Kapitel 5
Im ersten Licht des Morgens ritt Tamuka in das Lager, das von einem flackernden Feuer markiert wurde. Auf dem Gipfel einer kleinen Anhöhe blickte er zurück nach Westen. So weit das Auge reichte, verschwand die Steppe förmlich unter der gewaltigen Kolonne von fünfundzwanzig Umen, einer Viertelmillion Krieger, achthundert Meter breit und mehr als dreißig Kilometer lang. Das Donnern der Hufe erinnerte an ein Gewitter, als sie durch die Untiefen eines breiten, flachen Stroms platschten.
Vuka grinste begeistert, sprang aus dem Sattel und gesellte sich zu seinem Vater, der an einem Baum lehnte und sich den Vorbeimarsch des Heeres ansah.
Tamuka verneigte sich ehrerbietig und ging zu Hulagar hinüber.
»Läuft alles gut?«, fragte er, setzte den Helm ab und fuhr sich mit der Hand durch die Mähne.
»Der Überfall ist wie geplant verlaufen. Es scheint, dass wir bislang unentdeckt geblieben sind.«
»Sie haben uns früher schon überrascht«, mahnte Tamuka zur Vorsicht.
Hulagar nickte.
»Ich denke allerdings, dass wir sie diesmal vielleicht erwischt haben«, sagte der Schildträger des Qar Qarth. »Ihre Flussverteidigung ist bis zu der Stelle, wo sich der Fluss gabelt, gut ausgebaut. Dort haben sie dann ihre Anlagen entlang des nördlichen Arms errichtet. Am hiesigen Flussarm haben sie nur Spähposten errichtet, einen halben Tagesritt weiter draußen.«
Tamuka nickte und griff an die Hüfte, wo er eine Wasserflasche fand und öffnete. Er nahm einen tiefen Schluck und wischte sich die Lippen mit dem Ärmel ab.
»Und die Vushka Hush?«
»Sind bereits in Stellung gegangen.«
Tamuka blickte zu Jubadi hinüber, der inzwischen auf der Erde saß und sich über eine Karte beugte.
Innerlich war Tamuka dankbar dafür, dass Jubadi die Bitte des Zan Qarth abgelehnt hatte, die Vushka begleiten zu dürfen. Die Vushka waren, begleitet von einem Regiment Tugaren, mehr als dreihundert Kilometer weiter nach Westen vorgestoßen und dazu schon vor zehn Tagen von der Hauptkolonne aus aufgebrochen. Vor vier Tagen hatten sie ihre Pferde stehen lassen und den Wald betreten, einem Weg folgend, der schon im Winter heimlich markiert worden war. Es war würdelos für Krieger vom Blut der Horden, zu Fuß in die Schlacht zu ziehen, und die elftausend Krieger waren außerdem mit mörderischem Tempo marschiert. Sobald die Flanke jedoch umgangen war, würde man ihnen wieder ihre Pferde zuführen.
Hulagar gesellte sich nun zum Qar Qarth, gefolgt von Tamuka. Jubadi blickte auf und nickte Tamuka grüßend zu, und der Schildträger stellte fest, dass er etwas leichter atmete. Seit dem Mondfest hatten sie nicht mehr miteinander geredet, und dies war jetzt das erste Zeichen, dass sich jeder Groll, der womöglich noch bestand, gelegt hatte. Tamuka sah Muzta ein Stück abseits stehen, und der Qar Qarth der Tugaren lud ihn mit einem Wink ein, zu ihm zu kommen.
»Wie ich höre, haben deine Krieger gut gekämpft«, sagte Tamuka höflich, nachdem er sich tief verneigt hatte.
Muzta lachte leise.
»Natürlich. Der große Wald ist für euch vielleicht fremd, aber er bildet die Nordgrenze unseres Reichs.«
Tamuka nickte. Er fand die dräuenden Wälder düster und beunruhigend, als würden sie in ihrer unheimlichen Stille eine vage Drohung bergen. Sie schienen die Grenze der Welt zu markieren, und er betrachtete sie voller Missfallen.
»Meine Pfadsinger können dir jeden Berg, jede Flussüberquerung, jeden Gebirgspass auf der ganzen Welt nennen, eine komplette Umkreisung weit, aber vierhundert Meter tief in diesem Wald beginnt selbst für uns ein Mysterium. Nur hier und bei Kyhmer auf der anderen Seite der Welt müssen wir hineinreiten, um dem Meer auszuweichen.«
Muzta brach ab und blickte auf die Steppe hinaus. Vor drei Wintern war er durch diese Landschaft geritten, er selbst an der Spitze seiner Umen, bereit, die Rus mit, wie er glaubte, einem Krieg von nur einem Tag Dauer zusammenzukehren – eine kleine Abwechslung, ein Vergnügen. Nur Qubata hatte anders gedacht, und Qubata war jetzt tot.
