Furt. Wir haben den größten Teil unserer Munition nur dadurch verbraucht, dass wir auf die armen Carthabastarde schossen, die die Flöße und Balken herüberschoben. Sie haben den Fluss vor der Mole aufgestaut, und innerhalb von Minuten schwärmten die Merki dann herüber. Tausende! Unsere ganze Linie hat sich aufgelöst, Sir.«

»Es musste früher oder später passieren«, sagte Pat, und die Bitterkeit drückte sich in seinem Tonfall aus.

»Sie waren schon dabei, uns einzuschließen, da habe ich meinen Jungs den Rückzugsbefehl gegeben. Wurden ein paar mal abgeschnitten, sind aber jeweils wieder ausgebrochen. Ich habe den Männern gesagt, sie sollten sich direkt nach Süden wenden, zur Straße hin, und wie der Teufel von hier verschwinden.«

Pat nickte.

Eine Salve fuhr krachend die Linie entlang, prasselte in die Merki auf dem Höhenzug gegenüber und bremste ihren Ansturm. Die Männer in der Schlucht liefen aus Leibeskräften, kämpften sich den Hang herauf und schleppten dabei ihre Verwundeten mit. Die Überlebenden liefen durch die Sicherungslinie und setzten ihren Weg gleich fort.

Pat entdeckte den Rus-General und lenkte das Pferd neben ihn.

»Wir haben es versucht, aber es wurden einfach immer mehr!«, keuchte der General.

»Sie haben Ihr Bestes getan.«

»Habe eine halbe Brigade da hinten verloren. Es sollte sich lieber gelohnt haben«, sagte der Mann bitter.

»Hoffen wir es«, pflichtete ihm Pat bei und bot dem Mann etwas zu trinken an.

Der Offizier nahm die Feldflasche zur Hand, leerte sie mit einem tiefen Schluck und warf sie Pat wieder zu.

»Führen Sie Ihre Männer weiter nach Süden«, sagte Pat. »Sammeln Sie sie bei Sonnenuntergang und führen Sie sie in südlicher Richtung hier heraus. Sobald Sie den Wald zurückgelassen haben, nehmen Sie Kurs auf Wasima – ein Zug wird Sie mitnehmen.«

»Und wohin dann? Zu einem weiteren Debakel?«, bellte der General und machte sich, ohne auf Antwort zu warten, auf den Weg den Pfad hinunter.

Die Merki, die von dem frischen Regiment einen Augenblick lang gebremst worden waren, stürmten nun den Hang gegenüber hinab und sangen dabei ihre Clannamen. Sie erreichten den sumpfigen Talgrund und sanken dort knietief ein, kämpften sich aber weiter vor. Der Wald füllte sich mit beißendem Rauch, und Kugeln, die ihre Ziele verfehlt hatten, jagten Schlammfontänen hoch. Der Feind griff erbarmungslos weiter an und stieg dabei über die eigenen Toten.

Direkt den Pfad entlang griff eine schwere Kolonne im Laufschritt an und erreichte den Knüppeldamm, der über den Talgrund führte. Ihre Spitze brach unter Salvenfeuer zusammen, und die hinteren Sektionen ergossen sich über die Seiten des Damms, sprangen über die Leichen ihrer Kameraden hinweg und stürmten den Hang hinauf. Regennasse Bögen jagten träge Pfeile bergan, die aber noch genug Wucht mitbrachten, um Fleisch zu durchbohren. Männer stolperten aus der Frontlinie und umklammerten zitternde Pfeile.

»Die Verletzten, die gehen können, nehmen ihre Gewehre mit!«, schrie Pat. Viel zu viele Waffen gingen auf dem etappenweisen Rückzug durch den Wald verloren.

Pat verfolgte das Geschehen scharf. Das frische Regiment schlug sich ordentlich, und die Reste der zerschlagenen Einheiten waren nun sicher hinter den Linien eingetroffen.

Er ritt zum Regimentskommandeur hinüber.

»In Kürze werden die Merki Ihnen in die Flanken fallen. Schicken Sie zwei Ihrer Reservekompanien zum nächsten Höhenzug hinter uns und sehen Sie zu, dass Ihre Jungs wie der Teufel von hier verschwinden, ehe sie überrannt werden!«

Der Kommandeur nickte wortlos.

