Oh Väter!, rief er mit tonloser Stimme. Wendet die Sonnen auf ihrer Bahn und führt mich zurück in den Glanz unserer Mittagsstunde!
Das, oh Tamuka, waren wir früher, erfolgte wispernd die Antwort der Ahnen. Blicke auf unsere Größe und vergieße Tränen, denn die Umkreisung ist nur ein matter Widerschein unserer größten Ritte, als sich das Universum wie eine Steppe vor uns ausbreitete und wir uns in unserer Macht sonnten. Und jetzt sind jene, die wir verachteten, emporgestiegen. Fast wie zum Spott schwebten traurige, schmerzverzerrte Gesichter vor Tamukas Geist und deuteten zum Himmel hinauf.
Sein Geist wandte sich nach Osten, fort von der Welt der Ahnen, die weiter neben ihm schwebten; er konnte den unsäglichen Schmerz seines Wissens nicht ertragen und widmete sich lieber dem Hier und Jetzt anstatt all dem, was in ferner Vergangenheit verloren gegangen war. Denn es war Vergangenheit, auf die er früher schon durch Tränenschleier geblickt hatte, ein glanzvolles Bild, das er für sich behielt. Davon zu sprechen hätte keinem Zweck gedient. Und so wandte er den Blick von den Traumerinnerungen der Ahnen, die noch nicht mal auf Waldennia geboren worden waren, und lenkte den eigenen Geist zurück und hinauf durch die Erinnerungen der Künftigen. Erneut ritt er über der Welt dahin, wo endlose Generationen in der Falle saßen und von der Erinnerung an die Vergangenheit lebten; und dann tauchte das Vieh auf und brachte die Gabe der Ahnen mit, das Pferd, den Befreier, der den Horden die ganze Welt eröffnete. Zweihundert Umkreisungen seither, begleitet von dem Ruhm, der sich noch bot, dem Geist des Ka, des Kriegers, des Pferdereiters, der den Wind im Gesicht spürte, die Klagen seiner Feinde vernahm – die Feinde waren und zugleich Brüder –, den Ruhm des Sturmangriffs erlebte, die Feier des Sieges, die Klage der Niederlage und dabei doch wissend, dass wieder ein Sieg folgen würde. Aber war es letztlich nicht eine Illusion, der Glanz dieser Lebensweise? Die Umkreisungen sponnen sich durch Tamukas wandernde Seele, und die Bilder von hundert Ahnen flüsterten ihm zu, lachten dabei vor Freude, weinten vor Pein, stiegen zum endlosen Ritt des immer währenden Himmels auf, wenn ihr kurzer Augenblick verstrichen war.
Und dann glitt zu guter Letzt das Bild des eigenen Vaters vorbei, der sich als Krieger behauptete. All die Generationen der Merki, der Erwählten. Und in seinem Herzen vernahm Tamuka die Warnung, dass die Abenddämmerung der Ahnen und all dessen, was sein Volk war, sehr wohl gekommen sein konnte, und die Erkenntnis erschütterte ihn in der Seele. Die Verantwortung dafür, diese Entwicklung aufzuhalten, bohrte sich ihm ins Herz und rief seinen Ka auf, von dem Besitz zu ergreifen, was gewonnen werden musste.
Er blickte nach Osten, und die Welt vor ihm lag in Dunkelheit, als hätte sich ein Vorhang über seine Sicht gebreitet. Die mächtigen Geister des Viehs blockierten sie.
Was geschieht hinter dem Fluss, dieser Grenze zwischen uns? Er bemühte sich, den Schleier zu durchdringen und es zu erkennen.
Da war jedoch nichts außer Dunkelheit, und doch zeichnete sich sogar in dieser Dunkelheit ein Wirbel ab, eine Kraftquelle, die sich pulsierend entfernte und sich dabei auf den Eisenspuren bewegte. Er spürte eine vage Vorahnung. Falls die Kraft nach Osten fuhr, was hatte das wohl zu bedeuten?
Er blickte wieder zum Himmel hinauf, und das Große Rad brannte sich in seine Seele ein und erfüllte ihn mit Sehnsucht. Aber dort war nichts zu hören; kein Ahne war dort, der ihm hätte helfen können, den Schleier zur Seite zu ziehen.
Die Menschen sind bei weitem nicht besiegt, flüsterte ihm der Tu zu. Bei weitem nicht. Immer, wenn mehr von ihnen auf dieser Welt erscheinen, sind sie mächtiger als ihre Vorgänger. Aus unserer eigenen Vergangenheit kommen sie zum Vorschein, um uns zu plagen, denn ohne die Tunnel wären sie niemals hier erschienen.
Er spürte die Umwölkung der Geister, der Erinnerungen aller Horden, der Merki, Bantag, Tugaren, Kuvak, Org, all der Völker. Wir sind alt, erkannte er, blicken auf eine Million Generationen zurück, und unsere Zeit hier ist nur ein kurz flackernder Augenblick, ein sterbendes Volk auf einer letzten einsamen Welt.
Und es ist jung, dieses Vieh, das sich jetzt erhebt, strotzend von Leben, und durch die Tunnel braust, die wir zurückgelassen haben; so erscheinen sie auf dieser Welt als unsere Sklaven, die sich gegen uns wenden und uns in ihrem Trotz umbringen.
Die Ahnen schwiegen.
Er spürte einen kalten Zorn über ihre Resignation, über ihr Blut, das eins war und das jetzt zitterte.
Schicksal ist nicht vorbestimmt!, zischte er und war erschrocken, als diese lautlosen Worte Echos am ganzen Firmament erzeugten. Er wandte die Gedanken zurück nach Osten, wo sie warteten, die trotzigen Wenigen, das erste Beben des Sturms, ein Volk, das sich aus seiner Wiege erhob und zum Kampf rief.
Sie zogen ihre Stärke nach Osten zurück, aber zu welchem Zweck?
Die Antwort wollte sich nicht formen – nur die dunkle Vorahnung des Verstehens flüsterte ihm zu.
Dann soll doch das sterbende Volk dem neuen die Starke aussaugen und die vertrocknete Hülle wegwerfen!
Wir sind fett und alt geworden in der Ahnungslosigkeit dessen, was wir verloren haben, überlegte er. Nehmen wir also diese Kraft und dieses Wissen von neuem in uns auf und holen wir uns zurück, was wir einst waren.
Er blickte erneut zum Himmel auf, und unvermittelt wurden die Steppe und der endlose Ritt zunichte, glichen dem Herum tapsen eines Alten, dessen Verstand schon entflohen war, während der Ka noch blind herumstolperte.
Licht blitzte auf, gefolgt von einem pfeifenden Heulen. Er spürte etwas Warmes, ein Stechen.
Der Tu wandte sich nach innen, und die Vision verblasste.
Tamuka spürte einen pochenden Schmerz im Arm. Er öffnete die Augen und sah, dass ihm Blut am Arm herablief und die Lederrüstung an der Schulter aufgerissen war. Im Oberarm klaffte ein flacher Schnitt. Der schartige Granatensplitter, der ihn getroffen hatte, steckte im Baumstamm.
Ein weiterer Blitz zuckte über den Himmel, und weitere Schreie drangen vom Pfad herauf.
Endlich erfüllte Tamuka grimmiges Begreifen, als er vom Baum stieg und in den Schatten der Nacht schritt.
Er hatte seinen Plan ausgearbeitet, geleitet von den geflüsterten Eingebungen des Tu. Er hatte seinen Erwählten über Jahre hinweg geformt, erst gefoltert und dann belohnt. Egal wie das Vieh reagierte, am Ende lief der Plan auf das Gleiche hinaus, und Tamuka lächelte.
»Die Strecke ist bis zum Bahnhof Kennebec frei!«, schrie der Telegrafist, der vor seinem Büro stand und ehrfürchtig aufblickte.
Jack Petracci nickte und tippte das Abwärmeventil an. Die Flying Cloud senkte sich unmerklich weiter ab.
Die Bodenmannschaften auf den leeren offenen Güterwagen gaben das Signal, dass das letzte Tau fest saß.
Besorgt blickte Jack zu der Lokomotive dreißig Meter tiefer hinab.
»Fjodor, Taufreigabe gesichert?«
Fjodor neigte sich von seinem Sitz nach draußen und hing fast kopfunter.