Wie sehr die Welt sich gewandelt hatte! Er schirmte die Augen vor der Morgensonne ab und blickte nach Osten. Am fernen Horizont erkannte er mit knapper Not die wurstartige, verschwommene Erscheinung eines Wolkenfliegers; er schwebte am Himmel und markierte die Außenlinie der Vorreiter, die weit vorgedrungen waren, um den Vormarsch der Hauptmacht abzuschirmen. Eine Batterie mit sechs Kanonen ratterte gerade an Muzta vorbei; die Mannschaften peitschten auf die schwitzenden Pferde ein, und ein frisches Gespann trabte nebenher, um angeschirrt zu werden, falls ein Zugpferd zusammenbrach und dem Essensmeister übergeben wurde.
Zwei Pferde pro Tag ernährten derzeit ein Regiment von tausend Mann. Sie schlachteten die eigenen Rösser, um die Armee am Leben zu halten, bis endlich die erhofften Horden von Gefangenen gemacht wurden.
Wie sich alles verändert hatte! Muztas Gesicht blieb jedoch starr und verriet nichts.
»Denkst du nach wie vor an einen möglichen Untergang?«, fragte er leise.
Tamuka blickte den Tugaren an, sagte aber nichts.
Ein Klappern drang über die Lichtung, und Tamuka drehte sich zu einem Kreis von Tugaren um, die neben einer Drahtsprechermaschine standen. Ein Stück Vieh saß auf dem Boden und blickte sich mit panisch geweiteten Augen um.
Einer der Tugaren sagte etwas auf Rus und stieß das Stück Vieh mit dem Stiefel an. Der Mensch warf kurz einen Blick auf Tamuka, und dieser sah den Hass darin aufflackern.
Eine Sekunde lang blickten sie sich gegenseitig in die Augen, dann legte das Stück Vieh die Hand auf die Maschine, und die Antwort klickte aus der Taste.
Einen Augenblick später lag der Mann lang am Boden und strampelte krampfartig mit den Beinen.
»Er hat uns verraten!«, knurrte ein Tugare. »Er hat das Wort ›Falle‹ gesendet.«
Jubadi blickte von der Karte auf.
»Kannst du es wieder korrigieren?«, fauchte er.
Zögernd kniete sich der Tugare neben die Leiche und legte die Hand auf die Taste. Er tippte eine Meldung und wartete.
Keine Antwort erfolgte. Er blickte nervös zu Jubadi hinüber.
»Sie müssen Bescheid wissen«, flüsterte er.
Fluchend rappelte sich Jubadi auf.
»Wir können nicht länger warten. Signalisiert den Vushka, sie sollen angreifen. Wir schlagen los!«
Ein Signalmann, der neben Jubadi stand, stürmte von der Lichtung und brüllte Befehle. In Sekunden reckte ein berittener Krieger eine lange Stange hoch, an der eine hellrote Flagge von zwölf Quadratfuß flatterte, durchzogen von einem weißen Streifen. Etliche Kilometer östlich stieg eine weitere Flagge hoch, und dahinter wieder eine und so weiter. Der Befehl des Qar Qarth fegte nach Osten durch den Wald zu den Stellungen der Vushka, die sich schon lange versteckt hielten und auf den Angriffsbefehl warteten.
»Und, was denkt Ihr?«, fragte Andrew.
Die Gestalt mit der Kapuze kam näher, und der Hauch eines Lächelns lief über ihr Gesicht.
»Es ist, wie ich erwartet habe. Vergesst nicht: ich hatte ja angedeutet, dass sie womöglich so vorgehen«, antwortete Juri.
Andrew nickte fast unmerklich.
»Es ist schön, wieder in der offenen Landschaft zu sein«, sagte Juri, »den Steppenwind zu riechen und den Duft der blühenden Kargak.«
Andrew musterte ihn. Kargak musste ein Merkiwort sein. Er fragte nicht danach. Dieser Mann war ebenso Merki wie Mensch.
»Was Ihr Schutz nennt, ist für mich die Hölle«, fuhr Juri fort.
Andrew sagte nichts dazu. Juri war vom eigenen Volk ausgestoßen worden. Er war mit den Merki geritten, und obwohl er ihr Gefangener gewesen war, so doch zugleich auch einer von ihnen. Er hatte Menschenfleisch verzehrt und war unberührbar.
Andrew rang mit dem eigenen Widerwillen. Er dachte gern, dass er als Gefangener eher sterben als sich unterwerfen würde. Aber der Funke des Lebens war stark. Er bemühte sich, nicht an diese Möglichkeit zu denken.
Zwei Tage nach Juris Rückkehr hatte jemand versucht, ihn zu erstechen. Seitdem hatte er behaglich auf dem Land gelebt, allerdings bewacht und eingesperrt.
Und jetzt brauchte Andrew ihn.
»Die Steppe – sie ist inzwischen Euer Zuhause, nicht wahr?«
»Zwanzigjahre, Keane. Ich bin um die ganze Welt geritten. Ich habe Barkth Nom gesehen, das Dach der Welt in seinem Schneekleid, und Lichter tanzten zwischen den Gipfeln. Ich habe die gewaltigen Ebenen von Ur gesehen, wo man zwanzig Tage lang reitet und die Welt die ganze Zeit lang so flach aussieht, als wäre sie auf einer Tafel ausgebreitet.