Pat wendete das Pferd. Er musste sich immer wieder selbst daran erinnern, dass er kein Feldkommandeur mehr war, sondern die Verantwortung für den gesamten rechten Flügel der Armee trug, volle zwei Korps, die mehr als achtzig Kilometer Wald entlang des Flusses verteidigten. Falls diese Korps zugrunde gingen, gab es in Kew auch nicht mehr viel zu halten.

Er machte sich auf den Rückweg. Ein verwundeter Rus-Soldat kam die Straße entlang gestolpert; Blut lief ihm aus einer Schusswunde im Bein. Pat hielt ihm die Hand hin.

»Steig auf, verdammt!«, bellte er, packte den Mann und zog ihn auf die Hinterbacken des Pferdes. Der Soldat verzog das Gesicht, während er sich zugleich um ein dankbares Lächeln bemühte.

Pat trieb das Pferd zum Galopp. Schlamm spritzte hoch, als es in den Nebel galoppierte.

Der Zug fuhr langsam in den Bahnhof ein, und das Zischen des Dampfes vermischte sich mit dem leichten Nieselregen, dem Überrest eines Sturms, der zwei Tage und Nächte lang getobt hatte.

Müde stieg Andrew aus dem Wagen. Das Empfangskomitee zeichnete sich geisterhaft im Nebel ab, die Umrisse hervorgehoben von zwei Lampen, und die Schirme der Männer glänzten vom Regen.

Eine unheimliche Stille lag über allem. Andrew erinnerte sich so gut an andere Tage auf diesem Bahnhof: als der erste Zug mit Bürgern aus Roum eintraf; der Morgen, als er zum Entsatz der Bundesgenossen aufbrach; oder die Rückkehr vor weniger als drei Wochen nach der Niederlage am Potomac. Jetzt lag eine weitere Niederlage in der Luft. Vor drei Tagen hatte der Feind den Übergang über den Neiper erzwungen. Wenn der kommende Morgen anbrach, würden höchstwahrscheinlich die ersten Späher aus dem Wald sickern und bis zum Einbrach der Nacht Wasima erreicht haben. Wenn die ersten Merki-Einheiten die Bahnlinie erreichten, war allen der Rückzug abgeschnitten, die sich noch westlich von Wasima aufhielten.

»Ich habe schon die Meldungen gelesen«, sagte Kai leise, trat aus der Gruppe hervor und schüttelte Andrew die Hand.

»Unsere Leute haben eine fantastische Schlacht geschlagen, aber ich denke trotzdem nicht, dass wir uns damit genug Zeit erkauft haben«, antwortete Andrew.

»Ist es Zeit aufzubrechen?«, fragte Kai.

Andrew nickte traurig.

»Jeder, der noch in der Stadt ist, muss sie bis morgen verlassen«, sagte Andrew. »Wir lassen eine Brigade bis morgen Abend an der Furt stehen. Sobald es dunkel wird, werden sämtliche Züge abgezogen, um sowohl die Truppen an der Furt aufzunehmen als auch die Soldaten, die sich nach Wasima zurückziehen.

Zwei Regimenter bleiben bis zum Schluss in der Stadt. Sie ziehen sich dann nach Süden zur Küste des Binnenmeeres zurück und werden von Hamilcar und ein paar Panzerschiffen evakuiert. Danach bekommt nur noch Bullfinchs Flottille Suzdal zu sehen, denn sie bleibt die ganze Zeit auf dem Fluss im Einsatz.

Wie haben wir uns bislang geschlagen, John?«, fragte er dann leise und schloss sich der Gruppe an, als diese sich auf den Weg zum großen Platz machte. Eine Granate vom anderen Ufer zog über ihnen ihre Bahn und detonierte in der Luft, Sekunden später gefolgt von einer Salve, die ihre Donnerschläge über den Platz und weiter nach Norden bis ins Yankeeviertel warf.

Andrew war bemüht, sich über diesen Beschuss keine Gedanken zu machen.

