Kapitel 1

 

 

»Mein Allerliebster, deine kostbare Tochter und ich denken voller Sehnsucht an dich.«

Er lächelte, als er an den Brief zurückdachte. Zu seiner Zeit als Lehrer am Bowdoin College hätte er die Worte »voller Sehnsucht« auf dem Papier des Schülers durchgestrichen, aber von Kathleen klang es bezaubernd.

Sechs Wochen waren es inzwischen – oder sieben? Er erinnerte sich kaum noch an die Tage, seit er zuletzt vor dem Kamin gesessen hatte, Maddie in den Armen, Kathleen an der Seite, während das Feuer vor ihnen prasselte.

Voller Sehnsucht.

Eine eiskalte Bö fegte über die freie Steppe und trieb nadelscharfe Hagelspitzen vor sich her. Colonel Andrew Lawrence Keane brummte einen Fluch und zog sich das Käppi tief in die Stirn. Verdammte Mützen! Die taugten nichts. Welcher Idiot im Kriegsministerium auch immer diese Dinger für die Nordstaatenarmee bewilligte, er hatte selbst nie in vom Wind gepeitschtem Regen gestanden oder war unter der sengenden Sonne Virginias marschiert. Andrew hatte allerdings noch nie viel davon gehalten, streng auf den Uniformvorschriften zu bestehen, und die meisten Männer des 35. Maine-Regiments warfen die albernen Mützen bei erster Gelegenheit weg und gingen zum breitkrempigen, hohen Hardee über, der hervorragend geeignet war, das Gesicht vor Regen, Schnee und Sonne zu schützen. Als Befehlshaber des Regiments hielt sich Andrew persönlich jedoch an die Armeevorschriften, sogar hier. Alte Gewohnheiten haben gewiss ein zähes Leben, dachte er und schüttelte traurig den Kopf. Jetzt war er Kriegsminister und Vizepräsident der Rus-Republik, und nach wie vor trug er die alte, ramponierte Uniform eines Colonels der Potomac-Armee der US-Nordstaaten.

Marschiert diese stolze Armee nach wie vor?, fragte er sich und empfand einen Hauch Wehmut. Welches Jahr schrieben sie jetzt dort …? Komisch, er dachte gar nicht mehr in Begriffen von »zu Hause«, wenn er an jene Welt zurückdachte. Zu Hause war er hier, in der Stadt Suzdal, der Republik und auf dem Planeten Waldennia.

Fast vier Jahre lag das alles zurück, und somit musste es jetzt gegen Ende 1868 sein. Nein, wahrscheinlich waren der Krieg vorbei und all die Jungs nach Hause gegangen. Die langen, gewundenen Kolonnen in Blau, die Felder voller Lagerfeuer, der schlangenhafte Fluss aus Männern, der sich durch die Landschaft ergoss, all das war inzwischen verschwunden und die Hunderttausend Teile nach Hause zurückgekehrt zu ihren Lieben, abgesehen von den Gefallenen. Und abgesehen von den Überlebenden des 35. Maine-Regiments, die hier im Exil hausten, wo immer das auch war.

Er dachte an einen Marsch zurück, zwei Tage vor Gettysburg, als ein Gewitter über die Kolonnen hereinbrach. Der Himmel verwandelte sich in ein dunkles Schwarzgrün, erhellt von gegabelten Feuerzungen. Andrew blieb damals auf* einem niedrigen Höhenzug stehen und blickte zurück über die Soldatenkolonne, die sich durch das Tal schlängelte. Mit jedem blauen Blitz schien es, als fingen zwanzigtausend Musketenläufe das Licht auf und reflektierten Thors Blitze des Krieges, die den Blick mit ihrem strahlenden Glanz blendeten. Dann rauschte der Regen herab und ertränkte die Welt in Dunkelheit; trotzdem war das Heer weitermarschiert, im Licht der Blitze aufschimmernd, ein elektrischer Körper in blauer Farbe, der sich auf seine abschließende Bestimmung zuwälzte.

Er erinnerte sich an den Klang der Stimmen, die Lieder, die an den Kolonnen entlangtrieben, das Lachen, das mit der Abendluft schwebte, den Triumphschrei, als sie zum Sieg stürmten, die Lobgesänge, die zum Himmel aufstiegen, die Trommelwirbel in der Ferne, den herzerwärmenden Ruf des Horns, der über allem hing, wenn schließlich die Nacht hereinbrach. Wo waren diese Menschen jetzt alle? Wo sind wir?

Er blickte zum Himmel hinauf, wie er es so oft tat, wobei er stets dachte, dass sie irgendwo dort draußen hinter dem Großen Rad waren, das derzeit vom heranjagenden Sturm verborgen wurde. Ist mein altes Land in Sicherheit?, fragte er sich. Lincolns Amtszeit musste sich derzeit dem Ende zuneigen, und bei der Erinnerung an seinen alten Helden lächelte Andrew traurig. Die zweite Amtszeit musste bald vorüber sein und hoffentlich die Vereinigten Staaten als geeintes Ganzes erleben.

»Das alte Land«, so dachte er heute davon, auf die gleiche Art und Weise, wie Hans von Preußen sprach, Pat von Irland und Emil von Ungarn. Und doch war es anders. Er hatte ein Stück Amerika hierher verpflanzt – die »Vereinigten Staaten von Rus«, so nannten sie es jetzt. Sie formten es allmählich zu einem Erinnerungsbild der alten Heimat. In den Wäldern hinter Suzdal fühlte es sich tatsächlich in gewisser Hinsicht wie Zuhause an, wie Maine, besonders im Winter, wenn die riesigen Wälder still dalagen, gekleidet in einen Mantel aus kristallinem Weiß. Dort konnte Andrew alles abschütteln, zumindest in jenen seltenen Augenblicken, wenn er nach Norden in den Wald ritt, um allein zu sein. Dort ähnelte alles so sehr dem Land, in dem er aufgewachsen war – die von Findlingen durchsetzten Wälder, die hoch aufragenden Kiefern, die Schärfe des eisigen Windes.

Gott, wie sehr ich Maine vermisse!, dachte er traurig. Früher einmal war er nur ein Geschichtslehrer in Bowdoin gewesen, im stillen Frieden des Provinzlebens; er hatte Vorlesungen gehalten, in der Bibliothek gelesen, war an der Felsenküste spazieren gegangen und hatte dabei doch immer von etwas geträumt, was jenseits von all dem wartete. Darin lag, wie er wusste, der Reiz eines Lebens als Historiker: in den Träumen von etwas, das in der Vergangenheit lag, und in der Fantasievorstellung, man könnte selbst irgendwie eines Tages eine ähnliche Rolle spielen. Und als sich ihm eine kleine Nebenrolle im gewaltigen Drama des Krieges bot, griff er eilig zu, ohne sich dabei bewusst zu sein, was er alles aufgab. Indem er seinen Traum verwirklichte, verlor er einen anderen Traum.

Natürlich hätte ich mir niemals das vorstellen können, was mich dann erwartete, dachte er mit einem traurigen Lächeln: die letzte Fahrt mit der Ogunquit, das Erwachen in dieser Albtraumwelt. Komisch – heute ertappte er sich dabei, wie er davon träumte, all das könnte wieder vorübergehen und er womöglich einfach daraus erwachen. Aber dann, überlegte er, würde ich alles verlieren: Kathleen, das Baby, Emil, Pat, Hans, Kai und den seltsamen Impuls der Macht, den mir diese Welt verliehen hat, als formte ich allein das Schicksal eines ganzen Volkes. Aber zumindest wusste ich dort draußen, ehe ich fortging, was Frieden war.

Frieden. Er sann über dieses Wort nach, ließ es sich durch den Kopf gehen. Mehr als zwei Jahre Krieg gegen die Rebellen und fast zwei mal so lange hier. Das hinterließ Spuren: obwohl er gerade mal vierzig war, zogen sich graue Strähnen durchs Haar und das Gesicht war voller Falten. Er dachte daran zurück, wie er am Tag vor Antietam ausgesehen hatte, und ihm schien heute, dass er damals noch ein Kind gewesen sein musste, ehe er »den Elefanten erblickte«, wie die Veteranen die erste Schlacht eines Rekruten nannten. Konnte er jemals so jung gewesen sein?

Antietam, Fredericksburg, Gettysburg – lautlos zählte er die Namen ab: Virginia-Wildnis, Cold Harbor, Petersburg, der Bauernaufstand, der Erste Tugarenkrieg, der Roum-Feldzug, die Seeschlacht vor Suzdal, die unaufhörlichen Scharmützel des Winterfeldzuges in den Shenandoah-Bergen; und jetzt der nächste Krieg, wie immer man ihn letztlich auch nennen würde. Er spürte tief in den Eingeweiden, dass dieser Krieg anrückte.

Er drehte den Rücken in den Regen und blickte nach Süden in die gewaltige freie Steppe hinaus, aber in den sturmverwirbelten Nebelschwaden der beginnenden Morgendämmerung war kaum etwas zu erkennen. Trotzdem wusste er, wie es dort aussah, diese gewaltige freie Ebene, die er als vage beunruhigend empfand. War es die Landschaft, waren es die endlosen, niedrigen, leicht ansteigenden Hügel, die sich ins Grenzenlose zu erstrecken schienen und so fremdartig aussahen für jemanden, der aus Neuengland stammte? Oder lag es an der Gefahr, die, wie er wusste, dort lauerte und ihre Macht zurückhielt und nur darauf wartete, dass der Wetterumschwung kam und das erste Gras des Frühlings spross, um zuzuschlagen?

Er wusste, dass sie kommen würden; das war so unleugbar wie der Aufgang der blutroten Sonne. Das verrieten die Informationen, die der verbitterte und fast durchgedrehte Hamilcar von seinen Überfallen in Cartha mitbrachte, seinem verzweifelten Versuch, wenigstens einen Teil seines Volkes zu retten. Die Flüchtlinge, die er mitbrachte, berichteten von den niemals endenden Vorbereitungen, den Gießereien, die Kanonen und immer noch mehr Kanonen ausspuckten. Gewaltige Schuppen wuchsen unmittelbar hinter den Shenandoah-Bergen empor und dienten als Garagen für die Flugmaschinen. Die Horde hatte in Cartha überwintert, und fast eine dreiviertel Million Menschen dort wanderten in die Schlachtgruben, während die Horde ihre Kraft aufbaute, die Umen den ganzen Winter über Manöver abhielten und mit den neuen Waffen übten, befreit vom Kampf gegen die Bantag, von denen es derzeit hieß, dass sie weiter nach Osten zogen.

Die Flüchtlinge berichteten auch vom Schmausen, von den Hunderttausenden, die in die Schlachtgruben wanderten. Der uralte Spruch von den »lediglich zwei von zehn, die für die Tische der Herren sterben«, war schon lange ohne Bedeutung, als planten die Merki, sämtliche Menschen zu verschlingen, die ihnen in die Quere kamen.

Sie würden kommen, wie Andrew wusste, und diesmal würde es ein Kampf bis zur Vernichtung einer Partei werden, ein Ausrottungsfeldzug.

»Wissen Sie, falls Emil Sie so hier draußen sehen würde, träfe ihn der Schlag.«

Andrew drehte sich wieder um und blickte in den treibenden Regen, und er sah Hans Schuder hinter sich stehen, einen tadelnden Ausdruck im Blick.

Andrew sagte nichts und wandte sich ab.

»Was ist mit dem Fieber?«, fragte Hans und trat neben ihn.

»Ist schon in Ordnung.«

Jetzt, wo es zur Sprache kam, bemerkte er, wie krank er sich immer noch fühlte. Ungeachtet des Strebens von Dr. Weiss nach Hygiene, womit sie diese Krankheit in Suzdal beinahe ausgerottet hatten, war der Typhus immer noch ein Bestandteil des Lebens im Armeelager. Andrew bemühte sich, das Zittern zu unterdrücken.

»Junge, warum kehren Sie nicht in Ihre Unterkunft zurück, wo Sie hingehören? Der Zug fahrt bald ein, und Sie sollten ausgeruht sein.«

Andrew lächelte traurig und sah seinen alten Mentor an. Hans Schuders dunkle Augen erwiderten seinen Blick aus einem Gesicht, das von tiefen Furchen durchzogen war und umwallt von einem Bart, der in ein buschiges Grau übergegangen war. Hans rührte sich unbehaglich und entlastete etwas das rechte Bein, Erbe der Verletzung durch die Kugel eines Scharfschützen der Rebellen vor Cold Harbor. Beide trugen sie die Souvenirs ihres Berufes, und einen kurzen Augenblick lang glaubte Andrew beinahe, die Finger der linken Hand zu spüren. »Phantomschmerzen« nannten das die alten Soldaten. Obwohl der Arm direkt über dem Ellbogen amputiert worden war, glaubte er zuzeiten, ihn immer noch zu spüren. Immer wieder mal griff er geistesabwesend an den leeren Ärmel und rechnete beinahe damit, der schon lange verlorene, bei Gettysburg begrabene Arm wäre irgendwie aus dem Staub eines anderen Planeten zurückgekehrt.

Jetzt empfand er dieses Bedürfnis wieder, verbannte es jedoch, und er wusste kaum, dass alle Menschen seiner Umgebung ihn so kannten: wann immer er in Gedanken versunken war, wanderte die rechte Hand hinüber und umfasste den runden Stumpf.

Er blickte erneut Hans an und lächelte matt.

Obwohl Hans inzwischen Kommandeur der suzdalischen Armee war, trug der Sergeant Major wie Andrew nach wie vor die Abzeichen des alten Ranges auf der fadenscheinigen blauen Jacke, derzeit unter einem rissigen und verwitterten Poncho verborgen. Hans war seit Andrews Eintritt ins Militär an seiner Seite, gab ihm Anleitung, brachte ihm das Geschäft des Kommandierens und Tötens bei und trat dann in den Hintergrund zurück, um zu sehen, wie der Mann, den er geschaffen hatte, eine neue Nation aufbaute und den Menschen die Hoffnung auf Befreiung von der Vorherrschaft der Horden bot.

»Ich brauchte einfach etwas frische Luft, Hans«, sagte Andrew schließlich und brach damit das Schweigen. »Ich gehe in ein paar Minuten wieder hinein.«

Hans schnupperte im Wind und erinnerte dabei an einen alten Hund, der eine Spur aufzunehmen versuchte.