Als die Horde die Hügel von Constan überquerte, stand ich auf der höchsten Erhebung, und so weit das Auge reichte, blickte ich auf die Horde in ihrer schier grenzenlosen Zahl. Ich bin durch so hohes Gras geritten, dass es mir über den Kopf reichte – ein grüner Ozean, der im Wind schwankte und gesprenkelt war von den Köpfen von hunderttausend Kriegern. Ich habe die kreisenden Stürme gesehen, das grüne Aufleuchten bei Sonnenuntergang, die Welt in Eis gehüllt und Felder voller Kargak, so rot, dass die Welt sich ausbreitete wie ein Scharlachteppich.
Ich habe mehr gesehen, als Ihr Euch vorstellen könnt, der Ihr an nur einem Ort lebt. Ich habe wie ein Merki gelebt.«
»Und Ihr habt Gefallen daran gefunden«, sagte Andrew.
Juri lächelte von neuem.
»Wenn man von bestimmten Anforderungen des Überlebens absieht, wer könnte es nicht lieben? Keane, jeden Tag, an dem Ihr wach werdet, wisst Ihr, was Ihr zu sehen bekommt, wenn Ihr zu Eurer Tür hinausgeht. Tage werden zu Monaten und zu Jahren, und immer bleibt es gleich. Ich habe mehr vergessen, als Ihr je sehen werdet.«
»Und Ihr habt das Schmausen gesehen.«
Juri blickte ihm offen in die Augen.
»Ja, ich habe das Schmausen gesehen.«
Andrew blickte ihm in die Augen. Was hatte er wirklich alles gesehen? Wie üblich zeigte sich Juri ausdruckslos, und Andrew ging ein flüchtiges Erinnerungsbild von Konterbande durch den Kopf, den flüchtigen Sklaven, die die Frontlinien durchquerten. Von ihnen kannte er solche Gesichter schon: ausdrucksloses Starren, das einem weißen Mann niemals ein Gefühl verriet, einem Mann, der sie womöglich beherrschen konnte. So hatte auch dieser Mann als Schoßtier, als Sklave überlebt. Er hatte jedes Gefühl überwunden, jeden Hass, jede Liebe, hatte all das Grauen mit leerem Blick verfolgt und sich lieber an Augenblicke erinnert, die eine besondere Saite in seinem Herzen anschlugen. Und trotzdem hegten fast alle von der Konterbande einen tiefen und hartnäckigen Hass auf ihre Herren. Fast alle. Ein paar traf man an, die in jener seltsamen perversen Beziehung zwischen Sklave und Herr Liebe zu ihren Eigentümern entwickelt hatten.
Andrew fasste Juri schärfer ins Auge. War er einer von diesen wenigen und hielt er nach zwanzig Jahren denen die Treue, die das Fleisch seiner Mitmenschen verzehrten? War er ein Spion, wie Hans und Kai glaubten? Oder war er nur eine arme gequälte Seele, aufgrund seiner Sünden aus beiden Welten verstoßen, die er kannte?
»Zuzeiten empfindet Ihr Abscheu für mich«, stellte Juri lächelnd fest.
Andrew sagte nichts dazu.
»Ich kann das verstehen. Meist verabscheue ich mich selbst.«
Andrew wandte sich von ihm ab und blickte wieder zu den feindlichen Linien hinüber.
»Erklärt mir, was geschehen wird«, verlangte er schließlich und beendete damit das unbehagliche Schweigen.
»Seht Ihr diese Standarte, die rote Stange mit dem Querbalken?«
»Sieht fast wie ein Kreuz aus«, sagte Andrew, nachdem er den Feldstecher auf die von Juri angegebene Stelle geschwenkt hatte.
»Es ist die Standarte des Qar Qarth Jubadi. Zwanzig Rossschweife hängen an der Stange, einer für jeden Unterclan der Merkihorde. Das bedeutet: er ist da.«
Andrew nickte.
»Oder zumindest heißt es: er möchte, dass Ihr denkt, er wäre da.«
Andrew sah Juri wieder an und bemerkte dabei im Augenwinkel den eigenen Fahnenträger, der das blaue Tuch mit dem Adler eines Colonels hochhielt. Die Fahne hing schlaff, und er fragte sich unvermittelt, ob es wirklich eine so gute Idee gewesen war, die eigene Stellung zu verraten.
»Womit können wir als Nächstes rechnen?«
»Selbst wenn er einen von vornherein verlorenen Krieg führt«, antwortete Juri, »ist die Gerissenheit Jubadis bei seinem Volk geradezu legendär. Wenn er nicht dabei steht, nennen sie ihn liebevoll ›Vag Oge‹, den Schlauen Fuchs. Ich habe Euch schon erzählt, wie er vor zwei Jahren das Elite-Umen der Bantag in eine Falle lockte und vernichtete.«
Andrew nickte.
»Das ist sein Stil – er geht gern selbst an die Front. Ohne seinen Schildträger wäre er wahrscheinlich schon längst tot.«
»Schildträger?«
Juri lachte leise.