»Scheint an Ort und Stelle, Käpten.«
Jack griff mit der rechten Hand nach unten und packte den Ringbolzen. Chuck zufolge wurden durch einen Ruck daran sämtliche Taue gelöst, die den Aerodampfer an den Zug darunter banden.
»Alles bereit!«, rief Jack und bemühte sich, das eigene blanke Entsetzen über diesen verrückten Plan nicht zu zeigen. Chuck hatte das Vorhaben schon vor Monaten umrissen, und auf dem Papier wirkte auch alles so einfach. Aber wie alles andere an diesem irrsinnigen Projekt war es ein Erstversuch, der bereits unter den Bedingungen des Ernstfalls erfolgte, und falls etwas schiefging, dann war es sein eigenes Leben, das auf dem Spiel stand.
Das Luftschiff mit der Eisenbahn bis nach Wasima zu schleppen, das hatte einfach genug geklungen, solange man an einem Konferenztisch saß. Man besorge einen Zug, mache die Taue daran fest, und schon geht es auf die Reise.
Jetzt wurde es Wirklichkeit. Dreißig Meter unter Jack zischte die Lokomotive und spie gelegentlich Funken aus dem Schornstein; ein leichter Wind kam von Norden und drückte das Luftschiff auf die Südseite der Bahnstrecke. Fjodor brachte das Triebwerk auf eine etwas höhere Drehzahl, und Jack kippte das Ruder, um den Aerodampfer in stabiler Lage zu halten.
Die hundert Männer der Bodenmannschaft standen auf den offenen Güterwagen und blickten besorgt nach oben. Die gesamte Ausrüstung für den Betrieb der Flying Cloud-Fässer mit Treibstoff, Fallbodenwagen voller Zink, ein mit Blei ausgekleideter Tank voller Schwefelsäure für die Herstellung von Wasserstoff: all das hatte man verladen und zur Hauptstrecke der MFL&S-Eisenbahn gebracht.
Jack blickte nach Norden. Fast die ganze Einwohnerschaft von Hispania schien für diese Aufführung hervorgekommen zu sein. Endlich lag das Geheimnis offen, was in den Wäldern nördlich der Stadt vorgegangen war.
»Wir warten auf Sie, Sir!«, schrie der Lokführer durch einen Schalltrichter.
Jack blickte über die Schulter auf Fjodor.
»Alles ist so weit, Käpten.«
Jack schluckte schwer, zog eine grüne Signalflagge unter seinem Sitz hervor und schwenkte sie.
Der Lokführer verschwand in seinem Führerstand. Eine Rauchfahne stieg empor, und Jack zuckte zusammen.
Der Zug ruckte langsam an.
Die Taue spannten sich; der Aerodampfer stemmte sich gegen den Zug und sank leicht ab.
Jack blickte erneut über die Schulter auf den langen Schatten, den die untergehende Sonne hinter ihm warf und der gerade über den Wasserturm hinter dem Bahnhof hinwegglitt.
Die Dampfstöße von dort unten erfolgten jetzt in kürzeren Abständen.
Die Messinganzeige, die nach Jacks Empfehlungen gestaltet war, um den Gegenwind zu messen, setzte sich in Bewegung; der Zeiger stieg auf über acht Stundenkilometer.
Als die Lok schneller wurde, senkte sich der Ballon weiter zum Boden ab.
»Gib etwas mehr Gas!«, rief Jack.
Fjodor reagierte, und der bedächtig klickende Propeller stieg stotternd auf eine Geschwindigkeit, bei der er nur noch verschwommen sichtbar war.
Der Ballon stieg wieder höher.
Jack schwenkte weiter die grüne Signalflagge. Die Lokomotive beschleunigte.
»Fünfundzwanzig Stundenkilometer.«
Telegrafenmasten, durch schieres Glück an der Nordseite der Trasse aufgestellt, trieben vorüber. Das Rattern des Zuges klang herauf.
Das Luftschiff zitterte, und ein Windstoß drückte es nach Süden. Jack reagierte mit einer Gegenbewegung des Ruders, bis der Aerodampfer sich wieder nach achtern gegen die Zugtaue stemmte. Jack zog eine gelbe Signalflagge und schwenkte sie.
Die Lokomotive wahrte eine Geschwindigkeit von etwas über dreißig Stundenkilometern.
Es versprach eine verdammt lange Fahrt zu werden, und Jack versuchte, es sich auf seinem Sitz bequem zu machen und den von einem flauen Gefühl begleiteten Spannungsknoten im Bauch loszulassen.
Chuck stand neben der Bahnlinie und verfolgte, wie das erste Schiff seiner Aerodampferflotte im Westen verschwand und damit Kurs auf die Front nahm, von der er zurückgekehrt war.
»Denken Sie, dass es klappt?«, fragte Vincent, der mit verschränkten Armen neben ihm stand.
»Es muss. Wir haben sie hier draußen gebaut, wo sie in Sicherheit waren. Hätten die Merkischiffe entdeckt, was wir tun, ehe wir selbst in die Luft kommen, dann wären wir untergegangen, bevor wir auch nur starten konnten. Ein riskantes Manöver ist das allerdings – zu viel Zugkraft, und das Luftschiff zerreißt womöglich, oder der Zug entgleist. Wäre es aber aus eigener Kraft geflogen, hätte das wie verrückt an der Betriebsdauer des Triebwerks gefressen und vielleicht nicht mal bis ans Ziel gereicht.
Diese verdammten Merki-Aerodampfer können mit ihren Triebwerken praktisch unbegrenzt in der Luft bleiben, wo immer zum Teufel sie die Dinger auch herhaben. Nur zu gern würde ich eines in die Finger bekommen und auseinander nehmen.«
»Sie kennen die Befehle«, sagte Vincent leise. »Da drin steckt irgendein Gift. Wir müssen sie vergraben.«
»Verdammt, ich weiß!«
»Die erste Schlacht zwischen Aerodampfern … Nur zu gern würde ich das sehen«, flüsterte Vincent.
»Hat Ihnen das Fliegen gefallen?«
Vincent lächelte.
»Mein letzter Flug war interessant.«
Wieder dieses Lächeln, und Chuck schwieg.
Der Zug auf dem Rangiergleis stieß einen Pfiff aus.
»Zeit aufzubrechen«, stellte Vincent fest und blickte zum Zug. Er war dicht besetzt mit den ersten Flüchtlingen, die Suzdal am Morgen nach der Konferenz verlassen hatten. Jeder Wagen floss förmlich über von Menschen. Kai hatte seinen persönlichen Wagen ausgeliehen, damit Chuck, Marcus und Vincent zurück nach Roum fahren konnten, und sie hatten ihn mit fünfzig Müttern und über hundert schreienden Säuglingen geteilt.
Chuck rümpfte angewidert die Nase – falls es das war, worum es beim Vatersein ging, dann konnten sie es behalten. Der Geruch von Windeln, erbrochener Milch und hundert ungewaschener Babys hatte ihn mehr als einmal auf die Plattform hinausgetrieben. Marcus überraschte ihn auf dieser Fahrt, indem er beinahe wie ein Politiker auftrat und mehr als ein jammerndes Kind in die Arme nahm. Ein seltsamer Anblick: ein echter Patrizier mit grauem Haar, scharf geschnittenem Gesicht, der immer noch am traditionellen Brustpanzer und rotem Umhang festhielt und hier ein weinendes Kind in den Armen wiegte.
»Da zieht ein mörderischer Kampf herauf«, sagte Vincent leise und blickte erneut nach Westen.
»Sie hören sich so an, als freuten Sie sich darauf, Vincent.«
Der General blickte Chuck an und lächelte.
»Das tue ich.«
Er drehte sich um und entfernte sich.
»Ein seltsamer Kerl.«
Chuck sah Theodor an, der mit unverhohlenem Neid verfolgt hatte, wie sein Zwillingsbruder in den Krieg flog.
»Zu viel Krieg bringt einen Menschen entweder um oder macht ihn verrückt.«
»Oder beides.«
»Vielleicht«, sagte Chuck leise.
Ein schrilles Tuten durchdrang den Betriebshof.