»Wir konnten nur halb so viele Lebensmittel hinausschaffen, wie wir gehofft hatten«, antwortete John müde. »Wir mussten zehntausende Tonnen, die wir nicht mehr abtransportieren konnten, in den Scheunen und auf den Feldern verbrennen. Westlich von Wasima konnten wir uns so ziemlich um alle Vorräte kümmern, aber östlich davon, besonders zwischen Nizhil und Kew, liegen vielleicht fünfzigtausend Tonnen noch immer herum. Falls die Merki schnurstracks nach Osten vorstoßen, müssen wir das alles abbrennen.«

»Und die Menschen?«

»Wie etwas aus der Bibel. Eine Völkerwanderung gen Osten, und die Straßen sind förmlich verstopft davon. Die Züge fließen über. Fast alle Menschen von westlich Wasimas sind fort, aber falls die Merki ein scharfes Tempo anschlagen, Andrew, dann fürchte ich, werden doch ein paar hunderttausend erwischt. Verdammt viele Menschen haben noch mehr als hundertfünfzig Kilometer bis Kew vor sich, besonders viele rings um Wasima. Die Nachricht hat manche der abgelegenen Regionen erst nach Tagen erreicht. Manche der armen Bastarde dort draußen glauben gar nicht an das, was hier passiert, und weigern sich zu gehen, oder sie sind zu spät aufgebrochen. Gut fünfzigtausend Menschen haben sich an der Küste gesammelt. Hamilcars Galeeren holen sie dort ab und bringen sie zum Kennebec, wo sie zu Fuß die Bahnlinie erreichen und einen Zug nach Osten nehmen können.

Manche Menschen versuchen sogar, in den Wäldern unterzutauchen.«

»Vielleicht haben sie Glück und überleben«, warf Kai ein.

»Ich sage Ihnen, es ist wie in diesen Geschichten von den Russen und Napoleon, die Sie ja kennen. Manche Bauern haben sogar ihre Ernte untergepflügt, ehe sie fortgingen. Bäume werden gefallt, um Wege zu versperren. Verdammt, ich habe ein paar Pionierkompanien aufgelöst und die Männer in fast jede Stadt geschickt, damit sie den Menschen dort zeigen, wie man Fallen, richtige Todesfallen anlegt. Ich habe gesehen, wie ein cleverer Mistkerl auf die Idee kam, ein paar Giftschlangen in ein Fass zu stecken, das so aussieht, als könnte es Lebensmittel enthalten. Falls es irgendeinen Merkibastard nicht umbringt, dann wird es ihm auf jeden Fall einen ordentlichen Schreck einjagen.«

John lachte leise, aber die anderen in der Gruppe schüttelten die Köpfe.

»Wir haben etwa fünfhundert defekte Granaten eingesammelt, deren Guss nicht richtig gelungen ist, und trotzdem mit Pulver gefüllt und Perkussionszünder angebracht. Wir vergraben sie hinter uns auf den Straßen. Auch das müsste die Merki aufhalten.«

»Gute Arbeit. Alles, was sie auf dem Weg nach Kew bremst, wird uns nötige Zeit verschaffen und sie weiter schwächen.«

»Sobald sie allerdings durchbrechen, könnten sie in fünf, sechs Tagen am Fuß der Weißen Berge auftauchen«, gab John zu bedenken. »Hätten wir doch nur eine oder zwei Divisionen Kavallerie, könnten wir ihren Vormarsch besser behindern. So aber sind wir auf diese eine Bahnlinie beschränkt. Überall, wo wir uns ihnen entgegenstellen, umgehen sie uns einfach.«

Andrew schwieg, und nach einem lang gezogenen Augenblick der Stille wurde John klar, dass sein Kommandeur dazu nichts zu sagen gedachte.

»Jetzt zu den schlechten Nachrichten. Die Lokomotiven werden knapp. Zehn wurden zerlegt, um als Antriebsquellen für die Fabriken zu dienen. Die ersten Gewehre sind heute aus der Fertigung in Hispania gekommen, und auch Munition wird inzwischen wieder gegossen. Aber zwölf Lokomotiven sind einfach rundweg am Ende – sie werden derzeit in Hispania überholt. Drei mussten wir hinschleppen, die anderen haben es mit knapper Not aus eigener Kraft geschafft. Wir haben das Verkehrsaufkommen eines Jahres jetzt in einem Monat gehabt, Andrew; die Gleise gehen fast schon auseinander.«