»›Pak qar numradgs so lautet die genaue Bezeichnung.«
»Und was bedeutet das?«
»Die Merki werden regiert von Jubadi, dem Qar der Qarths oder Qar Qarth, dem Oberhäuptling der Clans. Der Schildträger verkörpert eine seltsame Kombination. Er ist zum Teil Leibwächter, trägt demzufolge den Bronzeschild und reitet an der Seite des Qar Qarth in die Schlacht. Er ist aber auch Schamane und Ratgeber. Er ist der Einzige, der furchtlos mit Jubadi reden kann. Sollte sich der Qar Qarth als völlig unfähig erweisen, kann er ihn sogar beseitigen.«
»Ihn töten?«
Juri nickte.
»Seltsam. Also ist er so mächtig wie der Qar Qarth – in gewisser Weise noch mächtiger.«
»Nicht ganz. Die Merki glauben, dass die wenigen zum Schildträger Berufenen von einer anderen Art innerem Geist geführt werden, den sie Tu nennen. Somit sind sie nicht fähig, echte Krieger zu sein.«
»Warum?«
»Weil sie dazu ausgebildet sind zu denken, zu überlegen, zu führen und niemals direkt zu handeln; ihre ganze Kraft wenden sie auf, um ihren Qarth zu leiten.«
»Der intellektuelle Ratgeber, der somit untauglich zum Soldaten ist«, sagte Andrew und lachte leise.
»Ich frage mich, was sie wohl von einem Geschichtslehrer hielten, der ein Kriegskommando innehat«, flüsterte er auf Englisch.
Er blickte wieder Juri an.
»Sagt mir, was Jubadi tun wird.«
»Das Unerwartete. Das könnt Ihr bereits am Einsatz der armen Schweine da draußen erkennen.« Er deutete zur Mole hinüber, die gerade, während sie dieses Gespräch hielten, erneut von der ersten Befestigungsreihe aus massiv beschossen wurde.
»Sie wissen, dass es Euch erschüttert, die eigenen Artgenossen zu töten, dass es womöglich sogar Euer loses Bündnis mit Hamilcar zerstört. Sie zwingen Euch, Eure Munition zu vergeuden, wohl wissend, dass Ihr damit zugleich ihr Essen für sie schlachtet.«
Wie um diese Aussage noch zu unterstreichen, feuerte eine Batterie Vierpfünder eine Salve ab, und eine Sekunde später schien das andere Ufer förmlich in einem Regen aus Gischt und Schlamm zu explodieren, als die Kartätschen hineinjagten.
»Wie ich Euch schon einmal erzählt habe, nennt man Jubadis Lieblingsmanöver im Feld ›die Hörnen. Beide Flanken fächern weit aus, während das Zentrum voll in den Feind hineinrammt und ihn festhält; die Hörner umschließen ihn dann.«
»Hier schwer durchzuführen«, fand Andrew.
»Vergesst jedoch nicht, dass die Merki sich der Tradition verpflichtet fühlen. Ihre Welt ist, zumindest in ihren Augen, geprägt vom Wandel des Immergleichen. Sie besteht aus dem immer währenden Ritt zur Sonne. Dahinter zurück bleiben die zahllosen Generationen der Ahnen – so war es, und so wird es immer sein. Traditionen und deren Symbole bedeuten einfach alles.«
Eine vom anderen Ufer abgefeuerte Granate summte über sie hinweg und folgte einem langen trägen Bogen von extremer Reichweite, um schließlich in fast hundert Metern Entfernung einzuschlagen. Juri zuckte zusammen und schien leicht verlegen, als er sah, dass Andrew überhaupt keine Reaktion zeigte.
»Bin nicht daran gewöhnt«, sagte Juri betreten.
»Man gewöhnt sich im Grunde nie daran. Man lernt nur, wann man sich wirklich ducken muss.«
»Eine schreckliche Methode, Krieg zu führen.«
»Der einzige Weg, sie zu schlagen!«, erwiderte Andrew scharf. »Ihr habt von Tradition gesprochen. Der Gebrauch von Artillerie muss ihnen sauer aufstoßen.«
»Es ist ihnen zuwider«, sagte Juri und lachte in sich hinein. »Letztes Jahr dachten sie noch, sie könnten die Schmutzarbeit einfach von Menschen ausführen lassen. Jetzt jedoch müssen sie sich selbst die Hände schmutzig machen und fühlen sich erniedrigt. Krieg, das ist für sie der Einsatz von Bogen, Lanze und Krummschwert, der Kampf gegen Widersacher vom gleichen Stande. Ehre ist dabei ein noch wichtigeres Ziel als Eroberung. Das war das Härteste überhaupt für sie: einen Krieg gegen Vieh führen.«
Wie er das Wort »Vieh« aussprach, das fand Andrew beunruhigend – er schien es beinahe auszuspucken, als schmeckte es widerlich.