»Unser Zug«, sagte Chuck. Er ging auf die spielzeughafte Lokomotive zu, die daraufwartete, ihn zu den Hangars für die Aerodampfer und zu seinem Werk zu bringen.
»Tun Sie, was immer Sie möchten«, hatte Andrew gesagt und gelächelt. John würde viel zu beschäftigt sein, um etwas Pulver, ein bisschen hochwertigen Stahl und ein paar Bohrmaschinen zu vermissen. Ab damit ins Aerodampfer-Programm.
»Warum lachen Sie?«, erkundigte sich Theodor.
»Das finden Sie noch heraus. Sehen wir jetzt lieber zu, dass wir nach Hause kommen und die Yankee Clipper die Luft bringen.«
»Jesus Christus, was für ein Chaos!«, stöhnte Pat.
Andrew konnte dazu nur nicken. Auf dem Bahnhof sah es schon schlimm genug aus. Nach vier Tagen der Evakuierung wirkten die Straßen der Stadt bereits verlassen. Das Summen des Lebens trieb nicht mehr über sie, weder lachende Kinder noch der geschäftige Betrieb auf dem Markt noch der Gesang in den Kirchen. Sechstausend weitere Menschen hatten vor dem Morgengrauen heute die Fahrt angetreten; jeder Anschein von Ordnung ging verloren, während hysterische Familien getrennt wurden – wobei die Männer bis zuletzt zurückblieben, während sich Frauen und Kinder aus den Wagenfenstern beugten oder trostlos auf offenen Güterwagen inmitten ihrer mageren Habseligkeiten hockten. Das einzige Bindeglied zur Zukunft war für sie eine nummerierte Karte, die jedem Mann sagte, mit welchem Zug die Familie evakuiert worden war. Die Züge fuhren in aller Stille ab, damit die Merkispäher auf der anderen Seite des Flusses nichts hörten.
Eine Batterie hatte am Abend zuvor den Beschuss eröffnet und Granaten über den Fluss gefeuert. Es waren jedoch nur leichte Geschütze, verglichen mit den Fünfzig- und Fünfundsiebzigpfündern, die von den Panzerschiffen und der Südbastion aus das Feuer erwiderten. Trotzdem bewies die Aktion, dass die Merki da waren und Ausschau hielten und zweifellos die Funken sahen, wenn die Züge über die Brücke der Wina fuhren, die vom Abfluss des Stausees Hochwasser führte.
Die riesige Gießerei war ein Albtraum an Konfusion. Hunderte Arbeiter, die noch Tage zuvor in Zwölf-Stunden-Schichten geschuftet hatten, um Geschütze, Musketen und Gewehre herzustellen, zerlegten jetzt die Maschinen, packten die kostbaren Anlagen in grob gefertigte Kisten und schoben diese durch die Türen hinaus zu den Rangiergleisen. Ein Zug wartete neben dem Backsteingebäude, und Arbeitsgruppen mühten sich damit ab, die größeren Maschinen auf die offenen Güterwagen zu wuchten, wo man sie mit Segeltuch abdeckte und mit Stricken sicherte.
»Jeder Tag, den wir so verlieren, kostet uns weitere dreihundert Gewehre und Musketen und weitere zwei Feldgeschütze«, stellte Pat bitter fest und wich seitlich aus, damit ein Team von Männern eine Pressschmiede durch die Tür schaffen konnte.
Andrew sah sich um und rang sich ein aufmunterndes Lächeln ab, als er das geräumige Bauwerk betrat.
Hier hatte das pulsierende Herz all ihrer industriellen Anstrengungen geschlagen. Nur Tage zuvor waren Rauch aufgestiegen und Funken geflogen. Schwitzende Arbeiter hatten das Roheisen aus dem angrenzenden Hochofen gezogen, hier hereingeschafft und zu Stahl und Gusseisen verarbeitet. Sie hatten es in Gussformen geschüttet und die Läufe auf Drehbänken rotieren lassen und ausgebohrt, um die geölten Kraftquellen einer modernen Kriegsmaschine zu erzeugen, die der Errettung des Volkes diente.
Das hier war der Stützpfeiler für alle Träume auf Überleben gewesen. Wie das Unternehmen gewachsen war! Er erinnerte sich noch an die erste Gießerei, gerade mal halb so groß, die damals von der Flut aus dem geborstenen Damm weggerissen wurde. Jetzt blieben die Feuer in Gang, ein Täuschungsmanöver für die Späher hinter dem Fluss, und die Schornsteine stießen weiterhin ihre schwarzen Schwaden aus.
In der angrenzenden Schienengießerei herrschte das gleiche Chaos. Nach dem Seekrieg hatte dieses Werk einen Spitzenausstoß von fast hundertfünfzig Tonnen Schienen pro Tag erreicht, vierzig Schienensektionen pro Stunde, rund um die Uhr. Das glänzende Eisen wurde aus den Gussformen und Schmieden direkt auf im Werk bereitstehende offene Güterwagen verladen. Monatelang waren die Züge nach Osten gefahren, einer alle acht Stunden, um die Roumstrecke zu reparieren, die man aufgerissen und für den Bau der Panzerschiffe benutzt hatte. Seit dem Spätherbst waren die Züge dann auf der Strecke entlang der Flussstraße nach Norden gefahren, über den Neiper und dann nach Westen über die Militärstrecke zum Potomac. Zehntausend Männer hatten an dieser Strecke geschuftet, die nur wenige Tage vor dem Angriff der Merki fertig wurde. Und all diese Anstrengungen wurden nun zunichte gemacht.
Hinter der Schienengießerei, in der Arbeitsmannschaften die Pressen und Gussformen abbauten, erhob sich die jüngste Fabrik, die zweieinhalb Zentimeter dicke Panzerplatten für die Panzerschiffflotte produzierte. Diese Platten wanderten in die Schiffswerft am Neiper, die derzeit unter Beschuss stand, oder wurden mit dem Zug bis nach Roum gebracht, wo in einer zweiten Werft am Tiber gerade zwei weitere Schiffe des neuen Sechs-Kanonen-Modells auf Kiel lagen.
Westlich der Schiffspanzerschmieden stand die Munitionsfabrik, wo Zweieinhalb-Zentimeter-Geschosse gegossen und als Kartätschen in Blechkanister gepackt wurden, neben den Gussräumen für Massivgeschosse von vier, zwölf, fünfzig und fünfundsiebzig Pfund. Ein weiteres Backsteingebäude daneben erinnerte mehr an einen Bunker. Dort wurden die Explosivschrapnellgeschosse für die Napoleoner und die Perkussionsgranaten für Siebeneinhalb-Zentimeter-Geschosse mit Pulver und Zündern bestückt und in Munitionskästen verpackt.
Hangabwärts lag das Bahnbetriebsgelände mit dem Lokomotivenwerk. Darin arbeiteten einige der wertvollsten und am besten ausgebildeten Männer der ganzen Republik an der Fertigstellung von zwei Loks, während andere schon das Werkzeug und die Schmieden einpackten und drei weitere, erst teilweise fertig gestellte Loks demontierten, um die Teile zum späteren Neubau nach Osten zu transportieren.
Die im Bau befindlichen Waggons waren schon zerlegt, und die Gussformen für Räder und Gerüste hatte man am Morgen auf die Reise nach Hispania geschickt. Noch ehe der Krieg richtig begonnen hatte, hatte sich Hispania schon zum zweiten wichtigen Bahnbetriebshof entwickelt, und jetzt würde es zum Zentrum der ganzen Eisenbahnindustrie werden.
Andrew durchquerte die letzte der Fabriken, in der eine breite Palette an Produkten entstand: Mähmaschinen und Pflüge, Eisen für Radkränze der Geschütze, Bolzen, Nägel, Bajonette, Holzöfen und sogar Kirchenglocken.
Überall herrschte der gleiche chaotische Eindruck eines gewaltigen Transportunternehmens, das jenen Punkt erreicht hatte, an dem man sich im eigenen Heim umblickt, die Tatsache verflucht, dass man zu viele Habseligkeiten erworben hat, und glaubt, dass es unmöglich sein wird, am geplanten Umzugstermin tatsächlich alles bereit zu haben.
»Gott, glauben Sie, dass wir es jemals schaffen?«, flüsterte Pat.