»Aus Südwesten kommt bald neuer Regen, und wahrscheinlich wird es gegen Ende des Tages deutlich wärmer werden.«

»Der letzte Schnee dieses Winters, denke ich«, sagte Andrew in Gedanken verloren.

Der Sturm war am Nachmittag zuvor mit voller Wucht ausgebrochen und hatte alle überrascht und die ersten blassgrünen Spuren des Frühlings mit dicken Verwehungen schweren nassen Schnees zugedeckt. Andrew wünschte sich, das wäre immer so weitergegangen und hätte alles unter einer so tiefen Schneeschicht begraben, dass weder Krieger noch Pferd darin vorankamen. Jeder Tag mehr bot ihnen zusätzliche Zeit für ihre Vorbereitungen. Das Jahr war jedoch schon so weit fortgeschritten, dass er zu Hause in Maine von Mitte April gesprochen hätte. Dieser Sturm war höchstwahrscheinlich das letzte Aufbäumen des Winters. Innerhalb eines Monats stand das Steppengras kniehoch. Auf der anderen Seite der Shenandoah-Berge, achtzig Kilometer südlich von hier, war es wohl schon grün, und dort zog sich die vordere Linie der Verschanzungen entlang, an der Grenze zum Reich der Merki.

Das Eis auf dem Potomac war vor zwei Wochen gebrochen. Er hörte das Rauschen des Flusses, dessen Fluten dick und schwer waren vom schlammigen Abfluss des Frühlings. Knapp hundert Meter hangabwärts leckte das Wasser am Rand der vorgeschobenen Schützenlöcher und stürmte über den Felsengrund der Furt. Andrew hatte das Bild der Stellung im Kopf, der Himmel wusste, dass er sie schon seit genug Monaten betrachtete. Hier lag die erste Furt, fünfundsechzig Kilometer weit vor der Meeresküste, und von hier lief der Fluss breit und tief bis zum Meer.

Aber auch diese ganze Linie musste gehalten werden, obwohl sie derzeit nur mit spärlichen Kräften bemannt war. Der Fluss war voller Sandbänke, und somit konnte man ihn, von der Mündung abgesehen, nicht mit den Panzerschiffen befahren. Ließ er ihn jedoch ungeschützt, konnten die Merki übersetzen – Meldungen sprachen davon, dass sie Hunderte leichter Boote gebaut hatten, die als Bauteile für Pontonbrücken geeignet waren. Noch waren fünfundsechzig Kilometer Schützengräben und Schanzen bis hinab zum Meer anzulegen.

Rechter Hand von Andrew lagen, über Hundert Kilometer bis zum Wald verteilt, ein Dutzend weitere Furten, jede davon schwer befestigt, an manchen Stellen drei Befestigungslinien tief. Bis zum Mittsommertag würde sich die Lage jedoch geändert haben, es sei denn, es schüttete bis dahin jeden Tag, worum Andrew fast jede Nacht betete. Wenn der Pegel des Flusses im trockenen Sommer sank und er zu einem schlammigen Bach reduziert wurde, konnte man ihn auf ganzer Länge bis zum Meer überqueren. Bis dahin allerdings hatte Andrew drei weitere Armeekorps einsatzbereit, während sich die Horde gleichzeitig gezwungen sehen würde, sich über ein großes Gebiet zu verstreuen, damit ihre Pferde im dünner werdenden Sommergras ausreichend zu fressen hatten.

Wir haben ihnen dann immer noch die Eisenbahn voraus, dachte er, um einen Gedanken bemüht, der ihn beruhigte: die Eisenbahn ist unsere einzige Hoffnung in diesem Krieg. Er konnte die Strecke in Gedanken nachzeichnen, wie sie von Suzdal zur Neiperfurt verlief und dann am Westufer des Flusses entlang, bis sie fünfzig Kilometer weiter beim Bahnhof Wilderness Station aus dem Wald heraus- und direkt hier herunterführte. Dann gabelte sich die Strecke und lief einerseits am Fluss entlang zum Meer, andererseits in nordwestlicher Richtung am Fluss entlang bis zu Bastion 110, die schon über fünfzehn Kilometer tief im Wald lag. Von Bastion 100 aus lief eine weitere Bahnlinie am Waldrand entlang über fünfzehn Kilometer schnurstracks zurück nach Osten und bog schließlich auf den breiten Pfad ab, den die Tugaren früher bis zur Neiperfurt benutzt hatten. Alles in allem hatten sie über Herbst und Winter in aller Eile einen gewaltigen Kreis aus Bahnlinien angelegt, insgesamt fast fünfhundert Kilometer Strecke. Ein strategisches Glücksspiel, das über fünfzehntausend Tonnen der leichten Gleise verschlang, die zehn Pfund auf dreißig Zentimetern wogen.

Und direkt voraus lagen die Shenandoah-Berge.

Oh Shenandoah, ich lechze nach deinem Anblick!

Voller Sehnsucht!

Der Schnee lag zu Hause in Suzdal wahrscheinlich noch höher. Andrew konnte sich Kathleen dort vorstellen, wie sie vor dem Kamin saß und Maddie in den Armen wiegte -Madison Bridget O’Reilly Keane, ein langer Name für ein gerade fünfzehn Pfund schweres schreiendes Menschlein. Diese Vorstellung erfüllte ihn mit einem kalten Schmerz. Nichts wünschte er sich mehr, als sich im Empfangszimmer vor den Kamin zu legen und sich einen ganzen Tag lang mit nichts anderem zu beschäftigen als seiner Tochter, mit Kathleen und stiller Zurückgezogenheit.

Er fing an zu zittern.

»Mein Junge, gehen wir lieber hinein; der Zug ist bald da.«

Andrew sah Hans an. Es lag einige Zeit zurück, dass ihn dieser zuletzt »mein Junge« genannt hatte. Komisch, aber das war ihm beinahe fremd geworden, obwohl Hans immer noch der Mentor war, die Vaterfigur der ersten Zeit. Mit Hans an seiner Seite hatte sich Andrew der erschlagenden Verantwortung gestellt, erst ein Regiment zu führen und dann einen ganzen Krieg als Oberbefehlshaber. Wie fremd ihm der junge Geschichtslehrer geworden war, der einst mit den großen Augen eines Knaben aufbrach, um sich einen Krieg anzusehen! Heute konnte er sich praktisch nicht mehr als irgendjemandes Sohn fühlen.

Hans lächelte traurig.

»Wissen Sie, ich hatte nie einen eigenen Sohn. Zu lange mit der Armee verheiratet, wissen Sie?«

Andrew nickte, sagte aber nichts.

»Ich werde alt, Andrew.«

»Das geht uns allen so.«

»Nein, es geht tiefer. Ich spreche nicht von Rheuma, den Augen, die nicht mehr so scharf sehen, dem lahmen Bein. Ich bin einfach müde. Jetzt weiß ich, was die Leute mit ›alter Soldat‹ meinen.«

Er zögerte, blickte in den wirbelnden Nebel.

»Ich habe ein mieses Gefühl, was das angeht, mein Junge«, flüsterte er.

Er blickte zu Andrew auf und schien erschrocken vom eigenen Eingeständnis.

»Es ist einfach so: egal wie sehr wir uns bemühen, sie greifen einfach immer weiter an. Jedes Mal zeigen sie sich dabei starker und cleverer – als würde es niemals enden.«

Andrew empfand einen inneren Schauder, der über die Kälte hinausging und auch über die vom Typhus herrührende Schwäche. Hans war von jeher der Fels, auf den er seine eigene Kraft als Kommandeur gründete. Und jetzt verwitterte dieser Fels.

Hans wurde still, als wäre er verlegen.

»Reden Sie weiter«, bat Andrew leise. »Ich muss das hören.«

»Ich habe seit Monaten kein Wort mehr darüber verloren, aber jetzt halte ich es für nötig, ehe die anderen zur Abschlusskonferenz hinzukommen. Sie wissen, dass ich nicht viel von dieser Idee einer Potomac-Linie gehalten habe.«

»Es tut mir Leid, dass wir unterschiedlicher Meinung waren«, sagte Andrew.

Die Debatte war zuzeiten hitzig gewesen vor einem Jahr, als die Planungen für diesen Krieg begannen. Das erste Ziel bestand darin, die Eisenbahnlinie bis nach Roum zu bauen – in diesem Punkt waren sie sich vollkommen einig. Ohne die Verbindung nach Roum bestand keinerlei Chance, den Horden standzuhalten. Hans wollte jedoch versuchen, den Neiper zu halten, auch wenn das Gelände nördlich der ersten Furt ein Albtraum für die war, die die Bahnlinie für den Nachschub dorthin zu bauen haben würden. Nächtelang hatten sie über den groben Karten gebrütet, die von den Vermessungsmannschaften angefertigt worden waren. Andrews Einwand lautete, dass keine Rückzugslinie existierte, falls der Neiper verloren ging. Die Potomac-Front liege in der Steppe und biete der Kavallerie der Horden Platz, so lautete Hans’ Argument; diese Front war mit über hundertfünfzig Kilometern viel zu lang, um sie mit ausreichenden Kräften zu besetzen. Letzten Endes musste Andrew einfach den Befehl erteilen. Hans fluchte damals kräftig, salutierte dann jedoch und stürzte sich in die Arbeit. Heute kam es zum ersten Mal seit Monaten wieder zu dieser Debatte.

»Wir können uns nicht erlauben, auch nur eine einzige Schlacht zu verlieren, während die Horden selbst im Fall ihrer Niederlage irgendwann wieder angreifen«, erklärte Hans schließlich und sprach jedes Wort bedächtig aus, als trüge es tatsächlich Gewicht und Gestalt.

»Wir haben die Tugaren besiegt, und es hat beinahe unsere eigene Vernichtung bedeutet. Dann schicken sie die Carthas, und wir siegen erneut um Haaresbreite. Jetzt stehen wir ihnen wiederum gegenüber. Wie viele, hat Juri gesagt? Vierzig Umen? Vierhunderttausend Krieger, bewaffnet mit über vierhundert Feldgeschützen und vielleicht zwanzigtausend Musketen. Sie können fliegen, während uns bislang nicht gelungen ist, auch nur eine einzige motorisierte Flugmaschine vom Boden hochzubekommen.

Beim ersten Mal standen wir Bögen und Lanzen gegenüber, und beinahe hätten sie uns schon damit gekriegt; beim zweiten Mal waren es Panzerschiffe, und jetzt, bei fast der dreifachen Mannschaftsstärke der Tugaren, ist es eine Artillerie wie unsere, ergänzt um diese verdammten Flugmaschinen.«

Er schüttelte den Kopf und wurde still.

Die Flugmaschinen. Zumindest heute würden sie nicht aufsteigen. Bei der letzten Bestandsaufnahme hatten die Merki zwanzig von diesen Dingern gehabt. Eine hatte man abschießen können; genauer gesagt, war der Motor durch irgendetwas ausgefallen. Die Maschine schwebte daraufhin weit auf die Steppe zwischen Suzdal und Roum hinaus und stürzte schließlich ab, als der zigarrenförmige Beutel mit Wasserstoff, der Triebwerk und Mannschaftsabteil trug, in Flammen aufging. Die Informationen, die aus der Sichtung der Wrackteile gewonnen wurden, waren die beunruhigendste Erkenntnis des ganzen Winters.

Die ersten Menschen, die sich dem verbrannten Wrack näherten, wurden innerhalb von Stunden krank und waren innerhalb von Tagen tot. Dabei konnte man, wie Andrew wohl wusste, noch von Glück sagen, dass Ferguson, jenes technische Genie, das so viel zu ihrer aller Rettung beigetragen hatte, nicht in der Nähe war. Er wäre auf jeden Fall auf dem Wrack herumgekrochen, um die Geheimnisse der Maschine zu erkunden, die allem Anschein nach tagelang ohne Treibstoff fliegen konnte. Bevor Ferguson dort auflief, erteilte Emil den strikten Befehl, ihn zurückzuhalten und die Maschine zu vergraben. Ein halbes Dutzend weitere Menschen starben, als sie diesen Befehl ausführten.

Wie die Merki nun an dieses geheimnisvolle Triebwerk gelangt waren, das blieb ein Rätsel. Es war offenkundig allem, was sie bislang zu konstruieren vermochten, weit voraus. Als im Winter Ferguson und mehrere andere zu einem abendlichen Besuch bei Andrew erschienen, einigten sie sich darauf, das Thema des bevorstehenden Krieges an diesem Tag strikt zu vermeiden. Es wurde ein Abend, der erfreuliche Ablenkung bot und Spekulationen über die Welt und die Ursache der Dinge hier. Ferguson war so weit gegangen und hatte die Idee aufgeworfen, dass der Tunnel aus Licht womöglich eine Maschine war, und dabei einen Vergleich zu der Elektrizität gezogen, die durch Telegrafendrähte lief. Falls diese Spekulation zutraf, wer hatte ihn dann gebaut?

Falls solche Dinge auf diesem Planeten verborgen lagen, worauf sonst erhielten die Merki vielleicht noch Zugriff?

»Ferguson wird uns in die Luft bringen«, sagte Andrew jetzt leise.

»Das Pfeifen im Walde hilft vielleicht bei anderen«, entgegnete Hans mit einer Spur Arger im Ton, »aber ich brauche solche Zusicherungen nicht.«

Andrew lehnte sich an die Brüstung, und Hans folgte seinem Beispiel. Nachdenklich kaute Hans auf einem kostbaren Stück Tabak und spuckte den Saft über die Brüstung.

»Wie zum Teufel sollen wir diesmal nur aus der Klemme kommen?«, flüsterte der alte Sergeant Major, und es klang, als spräche er zu sich selbst.

»Wegen der Flugmaschinen?«, fragte Andrew, wusste aber schon, dass das nur ein kleiner Teil dessen war, was Hans auf der Seele lag. »Ferguson arbeitet schon an dieser Idee einer Heißluftmaschine; in einem Monat sind wir in der Luft.«

»Ich meine einfach alles.«

Andrew war erschüttert. Hans war für ihn stets die zentrale Kraftquelle gewesen, die ruhige Quelle der Zuversicht im Hintergrund. Und er erwies sich als der beste aller möglichen Lehrer, indem er Andrew erst das Nötige beibrachte und dann zur Seite trat, obwohl er stets wieder zur Stelle war, wenn Andrew ihn wirklich brauchte, und sei es mit nichts weiter als einem beifälligen Nicken.