»Jubadi denkt gern, dass er die neuen Waffen einfach wieder zerstören kann, wenn Ihr erst mal besiegt seid -so, wie es im Krieg gegen die Yor vor mehr als hundert Umkreisungen war.«
»Die Yor?«
»Die Sänger sprechen von einer kleinen Gruppe Lebewesen, von Gestalt anders als wir oder die Merki. Aus ihren Waffen schoss Licht, in dem alle dahinschmolzen, die sich gegen die Yor zu stellen versuchten. Tausende starben, um die wenigen Yor zu vernichten, und als es geschafft war, warfen die Horden die Waffen ins Meer.«
»Wo?«
»Hinter Constan«, antwortete Juri.
Andrew nickte schweigend.
»Werden die Merki hier mit voller Macht angreifen?«, fragte er schließlich.
Juri lächelte.
»Ihr verlangt Spekulationen von mir. Ich war nur ein Schoßtier. Ich kenne ihre Pläne nicht, und es liegt Monate zurück, dass ich entkommen bin.«
»Ihr wisst, wie sie denken. Ihr seid der einzige Mensch, der sie auf einer ganzen Umkreisung begleitet hat und noch davon erzählen kann.«
Er musterte Juri scharf. Er hatte inzwischen einen Verdacht, was diesen Mann anbetraf, aber noch hatte er mit niemandem darüber gesprochen. Die Idee nahm seit ihrer ersten Begegnung allmählich vage Gestalt an. Er glaubte zu ahnen, warum Juri hier war – ein Spiel innerhalb eines Spiels. Er ließ den Gedanken jedoch vorläufig fallen und wollte lieber über das Naheliegende reden.
»Was werden sie tun?«
»Das, was Ihr nicht erwartet.«
»Die Flanke, wie General Schuder sagte?«
»Falls sie diese Mole fertig stellen, wird der Pegel des Flusses auf Kilometer hinaus sinken. Also schwärmen sie womöglich doch frontal herüber.«
Er deutete auf den Aerodampfer; die Maschine hing über der Front wie ein bösartiger Falke, der seine Beute anvisierte. Der Bug war in den leichten Nordwind gewandt, und die aufgemalten Symbole von Augen und Schnabel vermittelten einen kalten, bösen Eindruck.
»Damit bleiben sie über die Verteilung Eurer Truppen stets auf dem Laufenden.«
Andrew nickte und sagte nichts, verfluchte aber in Gedanken die Tatsache, dass ihre eigenen Fortschritte so langsam kamen. Juri hatte ihm schon am ersten Abend berichtet, wie die Merki eine Grabstätte ihrer Ahnen geplündert und dort die seltsamen Maschinen entdeckt hatten, die jetzt ihre Luftschiffe antrieben. Die Yor, die Grabstätten … was lag noch alles auf diesen endlosen Steppen verborgen?
»Wo sie zuschlagen? ›Mus kala bugth Merki, orgh du pukark calingarn Bugghaal‹.«
»Helft mir auf die Sprünge«, bat Andrew.
»›Wie der Wind ziehen die Merki vorbei, und hinter ihnen wandelt die Göttin des Todes.‹«
»Womit Ihr sagen möchtet, dass wir verlieren werden«, sagte Andrew kalt.
»Keane, egal wie gut Eure Planungen auch sind, sie haben nicht weniger gut geplant, das kann ich Euch versichern. Vielleicht schlagen sie hier zu, vielleicht auch weit draußen auf Eurer rechten Flanke, aber sie kommen auf jeden Fall. Und vergesst auch nicht, dass die Tugaren mit ihnen reiten.«
»Seltsam, nicht wahr?«, fand Andrew.
»Muzta lebt in der Hölle. Er wurde gedemütigt; seine Umen sind tot, und man hat ihn wie einen Bettler vor Jubadi gezerrt und ihm einen Krümel von der Festtafel angeboten. Aber er hat ihnen alles verraten. Sie haben aus seinen Fehlern gelernt und sind bereit.«
Andrew hob erneut den Feldstecher und richtete ihn auf das Südufer, wo eine lange Reihe neuer Gefangener auf die Mole getrieben wurde und die ersten bereits unter vereinzeltem Musketenfeuer fielen.
»Ihr bietet wenig Trost«, sagte Andrew traurig, während er das erbarmungslose Gemetzel auf dem gegenüberliegenden Ufer verfolgte.
»Ich bin nicht gekommen, um Trost zu spenden. Und Ihr habt nicht aus diesem Grund nach mir geschickt.«
Andrew blickte Juri an, als dieser sich erneut zu Wort meldete.
»Ihr vermutet schon, dass Ihr verlieren werdet, nicht wahr?«
Andrew gab keine Antwort.
»Ich bin gekommen, um Euch zu erklären, wie Ihr selbst in Eurer Niederlage noch siegen könnt.«
Hans fluchte lautlos und bemühte sich, seinen Zorn zu beherrschen.
»Sie meinen damit, dass Sie gestern Abend schon einen Verdacht hatten, aber nichts unternommen haben?«
Stanislaw nickte matt.
»Und heute wurde das Wort ›Falle‹ übermittelt.«
»Es kam noch etwas hinterher, aber ungeschickt und langsam: ›Nichts zu melden.‹ Ich bin sicher, dass das nicht unser regulärer Telegrafist war.«
Hans blickte Kindred an, den Kommandeur des 3. Korps.