Andrew sah den Freund an. Etwas war in dem stämmigen Iren alt geworden. Begonnen hatte es während der langen und langsamen Erholung von seiner Schusswunde. Es musste zum Abschluss gelangt sein, als er auf dem Höhenzug stand und Hans und die Brigaden untergehen sah. Das prahlerische Gehabe war dahin, und die Selbstdarstellung als etwas tumber, streitsüchtiger Trinker war von ihm abgefallen. Es war, als spürte Pat, dass Andrew jetzt einen felsenfesten Gefährten brauchte, weniger einen lustigen Gegenspieler und Störenfried.
»Wir müssen es einfach schaffen, Pat. Wir können die Menschen und die Nahrungsmittel evakuieren, aber falls wir das hier verlieren …« Er deutete zu den Fabriken hinüber. »… können wir uns auch gleich im Wald verkriechen oder zu so etwas wie den Wanderern werden und auf ewig vor den Horden fliehen. Verdammt, wir haben beinahe vier lange Jahre gebraucht, um das alles aufzubauen, und ich weigere mich, es verloren zu geben. Die Gebäude können wir ersetzen, aber nicht diese Männer und ihr Werkzeug.«
Vor Leidenschaft stieg sein Tonfall, während er redete, und zornig drehte er sich um und blickte nach Westen.
»Ich will verdammt sein, wenn sie uns das wegnehmen!«
Pat lächelte, als Andrew weiterging. Etwas von dem alten Feuer zeigte sich wieder im Colonel. Sicher, er sah fürchterlich aus – ausgebrannt, bleich, die Augen hohl -aber zumindest flammte der ewige Funke, der Funke des professionellen Killers, wieder auf.
Eine Lokomotive erwachte neben der Kanonengießerei schnaufend zum Leben; der Signalmann rannte mit seinen Flaggen an den Schienen entlang und gab dem Weichensteller das Zeichen, den Weg freizugeben.
Die Rader der Lok drehten mehrere Sekunden lang durch; dann ruckte der Zug an. Auf der langen Reihe aus vierzehn offenen Güterwagen türmten sich Kisten, und eine halbe Gesenkschmiede ruhte so schwer auf ihrem Waggon, dass man ihn mit Sechs-mal-sechs-Balken hatte verstärken müssen. Zusätzlich drängten sich auf den Wagen die Männer, die ihre Ausrüstung begleiteten, während ihre Familien in drei geschlossenen Güterwagen am Schluss des Zuges hockten.
Als die Männer Andrew allein dastehen sahen, erhoben sie sich und reckten trotzig die Fäuste hoch, und heisere Rufe ertönten. Andrew hob die Hand und salutierte, als der Zug durch die Weiche fuhr und Dampf zulegte für die Fahrt entlang der Wina, von wo aus eine neue Weiche ihn schließlich auf die Brücke und östlich nach Hispania leiten würde.
Pat reckte die fleischige Hand hoch und ballte sie zur Faust, als der Zug vorbeirumpelte.
»Bringt das verdammte Ding wieder in Gang!«, schrie er. »Ich brauche die Scheißgeschütze!«
Die Männer, die zu seinem Korps gehörten und ihren Kommandeur erkannten, jubelten ihm zu. Dann ratterten die geschlossenen Güterwagen vorbei, aus denen stille und verängstigte Familien blickten, und der Zug war fort.
»Fünftausend unserer besten Männer sind da gebunden – eine komplette Division«, sagte Pat.
»Wir brauchen sie in den Fabriken dringender«, entgegnete Andrew. »Hoffen wir nur, dass wir ihnen nicht noch Gewehre in die Hände drücken müssen, ehe alles vorbei ist.«
In der Stadt läutete gerade die Glocke des Doms, und die weichen, melodischen Schläge jagten Andrew einen Schauer über den Rücken.
»Aerodampfer …« Er blickte sich unter den Arbeitsmannschaften um, die ihre Tätigkeit unterbrachen und nach Südwesten blickten.
Ein Kurier kam herbeigelaufen und reichte Andrew atemlos ein Telegramm.
»Von unserem Ausguck oberhalb der Mine. Vier Aerodampfer kommen entlang der Küste des Binnenmeeres herauf«, sagte Andrew leise.
»Na ja, vielleicht erleben wir dann unsere erste Luftschlacht«, sagte Pat, und ein Schimmer trat in seine Augen.
»Bei einem Kräfteverhältnis von vier zu eins dürfte sie interessant werden«, gab Andrew kalt zu bedenken.
»Bringt sie hoch!«, rief Jack, als er aus dem Telegrafenschuppen gestürmt kam. Die Mannschaften waren jedoch schon hastig am Werk, da sie die Alarmglocke gehört hatten.
Fjodor rannte aus dem Hangarschuppen hervor und schickte die Bodenmannschaft mit wedelnden Armen an die Arbeit.
Taue wurden gepackt und die mächtigen Tore des Hangars aufgezogen. Der Vorarbeiter des Bodenpersonals blickte zum Wachtturm und dem darauf flatternden Banner hinauf.
»Nordwind. Zieht sie langsam heraus.«
»Wo stecken sie?«, rief Fjodor und lief auf Jack zu.
»Sie kommen an der Küste herauf.« Jack legte eine Pause ein. »Es sind vier.«
»Kesus verdamme sie!«, bellte Fjodor.
»Kessel unter Feuer?«
Fjodor nickte. »Volle Treibstoffladung an Bord.«
»Wenigstens haben wir den Wind in Rücken, wenn wir dort hinabfliegen.«
Assistenten liefen herbei und halfen Jack und seinem Copiloten in schwere Overalls und Wollmützen. Der Bug des Aerodampfers blickte inzwischen aus dem Hangar und stemmte sich gegen den Wind. Mehr als zweihundert Mann, zum größten Teil noch die ursprüngliche Roummannschaft, bemühten sich, das Schiff mittig zu halten.
Jack schritt besorgt auf und ab und versuchte, nicht zu sehr an das zu denken, was nun folgte. Das Ding zu fliegen, das war schon schlimm genug, aber der Rest … Er verbannte den Gedanken.
Die Korbkabine, das Triebwerk und der Propeller kamen zum Vorschein, und Jack und Fjodor stürmten zu dem Schiff hinüber, dessen Fahrwerk inzwischen über dem Boden schwebte.
Sie stiegen in die Kabine, und der Aerodampfer senkte sich wieder herab, sodass die Räder unter der Kabine Bodenkontakt hatten.
Das Heck verließ den Hangar, und der Ballon drehte sich in den Wind, während die Zugmannschaften darum kämpften, ihn ruhig zu halten.
»Kessel unter vollem Druck?«, fragte Jack in das Sprechrohr, ein Extra, das man gerade erst gestern auf seinen Vorschlag hin so eingebaut hatte, dass der Schalltrichter direkt an Fjodors Ohren reichte. Nur ein knapper Meter trennte sie beide, aber auf der langen und erschöpfenden Fahrt im Schlepptau des Zuges hatte er zuzeiten festgestellt, dass sie sich kaum miteinander verständigen konnten.
»Kessel unter vollem Druck.«
Mit diesen zwischen uns verlaufenden Rohren müssen wir wie zwei Elefanten in leidenschaftlicher Umarmung aussehen, dachte Jack.
Er zitterte vor Aufregung und Furcht und wartete darauf, dass die Heißlufttasche den nötigen Auftrieb lieferte. Der Chef der Bodenmannschaft stand neben ihm und betrachtete das Fahrwerk am Boden.
Der Vormann hob die Hand. Jack nickte, und der Mann packte den Freigabehebel unter der Kabine und nahm so das Fahrwerk ab. Der Aerodampfer stieg auf.
»Langsame Fahrt voraus!«
»Langsame Fahrt voraus liegt an.«
Der Propeller legte los, und das Kriegsschiff stieg senkrecht in die Luft. Die Bodenmannschaft warf die Taue ab, und ein Priester stand im Zentrum der Lichtung und schwenkte zum Segen einen Zweig mit Weihwasser.
Jack schlug zur Antwort das katholische Kreuzzeichen, und der Priester nickte, obwohl es gegenläufig zum Rusritus war.