Zum Teufel mit ihm!, dachte Andrew. Ich brauchte ihn jetzt, und stattdessen zeigt sich, dass er mich braucht.

»Wir bekämpfen den Feind hier an der Potomac-Linie. Wir haben schon die Ansätze zu einer ersten Rückzugslinie dort hinten an der Station Wilderness und notfalls noch eine am Neiper.«

»Sie sind uns zahlenmäßig mindestens sechs zu eins überlegen, Andrew, und sie können die Beweglichkeit einer Reiterei in die Waagschale werfen. Sie alle sind beritten, etwas, wovon wir nur träumen können.«

»Sie haben John Minas Einschätzung gehört«, wandte Andrew ein. »Das sind vierhunderttausend Pferde, die gefüttert werden müssen, und zwar mit mindestens sechzehn Millionen Pfund Gras pro Tag. Das Fütterungsproblem wird sich für die Merki als Albtraum erweisen. Verdammt, falls die nur ein Fünkchen Verstand besäßen, dann hätten sie in diesem Winter angegriffen, wären notfalls zu Fuß gekommen; aber zumindest sind sie in diesem Punkt vorhersagbar. Die Horde lebt vom und mit dem Pferd.«

»Wenn sie über uns kommen, werden wir glauben, uns hätte ein Wirbelsturm getroffen«, sagte Hans leise. »Jetzt weiß ich, wie sich die Rebellen gefühlt haben. Egal wie viele von uns sie umbrachten, wir sind einfach weiter angestürmt. Wir waren eine der am schlechtesten geführten Armeen der Geschichte – man denke an McClellan, Burnside, Hooker-, und trotzdem sind wir einfach immer weiter angerannt.«

»Womit Sie sagen möchten, dass wir diesmal verlieren werden«, sagte Andrew und bemühte sich um einen Ton, der die Erschöpfung nicht verriet.

Hans blickte ihn an und lächelte müde.

»Seien Sie diesmal auf alles vorbereitet, mein Junge. Seien Sie vorbereitet, hier geschlagen zu werden, auch bei Station Wilderness und sogar bei Suzdal. Seien Sie bereit, in den Wäldern unterzutauchen, falls alles andere verloren ist. Die Merki brauchen unsere Armee nur einmal zu schlagen, denn wir haben keine Reserven. Oh, ich weiß, dass sich die Roum im Drill befinden, aber sie hatten nur sechs Monate Zeit, und die Hälfte ihrer Divisionen wird Musketen mit glatten Läufen führen, weil wir Gewehre nicht schnell genug herstellen können.«

»Hans, Sie glauben das wirklich, nicht wahr?«, fragte Andrew leise.

Hans zeigte ihm ein hartes Gesicht und trat näher heran.

»Sir, Sie haben den Kuss der Götter auf die Stirn erhalten«, sagte Hans. »Speziell den eines tötenden Gottes, der nie den Geschmack der Niederlage gekostet hat. Vielleicht ist der Geschmack der Niederlage jedoch zuzeiten gut für einen Menschen – zu viele Siege schwächen ihn in gewisser Weise.

Womöglich geht es auch darauf zurück, wie ich Sie geschult habe. Ich möchte Sie warnen, Ihnen deutlich machen, dass es diesmal nicht leicht wird. Sie müssen in Bahnen denken, in denen Sie noch nie gedacht haben, denn falls unsere Armee zu zerfallen droht, wird niemand außer Ihnen sie zusammenhalten können. Die Rus sind von vier Jahren Krieg erschöpft – sie werden nicht mehr mit der wilden Entschlossenheit ins Feld ziehen wie beim ersten Mal. Ich denke, die Merki wissen das und werden damit spielen. Diesmal wird es die Hölle.«

»Und Sie möchten mir damit sagen, dass Sie die Hoffnung verloren haben.«

»Ich bin alles einfach zu leid geworden«, sagte Hans, und während er das sagte, wurde Andrew zum ersten Mal richtig bewusst, dass sein Freund langsam alt wurde. Eine leichte Spur von Gebrechlichkeit klang in der Stimme des Sergeants durch. »Wissen Sie, ich hatte ursprünglich gedacht, in meinem Alter wäre ich endlich im Ruhestand. Ich hatte geplant, nach Westen zu ziehen, nach Kalifornien – es gab dort gutes Land –, und vielleicht zu heiraten und ein Geschäft zu gründen, eine Kneipe oder so was.«

Andrew lachte leise.

»Sie, ein Ladeninhaber? Sie sind ein Soldat, Hans; verdammt, ich könnte mir vorstellen, dass Sie schon von Anbeginn der Geschichte an Soldat waren und in hundert Jahren immer noch sein werden. Sie sind der ewige Sergeant.«

»Ich bin auch nur ein Mensch, Andrew.«

»Irgendwie denken diese Leute dort hinten …« Und Andrew deutete über die eigene Schulter. »… sowohl von Ihnen als auch von mir anders.«

»Darin liegt das Problem, Andrew, denn ich bin nicht so.«

»Und ich?«

»Sie können sich nicht erlauben, etwas anderes zu sein, als was Sie jetzt sind; dafür habe ich Sie ausgebildet, dafür hat das Schicksal Sie ausersehen.«

»Kaum ein Trost«, flüsterte Andrew.

»Es ist nicht mehr meine Aufgabe, Sie zu trösten. Darüber sind Sie hinaus. Zeigen Sie auch nur eine Spur von Schwäche bei dem, was uns bevorsteht, und alles fallt auseinander. Gott helfe uns, aber wir brauchen einen solchen Einsatz von Ihnen.«

»Und von Ihnen, Sergeant«, flüsterte Andrew. An wen nur wende ich mich jetzt?, fragte er sich. Sein Inneres war taub geworden. Wo finde ich jetzt weiter Kraft?

»Ich werde mich bemühen«, sagte Hans leise. »Ich zeige nach außen den Draufgänger und schlage weiterhin Köpfe zusammen, wenn es nötig wird. Aber diesmal, Andrew, diesmal spüre ich wirklich kalte Angst, wenn ich an den Angriff der Horden denke, und …« Seine Stimme verklang, als er sich abwandte und wieder über die Brüstung hinausblickte.

Der dünne schrille Ruf einer Zugpfeife, gedämpft vom Sturm, störte Andrews Gedanken, und er wandte sich wieder an Hans.

»Das müssen sie sein.«

Ein beißender Windstoß erhob sich und jagte ihm einige Spritzer kaltes Wasser über den Rücken. Er zitterte.

»Verdammt, mein Junge, ich bin herausgekommen, um Sie wieder hereinzuschleppen, ehe die anderen kommen! Jetzt wird es richtig Ärger geben.«

Hans streckte den Arm aus und legte ihn Andrew schroff und unbeholfen um die Schultern; er drehte ihn um, weg von den Schützengräben und zurück in den peitschenden Sturm. Abgelassener Dampf trat wirbelnd aus dem Nebel hervor und trug den feuchten Geruch von Holzrauch mit. Wie der geisterhafte Schatten eines feuerspeienden Drachens, aus seinem Lager in der Vergangenheit aufgestöbert, glitt die Lokomotive ins Blickfeld, und das Läuten ihrer Glocken ging im Tosen des Sturms beinahe unter. Direkt hinter dem Rangiergleis sah Andrew den Komplex aus Blockhäusern aufragen, der als sein Feldkommandostand diente. Der ganze Ort war schlecht beleuchtet und voller Qualm, und er nahm lieber Kurs auf den einzelnen Fahrgastwaggon, der an der Lokomotive hing. Auf diesen folgte noch eine Anzahl offener Güterwagen, beladen mit Zwölf-Pfund-Feldgeschützen, die frisch aus den Gießereien kamen. Sechs Güterwagen waren es mit insgesamt zwölf Kanonen und ihren Munitionswagen und Protzen, der Wochenausstoß an Napoleonern. Verdammt, sie hatten einfach nicht genug Geschütze!

Vor dem Waggon eingetroffen, musterte Andrew ihn voller Zuneigung. Es war der Wagen des Präsidenten, verziert mit den für die Rus typischen Holzschnitzereien, die Seitenwand im Gilbert-Stewart-Stil bemalt mit einem Bild von der Unterzeichnung der Rus-Verfassung. Er konnte sich selbst darauf erkennen, wie er neben Kai stand, beide von ihnen etwas überlebensgroß dargestellt. Überlebensgroß – daran möchten diese Menschen einfach glauben!

Er stieg die Einstiegsleiter hinauf und bemühte sich dabei, nicht die Kontrolle über die müden Beine zu verlieren. Die Tür über ihm wurde aufgerissen.

»Hans, was zum Teufel treiben Sie da eigentlich? Ihn derart draußen herumlaufen zu lassen!«

»Doktor Weiss, ich bin durchaus in der Lage, auf mich selbst aufzupassen, ohne dass Hans das Kindermädchen spielt.«

»Wer’s glaubt!« Emil zog wütend die Nase hoch und trat auf die Plattform, um ihn heraufzuziehen. »Sie sind bleich wie ein Gespenst!«

Emil drückte Andrew die Hand auf die Stirn, brachte deutlich seinen Unmut zum Ausdruck und führte Andrew in den Fahrgastwaggon, nachdem er Hans einen kalten Blick der Missbilligung zugeworfen hatte.

Die stickige Wärme in der Kabine kam wie ein Schock, und Andrew spürte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat. Mit zitternder Hand fummelte er an den Knöpfen seines alten und abgewetzten Armeemantels.

»Gestatten Sie mir, Ihnen zu helfen.«

Andrew blickte hinab, als Kai – Präsident Kalencka – auf ihn zutrat, die Krone seines Zylinderhuts kaum auf Augenhöhe zu Andrew.

»Mit einer Hand pro Person sollten wir beide das gemeinsam schaffen«, sagte Kai fröhlich und blickte hinauf in Andrews Augen.

»Ich habe ein Päckchen Briefe von Kathleen dabei, deren jüngsten sie mir keine vier Stunden zuvor in die Hand gedrückt hat«, erzählte Kai, während er mit geschickten Fingern die Knöpfe von Andrews Mantel öffnete und zugleich Hans dem Colonel aus der regennassen Wolljacke half.

Andrew blickte sich düster um und begrüßte die Anwesenden mit einem Nicken. Auf dem Dach hörte er die Laufschritte des Telegrafisten, der sich in die Leitung einschaltete, Sekunden später gefolgt vom Geklapper der Telegrafentaste in dem kleinen Büro vorn im Wagen. Dort gab man das Verbindungssignal durch und verband diese kleine Gruppe wieder mit dem Netz, diese Architekten des Widerstands der Menschen gegen die unermessliche Macht der Horden.

»Sie haben abgenommen, Andrew.«

»Na ja, Sie haben jedenfalls auch nicht wieder viele Pfunde zugelegt, Sie dickköpfiger Ire«, entgegnete Andrew und rang sich ein Lächeln ab.

Pat O’Donald trat vor und packte Andrews Hand. Beide musterten sich kritisch. Pats Genesung von dem Bauchschuss hatte viel länger gedauert als erwartet, und dabei half auch nicht gerade, dass er sich bei jeder Gelegenheit hinausschlich und gegen Emils Wodkaverbot verstieß. Für jeden Wirt in Suzdal galt das Verbot, an Pat auszuschenken, und dies hatte zur Zerstörung wenigstens einer Kneipe geführt, als dem Artilleristen ein starker Trunk verweigert wurde und sich sein wenig beherrschtes Temperament Bahn brach.

»Sie haben uns Sorgen gemacht, Kumpel«, sagte Pat und half Andrew an den Konferenztisch vorne im Wagen. »Dieser verdammte Doktor …« Er blickte zu Emil hinüber. »… wollte niemandem von uns erlauben, Sie zu besuchen.«

»Eine Quarantäne dient zwei Zielen«, erklärte Emil abwehrend. »Sie soll verhindern, dass sich die Krankheit ausbreitet, und sie soll den Patienten vor tapsigen Besuchern schützen, die an ihm herumgrabschen und in seiner Gegenwart ihren alkoholschweren Atem in die Luft abgeben.«

Pat nuschelte einen gut gelaunten Fluch, adressiert an Emil, ging um den Tisch herum und setzte sich wieder auf seinen Platz.

Andrew sah sich im Rest der lächelnden Gruppe um.

»John, wie geht es der Familie?«

»Naja, Sir, das erste Kind ist unterwegs.«

John Mina sagte das in sehr sachlichem Ton, so, wie er sich stets äußerte, wenn er von etwas anderem sprach als seiner Arbeit als Handels- und Industrieminister – das logistische Genie hinter der Organisation eines Industriestaates, der eine moderne Armee zu unterstützen hatte.

»Dimitri, Wie sieht es in Roum aus?«

Der alte Soldat, heute Stabschef von Vincent Hawthornes Armee der Roum-Allianz, nahm steif Haltung an, noch während ihn Andrew schon mit einer Handbewegung aufforderte, sich zu entspannen.

»So gut, wie realistisch zu erwarten war, Sir«, antwortete er ein bisschen zu laut.

Pat lachte leise und sah dabei den grauhaarigen Rus an, der sich als Gefreiter freiwillig zu Hawthornes ursprünglicher Kompanie gemeldet und dann an der Seite des jungen Quäkers Karriere gemacht hatte.