»Wir erhalten Meldungen von Plänklern, die den Wald fast fünfundzwanzig Kilometer westlich von hier umgehen«, sagte Tim Kindred. »Unsere Vorreiter ziehen sich seit gestern zurück.«
Hans zog an seinem Stoppelbart, die Augen fest zugekniffen.
»Vielleicht hat eine Gruppe Merkiplänkler die Stellung gefunden«, sagte Tim.
»Sie war gut versteckt«, wandte Hans ein.
Schon vor vielen Jahren hatte er auf der Prärie, im Kampf gegen die Comanchen, seinen Instinkten zu vertrauen gelernt.
»Schicken Sie ein Telegramm an Colonel Keane. Informieren Sie ihn, dass ich einen Angriff auf meiner rechten Flanke erwarte.«
Das Summen eines Luftschiffs stieg an, aber er ignorierte es, während Kindred zur Tür ging und einen Blick hinaus warf.
»Es zeigt einen roten Wimpel mit weißem Streifen«, sagte Kindred leise. »Das war bislang nicht zu sehen.«
Hans stürmte zur Tür, drängte sich an Tim vorbei und stürmte auf den umzäunten Paradeplatz der Bastion.
»Kindred, blasen Sie Alarm!«
Er stieg auf die Mauer der Bastion und blickte direkt zu dem Aerodampfer hinauf, der mehrere hundert Meter hoch war; der Wimpel flatterte an der Kabine.
Eine seltsame Stille schien in der Luft zu liegen, und dann trieb aus Norden ein rollender Donner heran wie ein ferner Sturm.
Hans stürmte zu seinem Kommandozug hinüber, dessen Lokomotive bedächtig Dampf ausstieß.
»Fahren Sie mich zur Bastion 110!«, schrie er; seine Stabsoffiziere liefen ihm nach und stiegen an Bord, als die Lokomotive schon Fahrt nach Norden aufnahm.
Andrew musste seinen Zorn beherrschen und seine Schuldgefühle. Die Menschen dort drüben waren so oder so verdammt, und vielleicht lief es so gnädiger für sie. Aber diese Vorstellung half nicht.
Der Potomac lag vor ihm wie ein sich ausbreitender Teppich aus Leichen. Das Licht der Morgendämmerung zeigte die Spitze der Mole jetzt beinahe in der Flussmitte, ungeachtet des fürchterlichen Gemetzels unter den gefangenen Carthas. Obwohl jeder Meter, den die Mole weiter wuchs, hundert Tote kostete, ging es trotzdem weiter, und die Merki schlemmten dabei noch in einem Übermaß an Nahrung.
Gleichmäßig lief das Musketenfeuer die Frontlinie entlang und streckte immer mehr Arbeiter nieder. Immer mehr versuchten zu fliehen, aber durch die weit vorgeschobene Mole war die Strömung viel starker geworden. Die wenigen, die überhaupt in den Fluss vordrangen, wurden von ihren Merkipeinigern niedergestreckt.
Drei waren in der Nacht entkommen, aber zwei erlitten doch einen tragischen Tod, als sie von nervösen Wachleuten beim Versuch niedergeschossen wurden, die Wälle zu erklimmen. Der einsame Überlebende meldete, dass die Merki zehntausende Sklaven herangeführt hatten und damit prahlten, die Mole notfalls aus ihren Leichen zu errichten.
»Eine Nachricht von General Schuder, Sir.«
Andrew nahm den Zettel zur Hand, starrte kurz darauf, zerknüllte ihn und steckte ihn in die Tasche.
»Was steht drauf?«, wollte Schneid wissen.
»Wissen Sie, Rick, wir werden hier, wenn der morgige Tag anbricht, einen mörderischen Kampf erleben«, sagte Andrew kalt und deutete mit dem Kopf auf die Mole. »Ich möchte, dass die Artilleriereserve Ihres Korps bis Sonnenuntergang hier aufgefahren ist.«
»Was meldet Hans?«
»Unsere Flanke ist umgangen worden«, antwortete Andrew leise. »Ein volles Umen womöglich. Auch aus der Steppe im Westen wird eine näher kommende Staubwolke gemeldet.«
»Und?«
Andrew drehte sich zu dem jungen Korpskommandeur um.
»Falls ich Sie mit Ihren Divisionen zu Hans schicke und sich der dortige Angriff als Finte erweist, stehen wir hier womöglich nackt da. Falls dort oben der eigentliche Angriff läuft und hier die Finte ausgeführt wird und ich Sie nicht gleich losschicke, verlieren wir bis morgen früh die gesamte Flanke und auch die hiesige Linie.«
Ein Napoleoner sprang neben ihm rückwärts und jagte einen Sprühregen Kartätschen los, der ein Dutzend Gestalten von der Mole riss. Am Ufer gegenüber feuerten zwanzig Kanonen eine Salve ab; Eisenkugeln jagten über die Stellung, und Fontänen aus Erde und Gestein platzten in einem tödlichen Hagel aus der Flanke der Brustwehr. Andrew wurde selbst mit Staub überschüttet.