Das Flugfeld fiel unter Jack zurück. Die vier Hangars bildeten ein unregelmäßiges Viereck, und unnütze Schornsteine an der Seite verströmten Qualm, damit die Gebäude nach Fabriken aussahen. Damit hatte man die Merki schon bei mehreren ihrer Aufklärungsflüge getäuscht, als sie einfach nur über das Gelände hinwegflogen, ohne anzugreifen. Nach dem heutigen Tag würden sie jedoch, wie Jack wusste, zurückkommen, denn sie konnten sich denken, dass dieser Ballon von irgendwo hinter Suzdal kommen musste.
Der Talboden lag jetzt dreißig Meter unter dem Luftschiff. Die Bäume auf den Höhen wiegten sich leicht im Wind.
»Auf ein Viertel Fahrt gehen.«
Das Triebwerk summte lauter, und Jack stellte das Ruder auf leichten Steigflug. Der Bug neigte sich etwas nach oben, und die Jubelrufe der Bodenmannschaft klangen aus der Tiefe herauf.
Mit einem leichten Antippen des Ruders wendete er den Aerodampfer nach links; der Bug schwenkte, und das Tal versank außer Sicht.
»Drei Viertel voraus!«
Mit summendem Propeller gewann die Flying Cloud jetzt mit fast siebzig Metern pro Minute an Höhe. Hinter dem Tal jagte der Schatten des Aerodampfers über offene Felder hinweg, die immer kleiner wurden. Die Stadt Wasima zog im Osten vorbei, und auf ihren Straßen wimmelte es von Flüchtlingen, die nach oben deuteten und schrien.
Jack konnte nur hoffen, dass die riesengroß auf die Unterseite gemalte Rusflagge und der Name Flying Cloud auf Kyrillisch und Englisch am Bug die Soldaten daran hinderten, das Feuer zu eröffnen.
Fjodor lehnte sich weit aus der Kabine und winkte, und die gaffenden Zuschauer kapierten allmählich, dass dieser Aerodampfer zu ihrer Seite gehörte. Die Menge schrie vor Begeisterung; die Menschen sprangen aufgeregt auf und nieder, und Kinder stürmten winkend die Straßen der Stadt entlang. Die Kirchenglocken legten sich ins Zeug, und die Luft bebte unter ihren harmonischen Schlägen.
»Da kommt man sich beinahe als Held vor«, fand Jack.
»Na verdammt, das sind wir doch auch!«, schrie Fjodor aufgeregt.
Ganz Rus wird jetzt das Geheimnis erfahren, wurde Jack klar. Jetzt trat zutage, worum es bei der Arbeit der zurückliegenden neun Monate gegangen war. Verdammt, falls er den heutigen Tag überlebte, dann konnte er sehr wohl zu einem verdammten Helden geworden sein, und einen Augenblick lang verzog sich die Angst, als er sich die triumphale Rückkehr vorstellte. Er dachte an Swetlana, das junge Rusmädchen, das ihm im Bahnhof Wasima aufgefallen war. Ihr Vater arbeitete dort als Telegrafist, und sie war aus dem Büro gekommen, um Jack mit leuchtenden Augen zu begrüßen. War ihm in die Arme gesprungen und hatte die schweren runden Brüste an ihn gepresst.
Das könnte es glatt wert sein, dachte er.
Das Schiff stieg weiter, und die schönen, leicht welligen Felder von Rus zogen unter ihm vorbei. Kleine Höfe, Dörfer, winzige Perm geweihte Kapellen, von Bäumen gesäumte Flüsse, all das fiel unter dem Schiff zurück. Jack fühlte sich wie ein Adler.
Die Hauptbahnlinie nach Suzdal kam ins Blickfeld; die Strecke durchschnitt eine Hügelflanke, und ein Zug kämpfte sich auf dem Weg nach Osten qualmend hangaufwärts. Die geschlossenen Güterwagen schienen gerammelt voll von Menschen, und weitere saßen auf den Dächern, deuteten zu Anfang ängstlich auf das Luftschiff und winkten schließlich begeistert.
Berge ragten im Westen auf, bedeckt mit dem dichten Wald, der in verstreuten Baumgruppen bis auf das fruchtbare schwarze Land hinabreichte. Weit entfernt im Nordwesten entdeckte Jack eine Rauchspur am Horizont, die träge zum Himmel aufstieg. Kaum erkennbar zeichnete sich dahinter eine hohe, grün-blaue Kammlinie ab.
Ein Gefecht irgendwo am Neiper.
Licht flackerte am Horizont auf, eine Spiegelung auf Wasser. Die Talsperre oberhalb von Suzdal. Jack behielt den Boden forschend im Auge, suchte nach eindeutigen Landschaftsmerkmalen und markierte sie auf einem Stück Papier, das er auf ein Brett zwischen seinen Knien geheftet hatte. Es war ein kristallklarer Tag und der Horizont schier endlos, aber da er diese Strecke womöglich mal in viel schlechterem Wetter fliegen musste, war es am besten, die Karten jetzt anzufertigen. Er fuhr damit fort, Details zu skizzieren: ein hoher Kirchturm; ein Dorf mit altem Bojaren-Landhaus, das Dach grellrot, der First gekrönt von einer Prozession geschnitzter Bären; ein weiteres Dorf, verbrannte Hütten, die durch Tugarenjurten -aus den Trümmern des Krieges geborgen – ersetzt worden waren. Schwer beladene Wagen fuhren durch das Land und nahmen dabei jeweils Kurs auf die Bahnstrecke, wo die kostbaren Versorgungsgüter verladen werden sollten. In einem abgelegenen Dorf nahe des großen Waldes standen mehrere Scheunen in Flammen, wo man große Mengen Viehfutters abfackelte. Eine Prozession ameisenhafter Kreaturen verließ die Siedlung in südlicher Richtung, zur Bahnstrecke hin, gefolgt von einer Herde Schweine und Rinder, von bellenden Hunden und mehreren Pferdewagen.
Falls derzeit irgendein Merkiluftschiff über das Land flog, musste die Besatzung schon blind sein, um nicht zu vermuten, was hier geschah. Jack trug die Position des Dorfs ein und notierte dabei die brennenden Scheunen. Fjodor tat hinter ihm das Gleiche, damit sie später ihre Aufzeichnungen vergleichen konnten.
»Nowrod!«, rief Jack viel zu laut in den Schalltrichter. Er deutete auf die Stadt, die sich an einen sanft ansteigenden Südhang schmiegte und sich bis ans Ufer der Wina ausbreitete. Ein langer Zug aus Fahrgastwagen verließ gerade den Bahnhof. Hinter ihm kämpfte sich ein zweiter Zug – eine lange Reihe von offenen Güterwagen, auf denen sich Maschinen türmten, sowie mehrere geschlossene Güterwagen am Schluss – langsam den Anstieg zur Stadt hinauf.
»Es ist nicht mehr weit!«, antwortete Fjodor. Er lehnte sich aus dem Sitz und befeuchtete die Antriebswellen des Triebwerks aus einer Ölkanne mit langem Hals. Dann nahm er die Schwimmanzeige der ersten Blechtrommel mit Treibstoff in Augenschein und kalkulierte rasch den verbliebenen Vorrat.
Jack holte den Feldstecher aus dem Futteral und richtete ihn nach Südwesten. Innerhalb von Sekunden erblickte er die vier dunklen Schiffe am Horizont.
»Ich sehe sie!«
Fjodor drehte sich um, nahm das eigene Fernglas zur Hand und richtete es auf die Stelle, die ihm Jack wies.
Der Ruspilot nickte nur und schwieg.
»Ich gehe höher.« Jack zog das Höhenruder ein Stück weit zurück und ließ den Bug hochsteigen; dann zentrierte er das Höhenruder wieder, während das Schiff weiter an Höhe gewann.
Jack hatte unzählige Stunden lang mit Fjodor über die Taktik diskutiert; sie hatten sich dabei gegenseitig angeschrien, den jeweils anderen mahnend, sein Irrtum würde bedeuten, dass sie flammend abstürzten und sich dabei gegenseitig verfluchten.
Letztlich einigten sie sich in einem Punkt: die Partei, die höher und schneller flog als der Gegner, würde im Vorteil sein.