»Sie klingen ganz nach einem Artilleristen, Dimitri -ein bisschen taub und zu laut.«

Dimitri lächelte und schwieg. Neben ihm saß Julius von den Graca, früher Sklave in Marcus’ Haushalt und heute Konsul im Rat der Plebejer. Andrew lächelte den Mann an, der sich ein wenig befangen umsah. Es war ein politisch kluger Schachzug von Marcus gewesen, Julius als Verbindungsmann herzuschicken. Viel zu viel musste in Roum getan werden, als dass Marcus selbst oder Vincent hätten kommen können, und der Anblick eines ehemaligen Sklaven, der jetzt Roum vertrat, war ermutigend. Das neue Zwei-Kammer-System von Roum – ein Senat für die Patrizier und ein Haus für die Plebs – stellte die radikalen republikanischen Kräfte in Roum und Rus keinesfalls zufrieden, aber Andrew erkannte, dass Vincents Plan der beste war, um einen raschen Übergang in den Ausnahmezustand des Krieges zu gewährleisten und gleichzeitig eine Grundlage für Späteres zu legen – falls es überhaupt jemals so weit kam. Vincent hatte das Argument vorgebracht, dass die industrielle Revolution die Patrizierklasse in kurzer Frist veraltet erscheinen lassen würde, ähnlich der geschrumpften Bedeutung des Oberhauses in England. Obwohl Julius noch ein absoluter Neuling war und ihm Kais Gerissenheit abging, lernte er schnell. Für die Dauer des aktuellen militärischen Ausnahmezustandes war allerdings klar, dass Kai und Marcus nahezu diktatorische Vollmachten ausüben mussten, wobei man Andrew zugestand, dass er ihnen in allen militärischen Fragen noch übergeordnet war.

Andrew fiel ein Kuriosum auf, das seine Leute hier geschaffen hatten. Er hatte stets abgelehnt, sich selbst zu befördern, denn er hätte es überheblich gefunden. Hans, Pat, Vincent und mehr als vierzig weitere Personen waren allerdings auf seinen Befehl hin zu Brigadegeneralen befördert worden, während er nach wie vor Colonel blieb. In jüngster Zeit hatten sie hinter seinem Rücken dieses Problem umgangen. Gewiss gab es Lieutenant Colonels, aber im Fall einer Beförderung zum Regimentskommando hielt Hans den Betroffenen auf dem alten Rang fest, bis er sich zum Brigadekommando hocharbeitete und sich seinen ersten Stern als Brigadier verdiente. So fand man auf ganz Waldennia gerade noch einen Colonel, und das war, ob Andrew es nun gefiel oder nicht, inzwischen de facto der höchste Rang auf dem Planeten.

Andrew blickte zu Bullfinch hinüber, der inzwischen eine Augenklappe trug wie ein Pirat aus alter Zeit. Der Junge hatte sich von seiner schrecklichen Verwundung in der Schlacht von St. Gregor ansonsten gänzlich erholt; so nannte man heute die große Schlacht zwischen den beiden Flotten, nach dem Kap, vor dem sie aufeinander geprallt waren. Andrew musste zugeben, dass diese Verletzung, so schrecklich sie auch gewesen war, dem jungenhaften Lieutenant eine fast kecke Aura verlieh und er heute alle Hände voll zu tun hatte mit den Rus-Mädchen, die dem jungen Admiral der Flotte überall nachzulaufen schienen. Verdammt, wir alle scheinen durch unseren Beruf die eine oder andere Wunde erlitten zu haben!, dachte Andrew trocken.

Neben Bullfinch saß Vater Casmar, Prälat und Richter am Obersten Gericht, der schlichte schwarze Roben ohne Verzierung trug und Andrew jetzt lächelnd zunickte.

»Geht es Ihnen gesundheitlich wieder besser?«

»Danke, Vater, ich fühle mich besser.«

»Als die Nachricht von Ihrer Erkrankung eintraf«, berichtete Kai beifällig, »hat Vater Casmar täglich ein Hochamt für Ihre Genesung gelesen.«

»Die Kraft Ihrer Gebete ist mir zuteil geworden«, sagte Andrew offen.

»Um ehrlich zu sein, waren es Gebete für uns alle, denn ohne Sie, mein lieber Freund, wären wir alle wirklich verloren.«

Andrew sagte dazu nichts, wusste wie immer nach einer solchen Aussage nicht, wie er reagieren sollte.

In der hintersten Ecke der Wagenkabine erblickte Andrew Chuck Ferguson und neben diesem Jack Petracci. Der junge Ingenieur, die treibende Kraft hinter so vielen technischen Innovationen, blickte mit so leuchtenden Augen um sich wie eh und je, als wäre er bereit, ihnen wiederum neue Wunder zu eröffnen. Andrew dachte an die Zeit zurück, als der junge Chuck gerade erst in den Krieg gezogen war, den alten Krieg mit der Potomac-Armee auf der Erde. Damals fand Andrew, dass er den Letzten vor sich hatte, der ein guter Soldat zu werden versprach. Chuck war meist krank und erholte sich jeweils gerade vom letzten Schub einer der zahlreichen Lagerkrankheiten. Wenn er nicht im Lazarett lag, schleppte er sich auf dem Marsch mit, und meist trug dabei Sergeant Barry oder ein anderer die Muskete für ihn. Und doch weigerte sich Chuck hartnäckig, den Dienst zu quittieren. Mehr als einmal bot ihm Andrew einen Platz in der Etappe an, in einer Quartiermeister-Einheit, und jedes Mal antwortete Chuck entrüstet, er gedächte seinen Beitrag zu leisten. Gott sei Dank war er geblieben und hatte überlebt, dachte Andrew und lächelte den Soldaten an, der seit ihrer Ankunft auf diesem Planeten keinen Schuss mehr in einer Schlacht abgefeuert, vielleicht aber mehr als alle anderen zusammen dazu beigetragen hatte, dass ihnen die Schlachtgruben des Feindes erspart blieben.

Auch Hamilcar war hier und schien förmlich mit den Schatten zu verschmelzen. Kai und Hans hatten sich lautstark gegen seine Teilnahme an der Konferenz ausgesprochen, aber Andrew war stur geblieben. Vor gerade mal sieben Monaten war der Mann noch ihr Feind gewesen und hatte sie an den Rand einer Niederlage getrieben. Und doch erwies er sich jetzt womöglich als einer der Schlüssel zum Sieg. Fast vierzigtausend Carthas waren nach Suzdal gezogen und hatten sich an der Grenze zwischen der Republik und Roum an der Küste angesiedelt. Ihre Überfalle auf das alte Heimatland, bei denen sie ihr Volk zu retten versuchten, waren eine stete Quelle des Ärgernisses für den Feind und zugleich eine wertvolle Informationsquelle. Andrew wollte Hamilcar jeden Zweifel daran nehmen, dass man ihn im Bündnis akzeptierte und Cartha heute streng genommen als verbündete Stadt unter feindlicher Besatzung galt. Natürlich wäre das unmöglich gewesen, falls auch Marcus teilgenommen hätte, so tief war die Feindschaft zwischen Roum und dem früheren Feind. Obwohl Hamilcars Hass auf die Merki unübersehbar war, wusste Andrew aber auch, dass der Mann höchstens rudimentäres Rus beherrschte und er nach dieser einleitenden Sitzung nicht mehr dabei sein würde, wenn man Karten und andere geheime Informationen auf dem Tisch ausbreitete.

»Meine Herren, uns stehen zwei lange Tage bevor«, sagte Andrew leise, »also fangen wir lieber an.«

Er nickte dem jungen Steward dankbar zu, der jetzt aus der winzigen Kombüse neben dem Telegrafenbüro kam und ein Tablett voller schwerer Tonkrüge trug, gefüllt mit dem traditionellen dunklen, aromatischen Tee der Rus. Der Steward blickte erst Emil an und wartete auf dessen Nicken, ehe er auch Andrew einen Krug hinstellte.

»Endlich von dieser verdammten Brühe befreit!«, seufzte Andrew.

»Seien Sie aber vorsichtig«, mahnte Emil. »Nicht zu viel Tee, und achten Sie darauf, auch etwas zu essen.«

Andrew fand es unnötig, sich mit dem Doktor zu zanken, da nun ein zweiter Steward ein Holztablett mit dunklem Brot vor ihn stellte. Das Brot war dick mit frischem Käse belegt, ein seltener Leckerbissen für die Rus, da der erste Krieg den größten Teil ihres Viehbestandes vernichtet hatte, der erst jetzt allmählich wieder auf die alte Stärke anwuchs. Kai achtete stets darauf, einer Tafel vorzusitzen, die nicht besser bestückt war als die der normalen arbeitenden Familien von Rus, und mehr als einmal schon hatte Andrew auf seinem Teller nichts weiter vorgefunden als Brot und Butter, die fast schon ranzig war.

»Es verhindert, dass wir alle zu neuen Bojaren werden«, pflegte Kai sie alle zu ermahnen. Es war auch verdammt clevere Politik, wie Andrew ebenfalls wusste.

Andrew schlang die Hände um den Teebecher und saugte die Wärme daraus auf; dann hob er ihn an die Lippen und trank einen Schluck, und ein zufriedenes Lächeln breitete sich in seinem Gesicht aus. Es war sein erster Tee seit fast einem Monat. Was er gerade überstanden hatte, das war sein zweiter Typhusschub gewesen, und er hatte diesmal fast schon geglaubt, es würde ihn umbringen.

Er nahm einen weiteren tiefen Schluck, und der Tee rüttelte seine Sinne wach. Er stellte den Becher ab und blickte sich am Tisch um.

»John, warum fangen Sie nicht an und fassen die Lage für uns zusammen?«

John Mina klappte einen Ordner auf und hob den Blick zu den anderen. Er brauchte die Papiere im Grunde nie, denn die Fakten und Zahlen tanzten unaufhörlich durch seinen Kopf.

»Die Produktion geht derzeit ein wenig zurück. Wir haben ja schon darüber gesprochen. Die Moral liegt am Boden. Fast drei Jahre lang schuften die Leute schon ohne Unterlass, haben dabei zwei Kriege erlebt und sehen jetzt den dritten kommen. Auch der Krankenstand ist gestiegen, um mal einen Anfang zu machen.«

»Das war im Winter zu erwarten«, sagte Emil, und es klang beinahe abwehrend. »Und es war immer noch viel besser, als wenn wir keine Kanalisation angelegt und sauberes Trinkwasser gewonnen hätten.«

»Niemand zweifelt an Ihren Anstrengungen, Doktor«, sagte Kai sanft. »Ohne Ihre Arbeit hätten wir nicht das erreicht, was wir erreicht haben.«

»Ich wies lediglich auf eine Tatsache hin«, entgegnete John. »Nichts weiter, Doktor.«

Emil sagte nichts, aber Andrew wusste, dass sein alter Freund Krankheiten als persönliche Beleidigung auffasste.

»Unsere Artillerie setzt sich aus dreihundertzehn leichten Vierpfündern zusammen, hundertzwanzig Zwölfpfund-Napoleonern und zwölf der neuen Zehnpfund-Geschütze mit gezogenen Parrott-Läufen, die Sprenggranaten verschießen.

Für die Flotte und die Küstenverteidigung haben wir zweiundvierzig Fünfundsiebzig-Pfund-Kanonaden, zwanzig langläufige Fünfundsiebzigpfünder, die von Cromwells Flotte erbeuteten Stücke, und fünfzig auf Drehzapfen gelagerte Vierpfünder für die Galeeren.

Wir haben sechzig Vierpfünder und ein Dutzend Napoleoner auf Spezialwagen für die Luftabwehr montiert, um sie gegen die Ballons einzusetzen; notfalls könnten wir diese wieder demontieren und im Bodenkampf verwenden.

Wir produzieren täglich knapp zweihundert Gewehre vom Springfield-Typ und weitere zweihundert glattläufige Musketen mit Steinschlössern, die von den alten Montagebändern in Rus laufen. Die Roumwerke fangen gerade mit ein paar Dutzend glattläufigen Musketen pro Tag an und zwei Vierpfündern pro Woche. Dieses Tempo dürfte im Laufe des nächsten Monats kräftig ansteigen.«

»Erreichte Gesamtzahlen?«

»Etwas weniger als zwanzigtausend Perkussionsgewehre mit unseren alten Miniekugeln vom Kaliber ‚58, dazu vierzigtausend Steinschlossmusketen, umgebaut zu Miniekugelgewehren für das Kaliber ‚69, und dreißigtausend echte Steinschlossmusketen mit glatten Läufen. Hätten wir nicht beinahe achttausend Gewehre in der Seeschlacht verloren, wären wir in viel besserer Verfassung.«

»Das klingt gar nicht schlecht«, fand Andrew. »Es reicht für sechzehn Divisionen, fünf und ein Drittel Korps sowie zusätzliche Garnisonstruppen und Heimatschutzmiliz.

Immerhin«, fuhr er fort, »haben wir somit nur zehn Divisionen für die hiesige Front. Wir müssen ein volles Korps aus drei Divisionen in Roum stationiert halten, für den Fall, dass die Merki dort angreifen, und ein Reservekorps in Suzdal, das von dort aus sowohl nach Osten wie nach Westen marschieren kann. Das ergibt sechzigtausend Mann für über hundertfünfzig Kilometer Front. Hier draußen werden uns die Horden also an Zahl fast sechs zu eins überlegen sein.«

»Noch ein Monat mehr, und wir haben ein weiteres Korps«, gab John zu bedenken.

»Kaum ausgebildet«, warf Hans ein und blickte zu Dimitri hinüber.

»Wir haben fast vierzigtausend Mann derzeit in der Ausbildung«, sagte Dimitri. »Nur zehntausend davon tragen bislang Waffen – die Angehörigen der Feldbatterien üben mit auf Wagen montierten Baumstämmen. Es dauert mindestens noch zwei Monate, ehe man das 7. Korps in Marsch setzen kann.«

»Die Horden werden uns nicht so viel Zeit lassen – wir haben die Meldungen Hamilcars gehört«, sagte Andrew und deutete mit dem Kopf auf den Cartha-Kommandeur, der sich, obwohl er ein wenig Rus gelernt hatte, fragend zu seinem Dolmetscher umdrehte, als er seinen Namen genannt hörte.

»Noch diesen Monat«, sagte Hamilcar stockend auf Rus, »sobald Pferde hier Gras fressen können. Sie reiten sofort nach dem nächsten Mondfest los; der Mond des Neuen Grasrittes, so nennen sie ihn.«

Als der Begriff des Mondfestes fiel, wurden alle still; jeder hier kannte die Einzelheiten, die Juri Andrew geschildert hatte. Andrew betrachtete Hamilcar. Vielleicht fünfzigtausend Menschen aus seinem Volk würden an jenem Abend sterben.

»Sie haben die verdammten Flugmaschinen, um damit unsere Kräfte auszukundschaften, und wir haben nichts dergleichen«, beschwerte sich Pat mit einem bitteren Unterton.