Am Himmel ging ein Merki-Luftschiff in den Sturzflug über. Das Triebwerke summte immer lauter. Andrew blickte eine Sekunde lang auf. Eine Batterie Vierpfünder, auf Gelenken montiert, schwenkte aufwärts und feuerte. Das Luftschiff ging wieder auf eine gleichmäßige Flughöhe und warf einen dunklen Gegenstand ab. Die Bombe fegte herunter und krachte Sekunden später in die nächste Batteriestellung. Die Erde bebte, als sie detonierte und eine Geschützlafette in die Luftjagte. Ein höhnisches Gebrüll stieg von den Merki am anderen Ufer auf, als das Schiff wendete und zurück nach Süden flog, den Nordwind im Rücken.
»Die Reserven warten auf den Marschbefehl«, sagte Rick. »Ich habe zwanzig Züge voll mit ihnen ein Stück weiter hinten auf der Strecke stehen.«
Andrew nickte und fingerte an dem zerknüllten Telegramm in seiner Hosentasche herum. Fast hundert Kilometer waren es bis zu Hans in Bastion 100. Eine Stunde, um die Züge in Fahrt zu bringen, zwei Stunden Fahrt, zwei Stunden für den Ausstieg und den Aufmarsch der Truppen. Geübt hatten sie es schon Dutzend Mal. Er blickte wieder über den Fluss. Auf dem anderen Ufer waren außerhalb der Artilleriereichweite mindestens fünf Umen in Schlachtordnung aufmarschiert. Stromaufwärts sammelten sich Tausende um die Balkenkonstruktionen, die Flöße und die Boote voller Felsbrocken. Falls der Nordwestflügel nicht den eigentlichen Angriff vortrug, musste Andrew das gesamte Korps hierher zurückholen. Sechzehn Stunden Fahrt, alles in allem, was sie für die Verteidigung hier unten und einen möglichen langen Tag des Kampfes morgen erschöpft hätte.
Sein schlimmster Albtraum hatte also schon begonnen, und dabei dauerte die Schlacht erst zwei Tage. Falls er jetzt damit begann, jeder Krise folgend hin und her zu rennen und seine kostbaren Kräfte jeder möglichen Finte entgegenzuwerfen, dann war er erledigt.
»Vorläufig bleiben Sie, wo Sie sind«, sagte er langsam und blickte dabei wieder Rick an.
»Was ist mit Hans?«
Andrew nickte und wandte sich an einen Burschen.
»Ist Pat wieder in Suzdal?«
»Eben ist die Meldung eingegangen, dass er im Hauptquartier des Reservekorps auf Befehle wartet.«
»Gut. Leiten Sie diese Meldung an General O’Donald in Suzdal weiter: schicken Sie eine Division Roumtruppen aus Suzdal direkt zu General Schuders Flankenstellung am Potomac.«
Der Bursche schrieb die Meldung nieder, unter die Andrew anschließend seine Initialen setzte, und rannte los.
Andrew wusste, dass er damit den Plan aufgab, O’Donald als Notreserve bereitzuhalten, falls es hier zu einer Katastrophe kam.
»Wir haben einfach nicht genug Leute«, sagte er leise. »Es sind gefährlich wenige.«
Allmählich dachte er, dass ungeachtet ihrer Stellung -ob hier oder am Neiper – die Zahl einfach nicht reichte.
Er blickte zum dunkler werdenden Himmel hinauf, und dabei fiel ihm ein erster kalter Regentropfen auf die Brille.
»Jesus, da kommen sie!«
Hans blickte durch den Feldstecher nach Norden, konnte aber die Dunkelheit kaum durchdringen. Was er trotzdem sah, erinnerte ihn an eine unnachgiebige Wand aus Fleisch und Stahl, die im Laufschritt anrückte. Das tiefe, kehlige Knurren der Merki übertönte wie Donnergrollen noch das Stakkato der Musketen und das Krachen der Kanonen.
Die Bastionen 110 und 109 an der äußersten Flanke waren schon verschwunden, waren förmlich untergegangen im unvermittelten brutalen Angriff. Eben noch war es still im Wald gewesen, und innerhalb von Minuten waren die Erdschanzen der Festungen übersät mit toten und verwundeten Merki und lagen die Innenbauten in Trümmern, als die Angreifer einfach darüber hinwegschwärmten, ohne einmal anzuhalten. Die Front wurde förmlich aufgerollt wie ein allmählich zusammensackendes Kartenhaus.
Die Angriffswelle schwappte jetzt aus Westen, Norden und Osten über Bastion 108 zusammen. Auch die Rückzugslinie achthundert Meter hinter der Festung versank unter dem Zangenangriff.
Einen Augenblick lang empfand Hans Mitleid für die Männer in der Festung – in ein paar Minuten waren sie alle tot, aber sie erkauften damit Zeit, kostbare Zeit.