Alles andere blieb offen. Jack vermutete, dass sie schneller steigen konnten als die Merki, wusste es aber nicht genau. Die Merkischiffe waren gewiss größer, und er fürchtete, dass ihre Triebwerke viel stärker waren. Colonel Keane hatte den strikten Befehl erteilt, kein Merkischiff über einer Stadt abzuschießen, aus Furcht vor dem geheimnisvollen Gift, das ihre Triebwerke freisetzten, falls sie aufbrachen; Jack wusste jedoch, dass dies die geringste seiner Sorgen sein würde, sobald die Schlacht erst mal tobte. Allerdings handelte es sich bei den Merkischiffen um simple Ballons, denen nur der Gasdruck Starre verlieh, während die Flying Cloud einen Schiffsrumpf aus einer Korbkonstruktion aufwies, deren Material aus einer bambusähnlichen Pflanze stammte; diese Struktur war hohl, leicht und äußerst widerstandsfähig.
Als die Flying Cloud fast den Nordwestwinkel des Stausees erreicht hatte, ging Jack auf einen mehr westlichen Kurs. Suzdal trat nun klar ins Blickfeld; das goldene Dach des Doms spiegelte die Mittagssonne in goldroter Tönung wider. Die hohen Holzhäuser der Altstadt sahen mit ihren grellbunten Dächern aus, als stammten sie aus einem Märchen, während die nach dem Krieg neu errichteten Stadtteile vom Yankeeviertel dominiert wurden, aus dem die Türme der methodistischen und der kongregationalistischen Kirche in leuchtendem Weiß hervorstanden.
All das sah aus großer Höhe wie Spielzeug aus, ein für Jack faszinierender Eindruck, während das Schiff nach wie vor an Höhe gewann. Der Stausee lag jetzt direkt unter ihnen und zog sich etliche Kilometer weit durch die niedrigen, von Bäumen bestandenen Höhen. Im Süden erblickte Jack die niedrigen Höhenzüge oberhalb des aufgegebene A Fort Lincoln, wo auch die Erz- und Kohlenbergwerke lagen. Auf der höchsten Erhebung dort unten ragten die schlanken Umrisse eines Wachtturms in die Höhe, jene Stellung, wo man die feindlichen Aerodampfer zuerst gesichtet hatte.
In der Nähe des irdenen Staudamms wurde im Tal der gewaltige Fabrikkomplex sichtbar, und auf den Gleisen neben jeder Fabrik wimmelte es von Arbeitern, aufgetürmten Maschinenteilen und Lokomotiven, die auf Rangiergleise zurücksetzten und dabei jeweils eine lange Reihe geschlossener Güterwagen schoben. Ein Meer aus winzigen ovalen Gesichtern wandte sich nach oben, und Jack spürte, wie Freude in ihm aufstieg. Er und Fjodor hatten die Bühne für sich allein, wie die Ritter aus alter Zeit, die zum Zweikampf antraten, ein David, der sich vier Goliaths entgegenstellte. Sogar auf der inzwischen erreichten Flughöhe vernahm er noch einen Nachhall der Jubelrufe.
»Nun, jetzt wissen alle Bescheid!«, rief Fjodor.
»Hoffen wir nur, dass wir auch lebendig zurückkehren und den Ruhm genießen können.«
Die feindlichen Schiffe waren schon über der Neipermündung und folgten eins nach dem anderen dem Flusslauf, jedes Schiff anderthalb Kilometer hinter dem anderen.
Jack musste noch herausbekommen, wie er relative Höhe und Entfernung abschätzen konnte, denn die Wahrnehmung in dieser luftigen Höhe, sowohl das Fühlen als auch das Sehen, war viel zu ungewohnt für ihn. Allerdings wurde nun deutlich, dass sie Wirkung auf die Merkischiffe zeitigten. Das Führungsschiff dort hatte weitgehend gestoppt, und die drei anderen fächerten östlich neben ihm aus.
Während die Flying Cloud weiter an Höhe zulegte, stieg sie über die Fabriken auf und hielt direkten Kurs auf Suzdal. Die Domglocke läutete dort unten, und die Menschen, die noch in der Stadt waren, blickten auf, schrien und deuteten auf den Aerodampfer. Es war ein wunderbarer Anblick: die alte Stadt ein Labyrinth aus schmalen Sträßchen, die zum großen Platz, dem Dom und den teilweise zerbombten Gebäuden des Präsidenten und des Senats führten.
»Prälat Casmar!«, schrie Fjodor, beugte sich vom Sitz und deutete direkt auf den Domturm hinab, wo eine einsame Gestalt in schwarzem Gewand stand und ihnen aufgeregt zuwinkte. Fjodor bekreuzigte sich erneut, und Jack fragte sich, ob Gebete tatsächlich emporsteigen konnten, um sie einzufangen und festzuhalten.
Am Ufer gegenüber ragten niedrige Hügel auf, deren Kammlinie durch gefällte Bäume und die groben Kerben von Geschützstellungen gekennzeichnet war. Der Wald breitete sich darüber hinaus noch kilometerweit aus. Am Horizont zeichnete sich die offene Steppe ab. Die Südstrecke der militärischen Potomac-Bahnlinie schnitt pfeilgerade durch den Wald, und auf ihr wimmelte es jetzt von berittenen Merkikriegern. Jack fühlte sich versucht, selbst etwas Luftaufklärung zu betreiben, aber die Befehle waren eindeutig: riskieren Sie das Luftschiff nicht über feindlichem Gebiet. Falls das Triebwerk jetzt ausfiel, würde der Wind das Schiff weit über den Fluss tragen, ehe Jack damit landen konnte. Er hielt nicht viel von der Vorstellung, dass es ihn hinter die Merkilinien verschlug.
Die feindlichen Aerodampfer sammelten sich direkt über Fort Lincoln, als warteten sie ab, was er zu unternehmen gedachte. Er neigte das Ruder nach links, sodass sich die Flying Cloud nach Süden wandte und mit dem Wind im Rücken flog.
»Wir sind eindeutig höher als sie!«, rief Jack.
Die Südmauer von Suzdal glitt vorbei, und er hatte den Fluss mit zwei in der Mitte ankernden Panzerschiffen zu seiner Rechten. Die Trasse der MFL&S-Eisenbahn führte in südlicher Richtung über die wenigen Kilometer bis Fort Lincoln, das heute von hohem Gras überwuchert war. Die alten Hütten, die das erste Zuhause der Yankees auf diesem Planeten gewesen waren, standen verlassen und verfallen.
Die vier feindlichen Aerodampfer wandten ihm die Bugseiten zu; sie waren hochgereckt, während sie sich zu steigen bemühten.
»Mach dich bereit, Fjodor!«
Der Ruspilot riss einen mit Stroh ausgekleideten Korb auf und nahm behutsam einen dünnwandigen Krug zur Hand, aus dessen Wachsverschluss ein Leinendocht ragte.
Nervös blickte Fjodor über Jacks Schulter, während der Abstand schrumpfte.
»Gute dreihundert Meter über den Bastarden!«, schrie er.
Jack nickte und schob das Ruder vor. Der Bug der Flying Cloud senkte sich, während die Geschwindigkeit stieg, als das Schiff mit heulendem Triebwerk in den Sinkflug überging.
»Ich zünde sie an!«, rief Fjodor. Mit einer von einem Handschuh geschützten Hand klappte er den Deckel zum Kessel auf und hielt den Leinendocht hinein. Er zog ihn wieder hervor und hielt den Topf nervös, während er den flackernden Docht betrachtete und fürchtete, ein Stück glühende Asche könnte sich lösen und achtern an die Unterseite der Gastasche gerissen werden.
Er blickte über die Schulter.
»Ich werfe sie ab!«
Er ließ den Topf los, der von Flammen umzüngelt hinabfiel. Stöhnend verfolgte Fjodor, wie die Bombe am Bug des mittleren Luftschiffs vorbei zur Erde hinabstürzte, wobei der Docht ausging. Das feindliche Schiff zog unter ihnen vorbei, den Bug weiter nach oben gerichtet, die vorn aufgemalten Adleraugen kaum sichtbar. Jack flog geradlinig weiter.
»Gib uns volle Fahrt, Fjodor!«
Jack riss das Ruder heftig herum, und die Flying Cloud wendete nach Osten und zog achtern an den feindlichen Schiffen vorbei, die noch im Steigflug waren.