»Darauf kommen wir noch zu sprechen«, sagte Andrew, der sehr gut wusste, dass Chuck und Jack in diesem Punkt schon mehr Kritik hatten einstecken müssen, als fair war.

Sie alle hier waren zu selbstgefällig geworden und immer davon ausgegangen, einen technischen Vorsprung vor dem Gegner zu behalten, und die Tatsache, dass der Feind Ballons entwickelt hatte, die nicht nur fliegen, sondern nach Belieben in alle Richtungen steuern konnten, hatte sie alle in einen Schockzustand versetzt.

Den ganzen Winter hindurch waren Merki-Flugmaschinen, wann immer das Wetter gut war und kein starker Wind wehte, nach Lust und Laune über den Himmel gezogen, hatten den Bau der Befestigungen kontrolliert und wiederholt Suzdal bombardiert. Der erste Angriff, nur einen Tag nach dem Sieg über die Ogunquit, verwandelte die Pulverfabrik in Schutt und Asche, und die wiederholten Luftangriffe waren zwar mehr ein Ärgernis als eine ernsthafte Gefahr, erwiesen sich jedoch als verheerend für die Moral der Rus, denn die ehemaligen Bauern blickten voller Grauen zu den Merkimaschinen empor. Zwei Angriffe waren sogar gegen Roum vorgetragen worden; die Merki bombardierten dort die Flottenwerft und setzten einen langen Zug kostbarer Güterwagen in Brand, indem sie einen Regen aus kleinen Projektilen abwarfen, die nicht explodierten, sondern brannten.

Andrew lehnte sich zurück und betrachtete die Karte der Potomac-Front, die auf dem Tisch ausgebreitet lag.

»Wie ist die Lage in Ihrem Bereich?«, fragte er und blickte wieder zu John hinüber.

»Bei der Ernährung sieht es noch am besten aus – Gott sei Dank war die Ernte des vergangenen Herbstes besser als erwartet. Bob Fletcher hat als Quartiermeister der Armee Wunder gewirkt. Wir haben für die Streitkräfte einen Hundert-Tage-Vorrat an gepökeltem Rind und Schwein und sogar diesem verdammten Walfleisch, das die Roum so gern essen. Der Zwieback reicht für ein Jahr. In ganz Rus ist die Versorgung bis in die nächste Erntezeit gesichert.

Solange wir uns in der Nähe von Bahnlinien aufhalten, ist es um unseren Transportbedarf gut bestellt. Mit heutigem Stand haben wir achtundsechzig Lokomotiven und knapp siebenhundert Waggons. Wir können zwei Korps ohne große Verzögerung von hier nach Roum schicken und wieder zurückholen. Unser Reservekorps für die hiesige Front hält genug Züge bereit, und die Transportmittel für die beiden übrigen Korps können schnell herangefahren werden. Unser Vorrat an Kupferdraht ist gut, ebenso der an Zink für den Wasserstoff; die Bleivorräte konnten aufgefrischt werden – wir sind dazu übergegangen, die Eisenkugelpatronen, die wir letzten Herbst produzieren mussten, gegen Bleigeschosse auszutauschen.

Ersatzbalken für alle wichtigen Brücken liegen bereit, und wir haben auch zahlreiche vorgefertigte Sektionen für Notreparaturen an den Bahnlinien zur Hand.

An Gusseisen und Stahl herrscht nach wie vor Mangel. Gleisstücke sind fast noch warm, wenn sie schon verlegt werden, und Präzisionswerkzeug, speziell für den Aufbau einer Waffenfabrik in Roum, ist knapp; die nötigen Männer, um es herzustellen, sind allerdings noch knapper. Salpeter ist nach wie vor unser Flaschenhals bei der Pulverherstellung; dabei haben wir jede Mistgrube und jedes Außenklo in Rus regelrecht umgegraben. Ohne Roum wären wir erledigt.«

»Besteht keine Möglichkeit, die Musketenproduktion zu steigern?«, fragte Hans und führte das Gespräch damit auf den Ausgangspunkt zurück.

John schüttelte den Kopf.

»Wir fangen gerade mit einer Fabrik in Roum an – sie wird bis Ende des Monats vielleicht fünfundsiebzig Stück am Tag herstellen. Vergessen Sie nicht, dass wir unmittelbar vor dem Tugarenkrieg auf einer Tagesproduktion von gerade mal hundert waren. Die Schwierigkeit besteht darin, dass wir zwar drei Jahre Zeit hatten, um unsere hiesigen Arbeiter auszubilden, dass wir mit den Roum aber ganz von vorn anfangen. Es ist das alte Problem: wir könnten mehr Leute von Rus nach Roum schicken, um die Leute dort zu schulen, würden damit aber die hiesige Produktion behindern, während es Monate dauert, den Rückstand wieder auszugleichen und einen Nettozugewinn an Produktion zu erhalten.«

»Wäre es denn möglich, noch ein paar Leute in unseren Fabriken einzusparen?«, fragte Kai.

»Wir haben den Roum schon zweihundert Ausbilder geschickt«, antwortete John. »Falls wir mehr abziehen, geht die Produktion noch weiter zurück.«

Andrew blickte zu Kai hinüber, der sich schweigend zurücklehnte und geistesabwesend an einem Jackenknopf herumfummelte, eine Gewohnheit, die stets davon kündete, dass er im Begriff stand, eine Entscheidung zu fallen.

»Wir schicken weitere fünfzig«, sagte Kai leise und hob die Hand, um Einwände Johns zu unterbinden.

Julius hörte sich Dimitris Übersetzung an und nickte dankbar. Diese Entscheidung gehörte zum Bündnisspiel, wie Andrew einsah; sie verloren zwar ein paar hundert Waffen pro Woche auf dieser Seite, gewannen sie aber hoffentlich auf der anderen Seite zurück.

»Können wir diese Leute aus der Fertigung von Spezialwaffen abziehen?«, fragte John. Er sah dabei Chuck an, der gleich Anstalten traf, in die Bresche zu springen und ein weiteres seiner Lieblingsprojekte zu verteidigen.

»Das sieht derzeit vielleicht nach Verschwendung aus«, sagte Chuck ärgerlich, »aber aus solchen Dingen schlagen wir womöglich einen Vorteil!«

»Welche Fortschritte haben Sie dabei vorzuweisen?«, fragte Andrew leise.

»Derzeit habe ich ein halbes Dutzend solcher Projekte laufen. General Hawthorne hat vorgeschlagen, dass wir ein paar Whitworth-Scharfschützengewehre herstellen. Sie sind schon in der Fertigung. Das erste wurde vor zwei Tagen fertig. Ich habe es mitgebracht, falls Sie es sich mal ansehen möchten.«

Andrew nickte, ohne eine Bemerkung zu machen.

Chuck ging zu einem Waffenschrank an der Wand, öffnete ihn und holte einen langen Lederkoffer hervor. Fast liebevoll legte er ihn auf den Tisch, klappte den Deckel auf und holte das Gewehr heraus.

Pat stieß einen beifälligen Pfiff aus, und auch Hans stand von seinem Stuhl auf und kam näher, um sich die Waffe genauer anzusehen.

»Wir hatten kein Originalstück als Vorlage«, sagte Chuck, fast als wollte er sich entschuldigen.

»Ausgezeichnete Arbeit!«, flüsterte Hans, streckte die Hand aus und blickte Chuck an, der lächelnd nickte.

Hans hob die langläufige Waffe hoch.

»Verdammt schwer.«

»Etwas mehr als fünfundzwanzig Pfund«, erklärte Chuck. »Die Waffe ist fast einsfünfundsechzig lang, und der Lauf wurde aus unserem besten Stahl hergestellt. Er weist eine sechseckige Bohrung auf.«

»Eine was?«, fragte Kai und betrachtete das Gewehr mit so etwas wie nervöser Neugier.

Chuck bat mit einem Wink um die Waffe, die Hans widerstrebend herausgab. Chuck legte sie wieder auf den Tisch, sodass Kai sich den Lauf ansehen konnte.

»Der Lauf ist innen nicht rund, sondern sechskantig.«

Aus dem Gewehrkoffer holte er eine sorgsam gefertigte, überformatige Patronenbox aus schwarzem Leder. Er öffnete sie, brach ein Papiersiegel und nahm eine einzelne Patrone heraus, die wie ein langer Bolzen geformt war, an beiden Enden stumpf, sechskantig, die Seiten in einem ganz leichten Winkel zur Längsachse des Schusses.

»Das war der harte Teil. Wir mussten den Lauf perfekt gießen, mit sechs Seiten und einer engen Rotation, etwas mehr als anderthalb Umdrehungen über die Gesamtlänge des Laufs. Das Geschoss, vom Kaliber fünfundvierzig und mehr als anderthalb Zoll lang, musste ganz ähnlich gegossen werden, sodass es auf den Tausendstel Zoll passt. Es ist die beste Präzisionsarbeit, die wir bislang geleistet haben.«

»Fünfzig geübte Arbeiter haben vier Monate darauf verwandt, nur dieses erste Gewehr herzustellen«, stellte John kalt fest und rümpfte die Nase.

»Wir haben bei der Herstellung verdammt viel gelernt«, verteidigte sich Chuck. »Fünfzig Arbeiter sind auf diesem Weg zu Präzisionshandwerkern und Werkzeugmachern geworden, wie wir sie bislang noch nicht ausgebildet hatten.«

»Das wird uns in den nächsten sechzig Tagen aber verdammt viel nützen!«, hielt ihm John entgegen.

»Welche Reichweite hat es?«, fragte Andrew leise.

»Wir müssen erst noch jemanden so weit schulen, dass er richtig damit umgehen kann«, antwortete Chuck.

Er deutete auf das Fernrohr, das sich über den gesamten Lauf erstreckte.

»Das müssen wir noch perfekt justieren – die Seidenfaden für das Fadenkreuz einzuarbeiten, das war eine fürchterliche Plackerei. Ich habe ein Messgerät entwickelt, das bei der Einschätzung der Distanz hilft; dann müssen wir dem Schützen noch zeigen, wie er den Wind einrechnet und auch andere Wetterfaktoren wie die Luftfeuchtigkeit. Es wird dauern, bis diese Schönheit jemanden gefunden hat, der sie zu bedienen versteht.«

»Im Krieg auf der Erde«, erzählte Hans, »habe ich mal von einem Scharfschützen gehört, der mit einem dieser Dinger einen Rebellengeneral auf über anderthalb Kilometer Entfernung niederschoss.«

»Old Uncle John Sedjwick, Kommandeur des 6. Korps, wurde von einem Rebellenscharfschützen mit so einem Gewehr auf über siebenhundert Meter in den Kopf geschossen«, sagte Pat und betrachtete das Gewehr beifällig.

»Das wird aber höllisch viel gegen eine anstürmende Horde nützen, wenn man fünf Minuten braucht, um das verdammte Ding nachzuladen«, warf John ein. »Einen Lauf mit Sechseckbohrung herzustellen, das war eine beschissene Vergeudung von Arbeitskraft und Zeit.«

Andrew blickte ihn an.

»Ich hatte ihn vor sechs Monaten angewiesen, einen Versuch damit zu wagen«, erklärte er leise. »Nicht alles entwickelt sich wie erwartet, aber es lohnt den Versuch trotzdem.«

»Möchten Sie damit weitermachen?«, fragte John.

Andrew musterte die Waffe eine ganze Weile lang.

»Wie viele haben Sie auf dem Band?«

»Dies ist eine Spezialanfertigung, Sir – bislang kein Band. Wir haben außer diesem Gewehr nur zwei weitere hergestellt, aber sie sind weniger gut.«

»Stoppen Sie es vorläufig«, sagte Andrew leise. »Sie haben gute Arbeit geleistet, aber falls einer Ihrer gut ausgebildeten Arbeiter fünfzig Roumer darin schulen kann, Musketen anzufertigen, hilft uns das viel mehr. Dort nehmen wir die Leute her, die wir Marcus schicken.«

Chuck sagte nichts, als wollte er seine Argumente für spätere Auseinandersetzungen aufsparen.

»Was haben Sie mir sonst zu melden?«, fragte Andrew, der sehr wohl wusste, dass irgendwo noch eine Überraschung lauerte, oder er hatte hier kein typisches Chuck-Projekt vor sich.

»Wir haben inzwischen die Gussformen für Sergeant Schuders Sharp-Karabiner fertig und auch die Maschinen für die Fertigung. In drei Monaten kann ich damit anfangen, eine kleine Auflage Hinterladerkarabiner nach dem Vorbild des Modells zu produzieren.«

»Was noch?«

»Wir fertigen bislang hundert Revolver pro Monat für die Offiziere an – sie sind fast so gut wie unsere eigenen Colts. Liebe Güte, Sir, ich verstoße hier draußen wie verrückt gegen Patente!« Er lachte leise vor sich hin.

»Erzählen Sie ihm endlich von diesen verdammten Revolverkanonen!«, raunzte John.

»Revolverkanonen?« Andrew warf Chuck einen fragenden Blick zu, während Chuck John finster musterte. »Mr. Ferguson, ich kann mich nicht erinnern, dass dies je Gegenstand eines unserer Gespräche gewesen wäre.«

»Ich wollte es ja erwähnen, Sir, aber Sie sagten immer wieder, wir sollten uns an die grundlegenden Erfordernisse halten, und John hat mir nicht die Möglichkeit gegeben, jemals ein Wort einzuflechten, wenn ich das Thema ansprechen wollte.«

»Ich bin Ihr direkter Vorgesetzter!«, warf John scharf ein, und sofort wurde Andrew klar, dass es zwischen den beiden schon böses Blut zu diesem Thema gegeben hatte. Als sie damals mit dem Aufbau der Armee begannen, ein Regiment nach dem anderen, war die Verbindung zwischen ihnen noch viel enger. Jetzt war die Mannschaftsstärke weit über ihre kühnsten Träume von vor drei Jahren hinaus angewachsen. Über hundertfünfzig Regimenter waren inzwischen mobilisiert worden und weitere sechzig für die nächsten zwei Monate geplant, da immer mehr Roum-Soldaten ihre Ausbildung abschlossen und unter den Fronteinheiten auftauchten. Das System war inzwischen viel zu komplex für Andrew, um noch alles selbst im Auge zu behalten.