»Naja, ich denke nicht, dass wir uns darüber nach dem morgigen Tag noch groß den Kopf zerbrechen müssen.«

»Ich habe Arbeitstrupps über hundert Kilometer westlich von Kew verteilt. Sobald der letzte Soldatenzug vorbeigefahren ist, fangen wir an, die Gleise abzureißen. Bei sechzig Tonnen pro Kilometer sind das sechstausend Tonnen Eisen, genug, um die Waffenschmieden in Gang zu halten – wir können das Material sogar für Befestigungen nutzen.«

»Gut überlegt«, sagte Andrew und rang sich ein Lächeln ab. »Aber geben Sie den entsprechenden Befehl erst, wenn Sie Nachricht von mir erhalten haben.«

»Aber die Ernährung, Andrew, da liegt unser Problem! Im günstigsten Fall stehen dem Volk vierzig Tagesrationen zur Verfügung. Die Versorgung der Armee ist für die nächsten sechzig Tage gesichert, obwohl ich viel nach Hispania schicken musste, wo derzeit noch mehr Lagerhäuser errichtet werden. Emil ist wegen Krankheiten besorgt. Wir haben ziemlich viele Typhusfälle – es verbreitet sich noch immer von Jaroslaw aus, wo wir vergangenen Winter den Ausbruch hatten. Wir haben sogar ein paar Fälle von Pocken. Und viel Schwindsucht bei diesem ganzen Regen.«

»Ein zweifelhafter Segen«, pflichtete ihm Casmar bei.

»Vater, falls Sie ein Gebet für gutes Wetter kennen, wäre ich Ihnen wirklich dankbar.«

»Morgen in der Frühmesse, mein Sohn.«

Andrew nickte dankbar.

Sie hatten den großen Platz erreicht. Die Atmosphäre hier war gespenstisch, die Stadt dunkel und unheimlich, wie es nur eine verlassene Stadt sein kann. Andrew hatte das Gefühl, dass die Geister hier alles übernahmen.

»Wie steht es um die Fabriken?«

»Seit gestern komplett zerlegt und abtransportiert.«

»Und das Material der Regierung?«

»Alles weg«, antwortete Bill Webster. »Die Geldpressen, ein kompletter Güterwagen voller Papier für Bekanntmachungen und Formulare, der übliche Müll, der bei einer Bürokratie anfallt, einschließlich der Akten. Das Gleiche gilt für den Staatsschatz und die öffentlichen Gesellschaften.«

Andrew schüttelte den Kopf. Es war nur schwer vorstellbar, dass mehrere Waggons für derlei Dinge benutzt werden mussten, aber falls sie den Staat jemals neu aufbauen wollten, brauchte man sie noch.

»Was haben wir vergessen?«, fragte Andrew leise.

Der Kreis der Männer blieb einen Augenblick lang schweigsam.

»Eine Möglichkeit, auch unsere Stadt zu retten«, sagte Jaro traurig, einer der Senatoren.

»Ich wünschte, wir könnten es«, flüsterte Andrew und blickte sich auf dem Platz um und zum Dom hinüber. Die wunderbare, von Hawthorne konstruierte Uhr tickte hoch über ihnen die Minuten herunter, die Glockentöne abgeschaltet, damit man sie nicht als Warnung vor einem Angriff durch Aerodampfer missdeutete.

Fanden sie hier, wenn sie später zurückkehrten, nur noch brandgeschwärzte Ruinen vor? Würden sie überhaupt je zurückkehren, oder waren sie zu einem Dasein als Flüchtlinge verdammt wie die Zehntausende von Wanderern, die fortwährend vor den Horden auf der Flucht waren?

»Der endgültige Abzug beginnt morgen, meine Herren. Wir sollten jetzt alle lieber etwas schlafen.«

Andrew blickte nach oben. Die Wolkendecke brach auf; Wind blies aus Südwesten, und das Große Rad zeichnete sich klar am mitternächtlichen Himmel ab.

»Morgen wird ein guter Flugtag für sie«, sagte John. »Sie werden aufsteigen und höchstwahrscheinlich alles entdecken.«

Andrew nickte, wandte sich ab und kehrte allein zu seinem Haus zurück.