Wie schwarze Wale gewannen die Merkischiffe langsam an Höhe. Der jetzt ganz auf Ost drehende Wind trieb die Flying Cloud weiter achtern an den Feindschiffen vorbei. Jack setzte das Wendemanöver fort und hielt jetzt die Flughöhe gut achthundert Meter hinter den Merkischiffen, die nach wie vor in nördlicher Richtung anstiegen.
Jack suchte sich das Merkischiff aus, das am weitesten östlich flog, und nahm direkten Kurs darauf.
Direkt unter ihm zog die alte Schmiede vorbei, die älteste Eisengießerei auf dem Planeten Waldennia, und die Arbeiter sprangen draußen auf der Bahntrasse auf und nieder und schrien ermunternde Worte hinauf.
Das Wettrennen im Steigflug setzte sich fort, wobei die feindlichen Schiffe einen Vorsprung hielten, wiewohl Jack feststellte, dass er mit vollständig geschlossenem Abluftventil schneller als sie an Höhe gewann.
Parallel zur MFL&S-Bahnlinie näherten sich die fünf Luftschiffe Suzdal.
»Kannst du nicht mehr Geschwindigkeit herausholen?«
»Das Gas ist bereits bis zum Anschlag geöffnet!«, schrie Fjodor.
Jack ging jetzt in langsamen Sinkflug über. Der Fahrtwind rüttelte an seinem Gesicht, und das Schiff stampfte in der Nordbrise, während warmer Aufwind von den offenen Feldern kam. Langsam holte die Flying Cloud auf, und Jack senkte den Bug noch etwas stärker.
Er hielt das Ruder so fest umklammert, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten, und lenkte das Luftschiff achtern an das am weitesten östlich fliegende Merkifahrzeug heran, das den Steigflug fortsetzte, während die Flying Cloud sank. Er drückte das Ruder hart nach rechts, um nicht ins Heck des Gegners zu krachen, und dann gleich hart nach links.
»Jetzt, Fjodor!«
Der Luftschiffmechaniker hob einen Revolver, während die Kabinen der beiden Schiffe keine zehn Meter weit aneinander vorbeizogen und sich die Gastaschen aneinander rieben.
Die beiden Merki blickten ihn mit großen Augen an. Fjodor legte den Revolver an und drückte ab, spannte, schoss erneut und dann ein drittes Mal.
Einer der Merki zuckte zusammen, und der andere schüttelte die Faust, während seine Wutschreie das Tosen der Heißluftmaschine übertönten. Das feindliche Schiff stieg weiter, als die Flying Cloud vorbeischoss. Da der Revolver leergeschossen war, nahm Fjodor jetzt eine Muskete mit abgesägtem Lauf zur Hand. Er beugte sich weit aus der Kabine und gab einen krachenden Schuss ab; der Rückstoß der Doppelladung Rehposten rammte ihn mit solcher Kraft zurück, dass ihm die Waffe aus der Hand fiel und sich überschlagend zur Erde hinunterfiel. Einer der Merki sackte rückwärts und hielt sich die Schulter.
»Hab ihn erwischt!«, brüllte Fjodor.
Jack schrie vor Freude und zog den Bug der Flying Cloud hoch, während das feindliche Schiff nach Westen wendete und das Heck in den Wind drehte.
Jack lenkte die Flying Cloud in eine flache Kurve nach links, hielt den Bug aufwärts und nahm Kurs auf die drei übrigen Schiffe. Das ihm nächste wendete sich ihm unvermittelt frontal zu, den Bug um fünfundvierzig Grad hochgezogen, und die beiden Merkipiloten hingen dabei auf ihren nebeneinander angeordneten Sitzen.
Jack fühlte sich zu einem Frontalangriff versucht, um mit dem eigenen Schiff direkt in die unter dem Ballon baumelnde Kabine zu pflügen, aber der Gedanke, was dabei womöglich passierte, verlockte ihn doch, das Ruder vorzuschieben und mit der Flying Cloud zu sinken, wobei er sie wieder scharf nach Norden lenkte. Die beiden Schiffe zogen aneinander vorbei, die Merki weiter oben. Er spürte einen dumpfen Schlag.
»Heiliger Kesus!«, brüllte Fjodor.
Jack blickte nach achtern und sah eine Merkibombe zur Erde hinabtrudeln, wobei die Zündschnur Funken versprühte. Die Bombe schrumpfte zu einem schwarzen Punkt zusammen und explodierte auf einem Feld südlich der Stadt.
»Sie ist direkt auf uns gefallen und nicht explodiert!«, keuchte Fjodor.
Jacks Beine zitterten und fühlten sich an wie Gelee. Die beiden übrigen Schiffe wendeten jetzt ebenfalls und nahmen ihn aufs Korn.
»Halt dich fest, Fjodor!« Er zog das Höhenruder bis zum Anschlag nach hinten.
Das Schiff stieg steil hoch, und er betete darum, dass das Merkischiff, das sie bombardiert hatte, inzwischen vorbei war, denn die eigenen mächtigen Gasbeutel blockierten ihm vollständig die Sicht nach oben.
Der Bug stieg über einen Winkel von fünfundvierzig Grad hinaus, bis auf sechzig, und er schob das Ruder wieder in die Stellung für gleichbleibende Flughöhe und drückte sich selbst in den Sitz zurück, während der an seinem Sicherheitsgurt baumelnde Fjodor hinter ihm heftig fluchte.
Wie zwei Seiten eines Dreiecks, die sich zur Spitze hochstemmten, stiegen die Schiffe der Merki und der Rus-Aerodampfer gen Himmel. Jack legte das Ruder nach rechts und drehte sein Fahrzeug so nach Nordwesten. Das nächste Merkischiff zog rechts an ihm vorbei und stieg in Gegenrichtung, und die beiden Piloten schüttelten wütend die Fäuste. Jack zog einen Revolver; Fjodor folgte seinem Beispiel, und sie ballerten los. Die beiden Merki duckten sich, als die Schiffe aneinander vorbeizogen, und als der Beschuss endete, richteten sie sich wieder auf und schrien Kränkungen.
Das letzte Merkischiff zeichnete sich jetzt vor Jack ab, und er konnte feststellen, dass die Flying Cloud etwas schneller an Höhe gewann als der Feind.
»Mach eine weitere Bombe fertig!«
Fjodor griff neben sich und schnitt diesmal den Korb mit den zerbrechlichen Krügen los, der seitlich an seinem Sitz hing. Er balancierte den Korb auf seinem Schoß und holte einen Krug hervor. Kurz führte er den Docht in den Kessel ein, zog ihn wieder heraus und legte den Krug zu den restlichen Behältern zurück.
Er streckte den Korb zur Seite aus, während sich die Zündflamme voranfraß.
»Mach schnell!«, brüllte Fjodor.
Jack wendete das Schiff nach Südwesten zurück, und der Bug des Feindschiffs zog keine dreißig Meter unter ihnen vorbei.
Fjodor ließ den brennenden Korb fallen. Er rammte die Oberseite des feindlichen Ballons, noch während der Merkipilot nach Westen zu drehen versuchte, ein vergeblicher Versuch, auf Parallelkurs zur Flying Cloud zu gehen. Der Korb rutschte an der Seite des Ballons hinab und zog flüssiges Feuer nach.
Das Feindschiff drehte sich weiter, und die Flammen leckten an der Seidenbespannung. Dann schienen sie auszugehen und nur eine kleine Rauchwolke zu hinterlassen.
Fjodor lehnte sich aus der Kabine und sah sich das Geschehen an. Die Seidenbespannung des Merkischiffs schien auf einmal zu schmelzen, und eine kaum sichtbare blaue Flammenzunge kräuselte sich auf der Oberseite, wo der Benzinfluss aus dem zerbrochenen Krug die Seide durchnässt hatte.
»Es fangt Feuer!«, brüllte Fjodor.
Jack blickte über die Schulter.
Der geschmolzene Kreis aus Seide schälte sich auf, und ein blauer Flammenstrahl schoss empor.
»Es explodiert!«, kreischte Jack.
Ein Beben lief durch das Merkischiff, und die Ballontasche beulte sich ein. Das Schiff sackte über den Bug ab, und Fetzen brennender Seide schossen auf einem Hitzefluss in den Himmel und trafen auf die Unterseite der Flying Cloud, die aufwärts strebte und dabei wild bockte.