»Nur zu, erklären Sie es schon«, sagte Andrew schließlich leise und warf John einen Blick zu, der den Major aufforderte, seine Einwände für sich zu behalten.

»Nun, Sir, ich halte es für eine tolle Idee«, legte Chuck enthusiastisch los. »Ich habe nun noch nie eine Gatlingkanone gesehen, und ich denke, es geht uns allen so, aber dieser verdammte irre Zahnarzt aus Indiana hat die verfluchten Dinger nun mal erfunden, und ich erinnere mich, wie General Butler sogar zwei davon mitbrachte, um sie vor Petersburg einzusetzen. Also habe ich zunächst ein paar Entwürfe gezeichnet. Die Waffe ist eigentlich recht simpel aufgebaut: sechs Läufe werden durch eine Kurbel gedreht, ganz ähnlich einem Riesenrevolver. Jeder Lauf verfügt über ein eigenes Verschlussstück, und bei der Drehung öffnet sich dieses und erhält ein Geschoss aus einem Munitionstrichter. Die einzelnen Läufe und Verschlussstücke drehen sich weiter, und dabei gleiten die Kugeln in die richtige Position und das Verschlussstück geht hinter ihnen zu. Ein Nocken löst den Schlagbolzen aus, sobald der Lauf in der untersten Position ist, und bei der weiteren Drehung öffnet sich das Verschlussstück aufs Neue und die verbrauchte Patronenhülse wird ausgeworfen. Bei Drehung von Hand spuckt die Waffe ein paar hundert Geschosse pro Minute aus.«

Chuck blickte sich in dem kleinen Raum um, und überall begegnete ihm Schweigen. Andrew ertappte sich dabei, dass ihn die Vorstellung faszinierte – er hatte zwar schon mal davon gehört, aber eine solche Waffe nie ernsthaft in Erwägung gezogen.

»Wir sind ohnehin knapp an Munition – und können jeden Mann gerade mit hundertfünfzig Kugeln ausrüsten. In zwei großen Schlachten geht uns dieser Vorrat womöglich schon aus«, warf John ein. »Schon beim Feldzug des vergangenen Sommers haben wir verdammt viel Munition verbraucht, und noch mehr ging bei der Bombardierung der Pulverfabrik drauf; trotzdem reden Sie hier von einer Maschine, die in zehn Minuten das Salvenpotenzial einer ganzen Brigade verschlingt!«

»Es ist konzentrierte Feuerkraft«, wandte Chuck ein.

»Erzählen Sie ihm auch den Rest!«, verlangte John scharf.

Chuck zögerte.

»Nur zu, Mr. Ferguson. Sie wissen ja, dass ich Sie von jeher in beinahe verdammt jedem Punkt unterstütze.«

»Naja, ich habe mir ein paar Gedanken gemacht, Sir.«

»Das tun Sie doch immer«, schmunzelte Pat und weckte damit beifälliges Lachen rund um den Tisch.

Chuck lächelte dankbar.

»Mit Dampfkraft, Sir, das wäre die naheliegende Entscheidung. Wenn ich die Kanone auf acht oder neun Läufe aufrüste, damit sie die Hitze der schnellen Schussfolge besser verkraftet, und die Kurbel mit einer Dampfmaschine verbinde, könnte ich sie bis auf ein paar Tausend Schuss pro Minute hochfrisieren. Ich dachte dabei an die feindlichen Ballons. Sicher, wir haben schon auf sie geschossen und sogar eine Kanonenkugel durch einen Ballon gejagt, aber er konnte trotzdem nach Hause zurückkehren. Eine dampfgetriebene Revolverkanone könnte das Ding innerhalb von Sekunden völlig zerfetzen. Gegen einen Ansturm der Horde eingesetzt, würde sie sie auf sechshundert Meter in Fetzen schießen.«

Andrew wandte sich wieder John zu, der den Kopf schüttelte.

»Luftschlösser«, wandte John ein. »Ich würde nur zu gern an diese Version glauben, Ferguson, aber Sie haben versäumt zu erwähnen, dass Sie von Kupferpatronen mit Krempen sprechen. Wir stecken aber unser ganzes Silbernitrat und Quecksilberfulminat in die Zündhütchen der Springfieldgewehre und die Revolvermunition. Sie reden hier von Hunderttausenden Kugeln, und die Horde wird in weniger als dreißig Tagen über uns hereinbrechen. Sie möchten Hunderte Arbeiter für ein Projekt abstellen, dass frühestens Ende des Jahres das Tageslicht erblickt. Dabei haben Sie eine Menge hochgradig qualifizierter Arbeiter, die an anderer Stelle gebraucht werden.«

»Darf ich es wenigstens versuchen?«

»Wir haben nicht die Zeit dafür, Chuck«, sagte Andrew widerstrebend.

Er sah bei Chuck Ärger aufblitzen, der sich gegen John richtete. Aber man kam einfach nicht um das krisenhafte Dilemma herum, dem sie sich zu stellen hatten: tausend Gewehre, die sofort verfügbar waren, nützten viel mehr als alle Revolverkanonen der Welt in einem Jahr.

»Wir könnten eine Viertelmillion Mann ins Feld führen, hätten wir nur genug Waffen dafür.«

»Die haben wir nun mal nicht«, wandte Andrew leise ein und blickte zum Fenster hinaus, wo der Sturm nun auf einen bloßen Regenguss zurückgegangen war.

»Das Thema ist abgeschlossen, Chuck«, sagte er sanft. »Aber haben Sie sonst noch etwas für uns?«

»Nur noch die Idee mit den Raketen, aber John ist auch davon nicht übermäßig begeistert.«

»Er tut nur seine Arbeit, Chuck«, sagte Kai beschwichtigend. »Wir sind in einem Wettlauf begriffen, und General Mina ist für die Logistik verantwortlich. Falls wir letztlich nicht ausreichend versorgt sind, besonders im Hinblick auf Waffen, riskiert er damit seinen Hals – genauer gesagt, unser aller Hälse. Sie, Chuck, haben eine Menge Wunder gewirkt, und nachdem wir aufs Neue gesiegt haben, erwarte ich noch mehr davon. Jetzt erzählen Sie mir von dieser Raketengeschichte.«

»Ich habe gerade mal angefangen, mir Gedanken darüber zu machen. Wir wissen, dass die Merki Artillerie herstellen, und zwar jede Menge davon. Wir selbst verfügen über etwa vierhundert Kanonen, sobald die Kämpfe losgehen; das Problem besteht dabei weniger in den Kanonen selbst, als darin, genügend Pferde für den Transport der Geschütze und der Munitionswagen aufzutreiben. Eine Batterie mit sechs Vierpfündern braucht achtzehn Pferde; eine Batterie mit Zwölfpfund-Napoleonern oder den neuen Drei-Zoll-Geschützen braucht über einhundert Pferde – und hier besteht der entscheidende Mangel. Raketen würden uns da einen Vorteil bieten.«

»Die sind einfach fürchterlich«, wandte Pat ein. »In der Frühzeit des Bürgerkriegs erhielten einige Jungs von der 24. New Yorker Batterie solche Geschosse. Sie hatten eine schlimme Zeit damit: die verdammten Dinger trafen nicht mal Scheunentore, und immer wieder mal wendete ein solches Teufelsgeschoss einfach und ging schnurstracks auf unsere eigenen Linien los.«

»Das weiß ich!«, warf Chuck eilig ein. »Aber wir schießen ja nicht auf Scheunentore, sondern auf die ganze verdammte Horde. Ich dachte mir, wir machen die Raketen etwa neunzig Zentimeter lang bei einem Durchmesser von fünfzehn Zentimetern. Sie werden jede etwa zwanzig Pfund wiegen; mit einem Zehn-Pfund-Sprenggeschoss in einer Kugelhülle müssten sie eine Reichweite von über zweieinhalb Kilometern haben.

Der Vorteil ist enorm, wenn man erst mal auf das Gewicht zu sprechen kommt. Ein Napoleoner wiegt mit Protze über eine Tonne. Für das gleiche Gewicht könnten wir einhundert Raketen auf einen Wagen packen. Feuert man das auf ein Umen ab, kann man gar nicht vermeiden, dass man etwas trifft.«

»Und was ist mit denen, die kehrtmachen?«, fragte Pat.

»Wir ducken uns«, antwortete Chuck leise.

Pat schüttelte den Kopf. Andrew blickte seinen Artilleriekommandeur an und überließ ihm die Entscheidung.

»Leicht gesagt, aber Sie haben ja noch nie erlebt, wie so ein Ding auf Sie zurückkommt.«

Chuck reagierte leicht entrüstet.

»Ich habe schon bei Fredericksburg und Cold Harbor ein Kommando geführt«, entgegnete er leise. »Ich weiß, wie das ist, wenn man in feindlichem Artilleriebeschuss steht. Aber selbst wenn eine von zehn Raketen auf uns zurückfallt, werden die übrigen neunzig Prozent dem Feind mörderisch zusetzen.«

»Wissen Sie, Jungchen, das hat durchaus etwas für sich«, räumte Pat widerstrebend ein.

Chuck musterte Andrew gespannt.

»Haben Sie schon eine ausprobiert?«, fragte Hans.

Chuck nickte.

»Und?«

»Naja, Sir, sie hat sich sozusagen von uns entfernt.«

»Hat eine Außentoilette fünfhundert Meter hinter uns hochgejagt – ein schöner Schuss«, warf Jack Petracci ein.

»Danke für die Hilfe, Jack«, nuschelte Chuck.

Andrew schüttelte den Kopf und lachte leise.

»Dann machen Sie nur und sehen mal, was Sie zustande bringen. Aber ich möchte etwas erhalten, womit man zumindest ein Scheunentor trifft – und zwar dasjenige, worauf man auch zielt.«

»Eine Rakete verbraucht aber auch fünfzehn Pfund Pulver«, gab John zu bedenken. »Das ist der Gegenwert von sieben Kugeln für einen Napoleoner.«

»Ich denke, wir können zunächst auf ein paar hundert Pfund verzichten«, sagte Andrew. »Wir konzentrieren uns darauf und stellen auch weiter Revolver her, aber die Karabiner, Scharfschützengewehre und Gatling-Revolverkanonen sind vorläufig gestoppt.«

»Kommen wir jetzt zu den Luftschiffen?«, fragte Kai.

Andrew nickte. Chuck räusperte sich nervös.

»Wir haben drei große Schuppen im Wald nördlich von Roum gebaut, um sie unterzubringen. Bislang sind die Merkiballons nicht dort in der Nähe aufgetaucht. Falls sie uns im derzeitigen Stadium am Boden erwischen, reicht eine aus der Luft abgeworfene Fackel, um uns den Rest zu geben. Drei Hüllen sind bislang fertig und eine weitere in Roum im Bau. Nach wie vor basteln wir allerdings am Triebwerk.«

»Was ist mit dem der Merki?«, wollte Kai wissen.

Chuck schüttelte den Kopf.

»Liegt dort vergraben, wo es abgestürzt ist.«

»Und Sie haben dort nicht herumgesucht?«, fragte Andrew.

»Ich bin neugierig, aber nicht so verrückt«, wandte Chuck leise ein.

»Irgendein Gift musste da drin stecken«, warf Emil ein. »Wir haben ja auch diesen Bericht vorliegen, dass mehrere Merki, die die Maschine früher geflogen haben, eines scheußlichen Todes gestorben sind, wobei ihnen zuerst die Haare ausfielen. Die beiden Merki, die von dem Wrack wegkrochen, erbrachen Blut; alle unsere Leute, die nach dem Absturz zu der Maschine gegangen sind, wurden krank, und sechs sind inzwischen gestorben. Das Gleiche wie bei den Merki: Haarausfall, erbrochenes Blut. Die armen Kerle, die das Ding vergraben haben, liegen entweder immer noch im Krankenhaus oder schon im Grab.«

»Das verdammte Ding liegt im Boden, und dort soll es auch bleiben!«, erklärte Vater Casmar scharf. »Es ist verfluchtes Teufelswerk.«

»Das sehe ich auch nicht anders«, sagte Chuck.

Sie hatten, wie Andrew wusste, einfach nur Glück gehabt, dass“ das Luftschiff weit draußen auf dem Land abgestürzt war und die Effekte dessen, was darin steckte, bekannt geworden waren, ehe Ferguson die Absturzstelle erreichte – obwohl der Tod der Bauern ebenfalls tragisch war. Emils Theorie lautete, dass eine Art Arsenvergiftung vorlag, was den Haarausfall und das Erbrechen erklärte, aber warum in aller Welt sollte man Arsen in eine Maschine einbauen, die ohne sichtbare Treibstoffzufuhr die Merkiballons über den Himmel führte? Die Antriebskraft war gewaltig und wurde von einem Motor erbracht, den Berichten zufolge eine einzelne Person tragen konnte.

»Wie schnell werden wir selbst fliegen?«

Chuck blickte zu Jack hinüber, als suchte er bei ihm Hilfe.

»Ich bin nicht sicher; es hängt alles vom Triebwerk ab. Das Gewicht ist dabei der entscheidende Faktor.«

»Vielleicht hätten Sie sich an eine bewährte Konstruktion halten sollen«, meinte Andrew.

»Sir, damit wären wir nie in die Luft gekommen. Eine Dampfmaschine ist nun mal verdammt schwer, und nicht nur die Maschine selbst, sondern auch das Wasser und die Kohle. Ein Heißluftmotor ist einfach der richtige Weg. Ericsson hat schon vor beinahe dreißig Jahren einen gebaut. Anstatt mit Wasser läuft er mit hoch erhitzter Luft – womit man gleich eine Menge Gewicht einspart. Wir haben auch herausgefunden, wie wir das in der Provinz Caprium entdeckte Öl kochen und daraus eine Art Petroleum gewinnen können – ich denke, so etwas Ähnliches wie Kerosin. Sein Gewicht ist wesentlicher geringer als das von Kohle, und das bei gleichem Energiepotenzial; es ist ein toller Treibstoff.«

»Und die letzten beiden Triebwerke sind explodiert«, wandte John trocken ein.

»Sehen Sie mal, John, auf wessen Seite stehen Sie eigentlich?«, fauchte Chuck gereizt.

»Ich bin derjenige, der die Ressourcen und Arbeitskräfte bereitstellt!«, antwortete John hitzig. »Als ich zuletzt nachsah, hatten Sie über ein Dutzend Projekte im Gang, und Gott allein weiß, dass Sie wohl heimlich noch mehr betreiben, als ich überhaupt ahne; mit all dem sind Tausende Arbeitskräfte beschäftigt. Ich brauche jedoch die grundlegenden Dinge: Gewehre, Gewehre und noch mehr Gewehre sowie die nötige Munition!«

»Möchten Sie nun Aerodampfer, oder möchten Sie sie nicht?«, bellte Chuck und blickte Andrew offen an.

Die Anspannung war für sie alle spürbar, der niemals nachlassende Stress, den es mit sich brachte, all die Schäden aus dem Seekrieg zu beheben und sich auch noch auf den nächsten Angriff vorzubereiten. Allein der Ersatz der verlorenen Lokomotiven und der beschädigten Bahnlinie hatte sie zwei Monate zurückgeworfen. Das raubte allen Kraft.

»Wir brauchen etwas, was wir den Merkimaschinen entgegenstellen können«, mischte sich Kai beschwichtigend ein.

»Es müssen Heißluftmaschinen sein«, verkündete Chuck wie einen Schlusspunkt hinter die Debatte, »denn sonst müssen wir doppelt so große Ballons herstellen, um auch nur einen Mann und eine Maschine in die Luft zu bekommen. Damit wäre die Kiste einfach zu groß, und sie würde sich kaum vom Fleck bewegen. Tatsächlich wäre sie bei jedem Wetter, von völliger Windstille abgesehen, geradezu gefährlich.«

»Auftrieb ist der Schlüssel«, meldete sich Jack Petracci endlich ruhig zu Wort. »Mein letzter Ballon, den wir im Tugarenkrieg verloren haben, konnte an einem kalten Tag kaum mehr als zweihundertsechzig Pfund in die Luft heben. Ferguson und ich haben ein bisschen experimentiert und herausgefunden, dass die Schwerkraft hier etwa fünfundachtzig Prozent des irdischen Wertes betrag, sodass wir dadurch einen kleinen Vorteil haben.

Wir haben bislang zwei Aerodampfer in die Luft gebracht, beide noch ohne Motor. Nach unseren Berechnungen betragt der Auftrieb bei laufendem Motor beinahe achthundert Pfund, genug für einen Ingenieur, um das Ding zu lenken, und einen weiteren, um den Motor zu überwachen, ein paar kleine Bomben abzuwerfen oder, wenn der Dampfer vertäut liegt, einen Telegrafen zu bedienen.«

»Wie schnell wird er sein und welche Reichweite haben?«, erkundigte sich Hans.

Chuck zuckte die Achseln.

»Das bleibt auch für mich ein Geheimnis, bis wir tatsächlich einen fliegen. Das ist für uns alle Neuland. Ich habe einen Aspekt der Konstruktion verändert, und ich denke, das wird sich als hilfreich erweisen.«

»Und das wäre?«, wollte John wissen.

»Wir benutzen weiterhin Wasserstoff für den Auftrieb, eingeschlossen in zwei Taschen am Bug und am Heck. In der Mitte bringe ich eine weitere Tasche an, die mit dem Abgasschornstein der Maschine verbunden wird. Sobald wir den Motor starten, wandert die Heißluft in diese Tasche und wir steigen auf. Sobald wir den Motor abstellen, geht es wieder abwärts. Da wir die heiße Luft ohnehin erzeugen, wieso sie dann nicht nutzen?«

John blickte Jack an und wartete auf dessen Reaktion.

»Es ist gefährlich«, sagte Jack leise. »Falls jemals ein Funke in die Tasche überschlägt und einen Brand erzeugt, dann lebwohl.«

»Das Kerosin funktioniert anders als Kohle oder Holz; es verbrennt funkenlos«, entgegnete Chuck. »Wir haben erfahren, dass die Merki Probleme haben zu steigen und zu sinken, und meist lassen sie eine Menge Gas ab, sodass sie nach jedem Flug die Taschen neu füllen müssen. Sicher werden wir auch Gasverluste erleben, aber nichts wird abgelassen, solange kein Notfall vorliegt. Sobald wir die Taschen abgedichtet und gefüllt haben, bleiben sie, wie sie sind.«

»In diesem Punkt müssen wir uns auf Ihr Urteil verlassen«, sagte Andrew.

»Sie meinen, ich muss es«, warf Jack ein und versuchte sich ein Lächeln abzuringen. »Ich bin der verdammte Testpilot für diese Kiste.«

»Und dabei hat es auch zu bleiben, Chuck!«, erklärte Andrew nachdrücklich. Er wusste, dass Ferguson nur zu gern selbst als Erster seine neuen Spielsachen ausprobierte, aber das ganze Unternehmen war viel zu riskant, um den besten Erfinder und Ingenieur des ganzen Planeten zu gefährden.

Chuck lächelte fast wehmütig, wusste es aber besser, als Einwände zu erheben. Sein persönlicher Stab aus jungen, aufstrebenden Ingenieuren hatte strenge Order von Andrew erhalten, ihren kostbaren Vorgesetzten zu schützen, eine Maßnahme, gegen die sich Ferguson innerlich sträubte, wohl wissend jedoch, dass er keine Chance hatte, sich dagegen zu wehren.

»Jetzt zu anderen Dingen«, sagte Andrew und blickte zu Hans hinüber.

»Die Befestigungen sind fast fertig«, sagte Hans, stand dabei von seinem Stuhl auf und zeigte die Positionen auf der Karte.

»Vom Binnenmeer bis zum Großen Wald haben wir beinahe hundertachtzig Kilometer Befestigungen am Ufer des Potomac angelegt. An den Furten sind diese Linien drei Stellungen tief gezogen: eine Außenlinie auf halber Höhe der Böschung, dann die Hauptlinie auf der Böschung und eine Reservelinie dahinter, um die Bahnlinie zu schützen.

Zugegeben, an manchen Stellen ist diese Front ein bisschen dünn, besonders dort, wo der Fluss zumindest bis zum Ende des Frühjahrshochwassers unpassierbar bleibt. Alle anderthalb Kilometer haben wir jedoch auch dort eine Anlage aus Erdwällen errichtet. An den Furten sind diese Forts größer, gewöhnlich mit zwei Batterien bestückt und mit vorspringenden Bastionen und überlappenden Schussfeldern angelegt. Falls die Merki diesen Weg nehmen, wird der Potomac rot sein von ihrem Blut.«

»Falls«, gab Kai mit Nachdruck zu bedenken. »Wie lautet derzeit Ihre Einschätzung?«

Hans lehnte sich zurück und sah Andrew an.

»Von der Mündung des Binnenmeeres bis an die siebzig Kilometer tief im Binnenland ist die Front sicher. Das Überschwemmungsgebiet ist dort zum größten Teil drei Kilometer breit. Das heißt, sie müssten an den entsprechenden Stellen freies Gelände überqueren und stünden für die ganze Zeit der Flußüberquerung unter Beschuss von den Böschungen, die wir halten.«

»Und die Gefahr vom Meer?«

»Nach den Meldungen unserer Spione …« Er blickte dabei demonstrativ zu Hamilcar hinüber. »… sind wir zur See im Vorteil. Falls die Merki dort einen Sturmlauf probieren, empfangt unsere Flotte sie.«

»Aber ihre Luftkräfte!«, erinnerte John scharf.

»Deshalb brauchen wir ja eigene Aerodampfer«, erklärte Hans und blickte Chuck an. »Die Bombenüberfälle der Merki auf unsere Landziele sind mehr ein Ärgernis als sonst etwas, aber unsere Galeeren zahlen Tribut dafür; darüber hinaus weiß der Gegner, wo wir stecken, und wir wissen es von ihm nicht. Sie bringen die Stellungen unserer Truppen in Erfahrung, haben Karten unserer Befestigungen und wissen, sobald sie angreifen, viel mehr über uns als wir über sie.«

Hans ging am Tisch entlang, stach mit dem Stummelfinger auf die Nordwestflanke und zog eine Linie entlang der über fünfzehn Kilometer, die sich die Befestigungen in den Wald hinein erstreckten, bis sie auf einem steilen Höhenzug endeten, von wo aus die Front für etliche Kilometer im rechten Winkel nach Osten abbog.

»Hier oben werden sie angreifen.«

»Dort haben wir aber auch die stärksten Befestigungen«, sagte Andrew, beinahe als wollte er sich selbst beruhigen. »Der ganze Abschnitt dort ist mit Blockhäusern verstärkt, mit Gräben und Baumverhauen.«

»Und doch ist es diese Stelle, wo sie zuschlagen werden«, wiederholte Hans mit Nachdruck. »Wir müssen irgendwo eine Flanke haben, und dort wird der Schlag niedergehen.«

»Im Wald?«, mischte sich Kai ein. »Hans, wir diskutieren seit dem vergangenen Herbst darüber. Dazu müssten die Merki einen Bogen von mehreren hundert Kilometern in Gegenrichtung zurücklegen. Und die Wälder sind völlig unwegsam, abgesehen von unserer eigenen Festungslinie. Die Flanke dort ist sicher.«

»Eine Flanke bleibt eine Flanke«, entgegnete Hans. »Wir haben die hiesige Verteidigungslinie fast zu gut angelegt. Uns blieb jedoch nichts anderes übrig. Hier unten sind wir hundertfünfzig Kilometer weit in der Steppe. Falls sie irgendwo entlang dieser Front durchbrechen, vernichten sie uns mit ihrer Beweglichkeit. Also haben wir uns hier bis an die Zähne bewaffnet und befestigt, sodass sie zwangsläufig auf unsere Flanke ausweichen werden. Falls sie dort durchbrechen, bringen zwei harte Tagesritte sie zu der Furt, wo wir zuerst auf die Tugaren trafen, und von dort aus überschreiten sie den Neiper einfach weiter flussaufwärts.«

»Sie möchten immer noch, dass wir die vorgeschobenen Stellungen aufgeben und uns am Neiper zum Kampf stellen, was?«, fragte Pat.

»Unsere Kanonenboote können den Fluss bis zur Furt halten«, sagte Hans. »Dahinter könnten wir mit zwei Korps den Fluss auf achtzig Kilometer in den dortigen Wald hinein halten.«

»Das würde bedeuten, auf unserem eigenen Gebiet zu kämpfen«, sagte Andrew leise. »Falls wir irgendwo eine Niederlage einstecken, haben wir den Feind im Land. Falls er Suzdal flankiert, sind wir von Roum und dem Rest unseres Landes abgeschnitten.«

»Womöglich kommt es ohnehin dazu«, sagte Hans in warnendem Tonfall. »Hätte man die Arbeit, die in den Gleisbau hier herunter gesteckt wurde, in eine Linie investiert, die von der Furt aus hundertfünfzig Kilometer am Neiper entlang nach Norden führt, wären wir in Sicherheit.«

»Das haben wir doch schon vor anderthalb Jahren ausdiskutiert«, entgegnete John scharf. »Das Gelände dort ist die Hölle für den Gleisbau und besteht nur aus Bergen und sumpfigen Schluchten. Es ist eine Wildnis, schlimmer noch als die in Virginia. Die Merki werden sich darin verheddern, falls sie je so weit vordringen.

Und außerdem«, ergänzte er leise, »ist nun mal getan, was getan wurde.«

Andrew spürte, wie die alte Erschöpfung wieder in ihn hineinsickerte. Seit dem Ende des Seekrieges war jeder Augenblick von den Vorbereitungen auf diesen nächsten Konflikt verzehrt worden. Vor über zwei Jahren hatte er entschieden, dass die Verteidigung gegen die Merki, falls diese gegen Rus ziehen sollten, an vorgeschobener Stelle stattfinden würde, um den Feind möglichst schon aufzuhalten, ehe er in die Nähe des Heimatgebiets kam. All seine Überlegungen beruhten auf diesem Grundprinzip: den Krieg auf eigenem Boden um jeden Preis zu vermeiden. Zunächst war Hans vollständig einverstanden damit, aber um die Mitte des Winters zeigte er sich zum ersten Mal vorsichtig und schlug sich nun ganz auf die andere Seite.

Andrew wusste, dass er vom Typhus geschwächt war und sich deshalb psychisch so ermattet fühlte wie körperlich. Darüber hinaus litt er an einer tief sitzenden Angst, die von jeher an ihm nagte: dass egal wie sehr sie sich bemühten, die inzwischen mit modernen Waffen ausgerüsteten Merki letztlich zu viel für sie waren und jede Anstrengung der Menschen nur in den Ruin führte.

»Was Sie damit sagen möchten: dass wir sie an dieser Front nicht aufhalten können«, stellte Andrew leise fest.

Hans blickte sich im Raum um und nickte.

»Wo zum Teufel halten wir sie dann auf?«, wollte Pat wissen. »Falls sie den Neiper erreichen, werden sie uns früher oder später an der Furt umgehen und sich zwischen uns und Roum stellen, Wildnis hin oder her, egal was John sagt.«

Er blickte Julius an, der der Debatte konzentriert lauschte und nickte, als ein Dolmetscher ihm den raschen Wechsel der Argumente auseinander setzte.

»Wir müssen zusammenstehen«, sagte Julius. »Es ist wie mit unseren Liktorenbündeln: ein Stock allein, und wir werden gebrochen; drei vereint, und wir halten stand.«

»Mal angenommen, sie greifen überhaupt nicht hier an, sondern wenden sich stattdessen gegen Roum?«, warf Kai die rhetorische Frage ein, wohl wissend, dass man diese Frage schon endlos debattiert hatte und einer Antwort nicht näher gekommen war.

»Schwierig. Falls sie alles gegen Roum werfen, bleibt uns immer noch die Möglichkeit, gegen Cartha zu ziehen und das zu befreien, was davon übrig ist«, antwortete Andrew. »Außerdem würde das für die Merki einen doppelt so langen Marsch bedeuten, und wir säßen ihnen dabei im Nacken. Erst uns zu überwinden und sich dann gegen Roum zu wenden, das wäre der direkte Weg, wenn sie keinen Feldzug über zweitausendvierhundert Kilometer führen möchten.