Entsetzt riss Jack das Ruder hart nach rechts und wendete nach Nordwesten, ging auf einen Kurs, der ihn schnurstracks über den Neiper führte. Das feindliche Schiff faltete sich allmählich zusammen und zog einen Bogen aus Feuer über den Fluss, der den feurigen Widerschein dieses Todessturzes spiegelte. Auf einem Flammenstrom trudelte das brennende Schiff zu Boden. Eine rauchumzüngelte Gestalt sprang heraus, und obwohl sie ein Merki war, wurde Jack schlecht bei dem Anblick, wie sie mit weit ausgebreiteten Armen abstürzte und dabei Rauch hinter sich herzog. Die Gestalt prallte am Westufer des Flusses auf, Sekunden später gefolgt vom Schiff, das in den Wald stürzte und diesen in ein qualmendes Inferno verwandelte.
»Kesus und Perm mögen uns davor beschützen«, flüsterte Fjodor.
Erschüttert von dem, was er angerichtet hatte, ließ Jack das Schiff einige Sekunden lang schnurgerade weiterfliegen und dachte dabei über das brennende Wrack fast einen Kilometer unter ihm nach.
»Die anderen sehen zu, dass sie wie der Teufel verschwinden«, meldete Fjodor. Jack blickte erneut über die eigene Schulter und sah, dass das Schiff mit dem verletzten Piloten schon ein paar Kilometer weit achtern war, gefolgt von den beiden anderen. Die Flying Cloud war ihrerseits nun mehr als anderthalb Kilometer über das Westufer des Neiper hinaus und bot Ausblick auf die in den Bergkamm eingegrabenen Merkikanonen. Weit im Süden, mehr als fünfzig Kilometer entfernt, erblickte Jack dunkle Schlangen, Marschkolonnen der Horde.
»Wir halten über der Stadt an«, verkündete er, der auf einmal besorgt war mit ihrer aktuellen Position über feindlichem Gebiet, wo ein unvermittelter Triebwerkausfall zu entschieden unerfreulichen Konsequenzen führen konnte.
Er drehte das Schiff nach Osten und passierte das immer noch brennende Wrack im Norden.
»Erste Kerbe«, sagte er kalt.
»Sie haben nur etwa zwanzig weitere«, sagte Fjodor.
Jack nickte und sagte nichts dazu. Dieser erste Abschuss war dem Überraschungsmoment zu verdanken – nächstes Mal würden die Merki kampfbereit sein. Das zweite Mal versprach nicht mehr so leicht zu werden.
Als es zurück über den Fluss ging, drehte er die Flying Cloud in den Wind, und Fjodor drehte das Gas zurück, bis sie gerade eben noch die Brise aus dem Norden ausglichen und über dem großen Platz von Suzdal schwebten. Die Glocke des Doms läutete, und der Platz war voller nach oben gerichteter Gesichter, von denen Jubelrufe aufstiegen. Fjodor blickte hinter sich und sah, wie die feindlichen Schiffe ihren Flug nach Süden fortsetzten und immer kleiner wurden.
»Für heute haben sie genug«, verkündete er.
»Nun, genießen wir etwas den Ruhm!«, rief Jack. Er packte die schwarze Schnur des Abzugsventils, ließ das Schiff sinken und schloss das Ventil wieder, sodass sie schließlich knapp siebzig Meter über dem Platz schwebten.
Die beiden lehnten sich aus der Kabine und winkten und verneigten sich wie Ritter, die siegreich vom Turnier zurückkehrten. Mit einer leichten Betätigung des Ruders wendete Jack das Schiff nach Nordosten, und Augenblicke später wurden sie langsamer und schwebten über den Fabriken, wo ihnen Tausende zujubelten.
»Zeit fürs Abendessen!«, rief Jack schließlich. »Fliegen wir nach Hause!«
Fjodor drehte das Gas voll auf, und mit hochgerecktem Bug stieg die Flying Cloud und raste zu ihrem Hangar zurück.
»Na, jetzt müssen wir uns überlegen, welche Taktik wir nächstes Mal anwenden«, stellte Fjodor ernst fest.
»Jesus, eins nach dem anderen!«, entgegnete Jack, dessen Gedanken noch immer vom Anblick der brennenden Gestalt erfüllt waren, die sich überschlagend in ihren grausigen Tod stürzte.
Voller Wut verfolgte Jubadi, wie das Viehluftschiff nach Nordosten schwenkte und höher in den Nachmittagshimmel stieg.
»Wie nur, wie im Namen von Bugglaahs Fell?«
»Es ist doch immer das Gleiche«, gab Hulagar zu bedenken. »Sie bauen etwas, dann erbeuten wir es und bauen es nach. Und dann erzeugen sie etwas Neues, um uns damit zu übertrumpfen. Wir hatten durch die Wolkenflieger einen Vorteil. Jetzt haben sie die gleiche Technik entwickelt.«
»Wir hätten damit rechnen müssen!«, schimpfte Jubadi.
»Das haben wir. Wir konnten nur nicht herausfinden, wo sie das bauten.«
»Aber das Triebwerk! Wir haben unseres in einem Grab der Alten gefunden. Wo hat das Vieh seines her?«
»Sie haben selbst eines gebaut«, warf Muzta ein.
Jubadi warf dem Tugarerv einen ärgerlichen Blick zu.
»Ich muss wissen, wo sie stecken, was sie hinter diesem verdammten Fluss treiben.«
»Gib mir nicht die Schuld«, sagte Muzta lächelnd.
»Vielleicht sollten wir das aber«, mischte sich Vuka ein. »Hättet ihr euer eigenes Vieh von Anfang an unter Kontrolle gehalten, dann hätten wir jetzt nicht diese Schwierigkeiten.«
»Ich bin begierig zu erleben, wie du dich damit versuchst, oh Zan Qarth. Vielleicht würdest du gern den Angriff über den Fluss persönlich führen, wie es mein jüngster Sohn getan hat.«
Muzta legte eine Pause ein.
»Er ist natürlich dabei gefallen.«
»Zweifelst du an meinem Mut, Tugare?«, knurrte Vuka. Er tat einen Schritt auf Muzta zu, und die tugarischen Leibwächter traten ihrerseits vor, die Hände auf den Schwertgriffen.
»Da lachen die Yankees doch gleich doppelt so laut«, mischte sich Tamuka mit kalter Stimme ein. »Einmal über ihren Triumph, und falls sie uns hier zanken sehen könnten, darüber gleich noch einmal.«
Muzta zeigte Vuka ein boshaftes Grinsen.
»Natürlich würde ich niemals an deinem Mut zweifeln«, flüsterte er. »Alle wissen doch, wie gut du vor uns auf dem Fluss gekämpft hast.«
Vuka wurde wütend, aber zugleich trat ein nervöser Ausdruck in seine Augen.
»Zan Qarth!«, schnauzte Jubadi. »Der Feind steht auf der anderen Seite des Flusses.«
Mit einem bitteren Fluch nahm Vuka die Hand vom Schwert und stolzierte davon.
»Wir müssen das Versteck ihrer Wolkenflieger und die Fabrik dafür finden und sie zerstören«, sagte Hulagar. »Lasst uns Waffen herstellen, um damit feindliche Wolkenflieger abzuschießen.«
»Wer soll das machen?«, fragte Tamuka leise.
»Das Vieh, das diese Maschinen schon von Anfang an hergestellt hat«, antwortete Jubadi.
»Oh ja, aber natürlich«, sagte Tamuka.
Ein Peitschenknall unterbrach das Gespräch, und Jubadi wandte sich ab und blickte den Hang hinunter. Eine lange Kolonne Carthavieh stolperte die Bahntrasse entlang und kam gerade ins Blickfeld.
»Morgen erreichen sie die erste Furt. Dann können wir mit dem Bau einer neuen Mole beginnen. Innerhalb von fünf Tagen möchte ich Stellungen über hundertfünfzig Kilometer entlang des Flusses haben. Wir müssen den Druck aufrechterhalten. Falls wir länger in diesem Wald feststecken, droht uns eine Katastrophe.«
Tamuka sagte nichts, sondern betrachtete forschend Muzta, über dessen Gesicht ein leises Lächeln lief, während er auf das brennende Wrack starrte.