Sherman hat dergleichen zu Fuß durchgeführt«, fuhr er fort, »aber einen solchen Plan haben wir längst zu den Akten gelegt. Nach allem, was wir gehört haben, fürchten sich die Merki, uns ein weiteres Jahr Zeit zu geben; deshalb wird ihr Feldzug direkt gegen uns geführt.«

»Bei unseren Patrouillen durch die Meerenge vor Cartha konnten wir feststellen, dass sie mindestens ein, vielleicht sogar zwei Umen über den Kanal gesetzt haben«, ließ Hamilcar über den Dolmetscher vermelden.

»Geben Sie mir noch ein Jahr«, warf Chuck ein, »und sie werden es bereuen.«

Andrew nickte lächelnd. Was hätte er nicht für ein weiteres Jahr gegeben, für fünf weitere Jahre! Aber die Zeit reichte nun einmal nie.

»Wir können wenigstens ein Täuschungsmanöver erwarten, das sie am Ostrand des Binnenmeeres entlang nach Roum vortragen. Das fünfte Korps bleibt in Roum, während wir das vierte als strategische Reserve in Suzdal stationieren. Sobald das sechste und siebte Korps unter Vincent in Roum vollständig mobilisiert wurden, verlegen wir sie jeweils dorthin, wo wir sie brauchen. Aber obwohl wir mit einem Täuschungsmanöver der Merki dort rechnen können, möchte ich unsere Kräfte hier konzentrieren. In den zurückliegenden sechs Monaten haben wir unsere ganze Kraft in die Befestigung dieser Linie gesteckt.«

Andrew sah Hans an.

»Ich sage einfach nur das, was ich denke!«, entgegnete Hans scharf. »Und ich sage Ihnen, dass sie, sobald sie zuschlagen, mit allem über uns herfallen werden, was sie haben. Sie stehen unter Zeitdruck wie wir auch. Die Horde ist riesig – eine gewaltige Fressmaschine aus Pferden und Merki –, und falls sie anhält, verhungert sie. John, was benötigen Pferde in einer Landschaft wie der hiesigen?«

»Nun, so weit wir das ausrechnen können«, antwortete John leise, »braucht ein Pferd in einer Grassteppe pro Jahr ungefähr fünfundzwanzig Morgen Land. Das ist allerdings der Bedarf für ein ganzes Jahr. Im späten Frühling kann man höchstwahrscheinlich zwanzig Tiere einen Tag lang auf einem Morgen grasen lassen, aber es dauert dann gute zwei Wochen oder noch mehr, bis diese Fläche wieder nutzbar wird. Grob überschlagen, umfassen die besiedelten Teile von Rus etwa die Fläche des Bundesstaates Maine, also circa fünfundachtzigtausend Quadratkilometer. Die Merki kämen dort kaum durch eine Jahreszeitdas betrifft allerdings nur den Futterbedarf der Pferde.« Er wurde still.

»Die Tugarenhorde war zahlenmäßig nur ein Drittel so stark«, sagte Hans leise, »und zum Zeitpunkt, als die Belagerung zu Ende ging, hungerten sie damals auch, obwohl sie auf einem verdammt großen Anteil des Rus-Bodens die Ernte in der Hand hatten. Jubadi ist kein Dummkopf, das haben wir schon gesehen. Er weiß, dass er angreifen und uns brechen muss, ehe auch nur der Sommer beginnt, und er muss vor dem Herbst den ganzen Weg nach Roum überbrückt und auch dort gesiegt haben, ansonsten ist er erledigt.

Deshalb mache ich mir Sorgen. Ich hasse es, gegen einen Feind zu kämpfen, der womöglich in jeder Beziehung so verzweifelt ist wie ich, wenn nicht noch mehr. Die Rebellen haben uns das gezeigt: wir hatten diese Bastarde schon in die Erde gestampft, und sie rannten trotzdem weiter an.

Wir selbst können unmöglich vergessen, dass wir verzweifelt sind«, fuhr Hans leise fort, »aber vergessen Sie niemals, dass Jubadi uns kennt, anders als Muzta und die Tugaren. Er ist verzweifelt und wird nicht die gleichen Fehler machen.«

Andrew lehnte sich zurück und blickte sich in der Kabine um. Alles war still, abgesehen vom Klappern des Telegrafen im angrenzenden Raum.

Zu viel war in die Entscheidung investiert worden, den Kampf hier auszutragen. Sich jetzt zurückzuziehen, das hätte Monate sorgfältiger Planungen zunichte gemacht und vielleicht auch noch die Moral der Rus zerstört, die mit der Aussicht konfrontiert waren, einen dritten Krieg in ebenso vielen Jahren auf dem eigenen Gebiet austragen zu müssen. Falls die hiesigen Stellungen fielen, waren Belagerungsgeschütze der Merki innerhalb einer Woche am Neiper und konnten dann Suzdal zu Bruch schießen. Er musste den Kampf an der Potomac-Linie riskieren, und doch hatte er, während er seinen alten Mentor ansah, das ungute Gefühl im Bauch, dass der alte Mann Recht hatte. Egal was sie taten, alles sprach dafür, dass sie einer Niederlage entgegensahen.

»Wir stellen uns wie geplant hier zum Kampf«, sagte Andrew leise.

Hans blickte ihn an und nickte, wobei ein trauriges Lächeln über seine Züge lief, als wäre ein Urteil verkündet worden, dessen Unausweichlichkeit ihm schon die ganze Zeit lang klar gewesen war.

»Die Aufstellung der Truppen erfolgt wie geplant«, sagte Andrew und bemerkte Johns erleichtertes Seufzen; der Major hatte Monate logistischer Planung auf die Potomac-Verteidigung verwendet. Pat rutschte geräuschvoll auf seinem Stuhl herum.

»Artilleriechef, das klingt nach einem mächtig tollen Titel«, schniefte Pat, »aber lieber Gott, Andrew, der hält mich drüben in Suzdal bei der Reserve fest!«

»Ich brauche Sie dort, Pat. Wir haben Schneid für das Kommando des 1. Korps als Frontreserve, Barry für das Kommando des 2. Korps hier auf unserer linken Flanke und Tim Kindred für das 3. Korps auf der rechten Flanke. Das sind alles Männer aus dem alten 35. Regiment. Alexi Alexandrowitsch hält das 4. Korps als mobile Reserve im Hintergrund. Er ist gut, aber ich möchte doch, dass Sie ihn im Auge behalten. Als Artilleriechef bleiben Sie ihm vorgesetzt. Das 5. Korps steht unter Marcus’ Befehl in Roum, und sobald das 6. unter Hawthornes Befehl in Roum bereitsteht, verlegen wir es dorthin, wo wir es brauchen, und alles spricht dafür, dass Sie dann das Kommando führen.«

»Wir haben zwei volle Bataillone und zwölf Batterien in jedem Korps«, mischte sich Hans ein, »mit sechs Bataillonen und über hundertfünfzig Kanonen in Reserve, die Ihrem direkten Befehl unterstehen. Was könnte sich ein Artillerist mehr wünschen?«

»An der Front zu sein, da, wo etwas passiert!«, beschwerte sich Pat.

»Die Front kann sehr schnell vor Ihrer Nase ankommen«, gab Hans leise zu bedenken.

»Mr. Bullfinch, wie lauten die neuesten Informationen aus Ihrer Abteilung?«, fragte Andrew und brach schließlich das unbehagliche Schweigen, das auf Hans’ Äußerung eingetreten war.

Die Miene des jungen Admirals leuchtete auf.

»Fünfzehn Panzerschiffe sind einsatzbereit, Sir, zehn mit je zwei Kanonen, die übrigen fünf mit je vier Kanonen; dazu kommen über hundert Galeeren.«

»Und die Ogunquit?«

Bullfinchs Gesicht verdüsterte sich wieder.

»Sie könnte noch als schwimmende Geschützstellung dienen, Sir, aber es dauert Monate, ehe wir sie wieder unter Dampf sehen. Es hat sie übel mitgenommen, dass ihre Flanke zerschossen wurde und sie anschließend kenterte. Wir arbeiten immer noch an den Kesseln, aber ohne Cromwell oder seine alten Ingenieure muss ich zugeben, dass sie mir ein verdammtes Geheimnis bleiben.«

»Chuck?«, fragte Andrew hoffnungsvoll.

»Das sind komplizierte Maschinen, Sir. Ich müsste mich schon einige Zeit mit ihnen beschäftigen, aber beide Kessel entwickelten Risse, als wir das Schiff hoben. Man findet im Rumpf einiges, wofür wir bislang nicht das richtige Werkzeug haben.«

»Tun Sie, was Sie können, Mr. Bullfinch«, sagte Andrew leise.

Dann wandte er sich seufzend an Emil.

»Ich stelle Chloroform her, so rasch ich nur kann. Andrew, vorsichtig geschätzt, wird ein ausgewachsener Krieg gegen diese Ungeheuer dreißig- oder vierzigtausend Mann Verluste mit sich bringen. An Seide herrscht Knappheit – sie wurde komplett für die Ballons verwendet. John hat uns Priorität eingeräumt, was hochwertigen Stahl für Operationsbesteck anbetrifft, aber auch die besten Instrumente der Welt sind in den Händen eines Tollpatschs nutzlos. Ich muss ein paar hundert Feldärzte und eintausend Krankenschwestern ausbilden. Ihre Kathleen hat die Schwesternschule gut organisiert und unterrichtet persönlich den ersten Schwung Roum-Arzte. Das Problem besteht darin, dass ich vielleicht gerade mal zwanzig gute Leute in Feldmedizin ausgebildet hatte, als der Tugarenkrieg zu Ende war. Mit Büchern und Vorlesungen erreiche ich nur begrenzten Erfolg; diese Männer und Frauen werden die Theorie lernen und sie dann zum ersten Mal im Feld ausprobieren müssen.

Amputation lernt man nur auf einem Weg, und das ist die Praxis. In Friedenszeiten haben wir hier herzlich wenig davon, vielleicht eine Hand voll pro Monat.«

»Was wir Ihnen zu verdanken haben«, warf Casmar ein. »Dieses Karbolsäurespray und Ihr Beharren auf sterilen Instrumenten hat die Infektionen auf einen Bruchteil des früheren Wertes reduziert. Das tote Fleisch, das Sie Gangrän nennen, tritt nicht mehr annähernd so häufig auf wie früher.«

Emil nickte dankbar und mit erkennbarem Stolz. Kathleen hatte ihm ermöglicht, eine medizinische Revolution bei den Rus in die Wege zu leiten, die er nie für möglich gehalten hätte. Die Vorlesungen, die er auf der Ärzteschule hielt, waren angefüllt mit seinen neuen Theorien: koche alle Instrumente und Verbände, wasche die Hände zwischen allen Untersuchungen und Behandlungen in einer Karbolsäurelösung, säubere die Wunden und sprühe noch mehr Karbolsäure hinein.

Obwohl die Ressourcen bis an die Grenzen strapaziert waren, hatte Andrew ihm einen drastischen Zuwachs an medizinischen Assistenten zugestanden. Im alten Krieg gegen die Rebellen war Emil der einzige Feldarzt mit nur einem Assistenten für ein Regiment aus fünfhundert Mann gewesen. Hier verlangte er die doppelte Anzahl an Feldärzten und wollte außerdem, dass jeder Einheit drei Assistenten zugeteilt wurden. Gegen Johns beinahe hysterische Proteste hatte man einen Sonderzug mit fünfzehn Waggons für den Transport der Verletzten gebaut. Voll ausgerüstete Krankenhäuser standen inzwischen in Suzdal, Nowrod, Kew und Roum, und außerdem verfügte man inzwischen über die nötigen Zelte für ein Feldlazarett, das dreitausend Mann aufnahm. Andrew wusste jedoch: so sehr dies alles eine Verbesserung gegenüber den alten Verhältnissen darstellte, reichte es immer noch nicht, um Emil wirklich zufrieden zu stellen.

»Die meisten meiner Leute werden ihre ersten Eingriffe im Feld vornehmen, wo dann schon fünfzig weitere Patienten auf ihre Behandlung warten. Verdammt, ich kann unmöglich feststellen, wer dabei wirklich gute Arbeit leisten wird und wer bei erster Gelegenheit kotzt und ohnmächtig wird, sobald er sieht, wie man einen Jungen mit heraushängenden Eingeweiden hereinträgt.«

Er schüttelte den Kopf.

»Gott helfe den armen Jungs, die zuerst bei denen landen …«

Andrew konnte sehen, dass diese Vorstellung den alten Arzt bekümmerte, den schon vor dem Anblick schmutziger Hände schauderte und der sich in der Potomac-Armee den Ruf eines Spinners erworben hatte, indem er über antiseptische Chirurgie und seinen Mentor Semmelweiss schwadronierte.

»Wir müssen alle unser Bestes tun«, sagte Andrew, lehnte sich zurück und nickte dem Burschen dankbar zu, der ihm einen weiteren Becher heißen Tees einschenkte.

Es versprach ein langer Tag zu werden, ein sehr langer Tag. Jeder einzelne Punkt war im Detail zu diskutieren. Als Nächstes stand eine Konferenz mit sämtlichen Korps- und Divisionskommandeuren der Potomac-Front auf der Tagesordnung, und danach mussten sie im Verlauf der beiden anschließenden Tage aufs Neue die gesamte hundertachtzig Kilometer lange Linie besichtigen.

Er betrachtete Hans. Der alte Sergeant saß in Gedanken versunken da und starrte zum Fenster hinaus, über das der vom Westen heranpeitschende Regen spülte. Eine Windbö heulte draußen auf und drückte einen Schwall Rauch zurück in den Schornstein. Aus irgendeinem Grund, der Andrew beunruhigte, erinnerte ihn der Geruch das nassen Rauchs an die endlose Nacht, in der Suzdal in Flammen gestanden hatte, sowie an jenen letzten verzweifelten Angriff über den zentralen Platz hinweg.

Er bemühte sich, diesen Gedanken zu verbannen, und erinnerte sich an den Brief von Kathleen.

Voller Sehnsucht …

Aber ihr Bild wollte sich in seinen Gedanken nicht formen. Nein, da waren nur das Feuer und ein Fluss voller Leichen in der Dunkelheit, die Luft schwer vom Gestank feuchten Rauchs und des Todes.

Warum fallt mir das gerade jetzt ein?, fragte er sich, und diese Frage erfüllte ihn mit kaltem, anhaltendem Grauen vor dem, was bevorstand.