Hans verließ seine Bastion und nickte Charlie Ingrao zu, dem Artilleriebefehlshaber für die sechs Batterien umfassende Korps-Reserve.
Die Kanonen waren fast Radnabe an Radnabe aufgefahren und nach Norden gerichtet. Rechts von ihnen war eine komplette Brigade aufmarschiert, fast zweitausendfünfhundert Mann, die eine Frontlinie von über dreihundertfünfzig Metern bildeten, quer durch die Lichtung im Wald, die man für die jetzt umgangenen Festungen geschlagen hatte. Mehr stand Hans nicht zur Verfügung-er hatte dafür alle Bastionen geplündert, von Nummer 100 am Waldrand bis zu Nummer 80, hatte die Leute in mehrere Reservezüge geladen und sie in Windeseile hier heraufgefahren, wobei nur eine Rumpfmannschaft von etwas mehr als einer halben Brigade in den Festungen zurückblieb.
»Eins null acht fallt gerade«, sagte Ingrao leise und deutete auf die fragliche Festung. In achthundert Metern Entfernung fiel die Regimentsflagge der Nowroder flatternd von der Stange. Winzige Gestalten erschienen an der Südseite der Festung, rutschten die Wälle herunter und rannten los; größere Gestalten tauchten hinter ihnen auf, und Tote stürzten.
Quer über die breite, offene Frontlinie, durchsetzt von wenigen Restbaumbestanden, rückten die Merki-Umen in gleichmäßigem Tempo weiter vor.
Hans schwang sich in den Sattel und steckte den Karabiner ins Futteral. Auch seine Stabsoffiziere stiegen auf die Pferde. Das Kommandeursbanner ging neben ihm in Stellung, und er sah den flachsköpfigen Rusjungen an, der es trug.
»Angst, mein Junge?«
Der Fähnrich schluckte und schüttelte den Kopf.
»Na ja, ich habe verdammt sicher welche«, flüsterte Hans.
»Gregori!«
»Hier, Sir!« Der junge Stabsoffizier lenkte sein Pferd neben das von Hans.
»Reiten Sie zum rechten Endpunkt der Linie und sorgen Sie dafür, dass er fest am dortigen Rand der Lichtung verankert bleibt. Und jetzt los!«
Er gab dem Pferd des jungen Offiziers einen Klaps aufs Hinterteil. Gregori salutierte lächelnd und galoppierte davon.
Hans konzentrierte sich nun wieder auf die Ereignisse direkt voraus.
Der Vormarsch der Merki stockte einen Augenblick lang, und er ließ den Blick forschend an der feindlichen Linie entlanggleiten. Die Kolonnen fächerten aus und formierten eine Angriffslinie, die etliche Reihen tief war.
Ingrao, der gerade zwischen seinen Batterien hindurchmarschierte, drehte sich um und schätzte die Entfernung ein.
»Batterien, Schrapnell laden! Vier-Sekunden-Zündung, Reichweite siebenhundert Meter!«
Ein ferner Singsang klang herüber, ein unheimlicher Ruf in Moll. Er wurde mal lauter, mal leiser, und jagte Hans einen kalten Schauer über den Rücken. Die Krieger schwankten vor und zurück, und die Lautstärke des Gesangs stieg jetzt kräftig, begleitet vom rhythmischen Stampfen der Füße, das übers Feld donnerte.
»Batterien, Feuer!«
Vierundzwanzig Kanonen sprangen rückwärts, und Sekunden später detonierten die Granaten über der feindlichen Linie. Krieger fielen.
Der Singsang wurde noch lauter.
»Schrapnell nachladen, gleiche Zündung!«
Vier berittene Krieger tauchten jetzt vor der feindlichen Linie auf und erhoben sich in den Steigbügeln. Der Anführer reckte ein Krummschwert hoch, dass die Klinge aufblitzte. Die drei Krieger hinter ihm richteten rote Standarten auf und senkten sie dann, bis die Stangen parallel zum Boden waren.
Wie ein Mann rückte die Merkilinie vor.
»Batterien, Feuer!«
Weitere Krieger gingen zu Boden.
»Schrapnell nachladen, drei Sekunden Zündung!«
Der donnernde Singsang löste sich jetzt zu einem einzelnen Wort auf:
»Vushka, Vushka!«
Hans spürte, wie ihm der Hals eng wurde. Geheimdienstinformationen der Cartha sprachen von der »Vushka Hush«, der Elitegarde der Merkihorde. Stand er ihr jetzt gegenüber?
»Batterien, Feuer!«
Die Standartenträger rissen ihre Wimpel hoch und schwenkten sie im Kreis, um die Stangen anschließend in einem Winkel von fünfundvierzig Grade nach hinten zu kippen. Die vorrückende Linie ging in einen langsamen Laufschritt über.
»Nachladen! Schrapnell, zwei Sekunden Zündung!«
»Vushka, Vushka!«
Hans zog einen Priem Tabak hervor und biss ein Stück ab. Während er heftig kaute, bot er auch Charlie etwas an.
Charlie nahm ebenfalls einen Bissen und warf den Priem wieder dem Sergeant Major zu.
»Batterien, Feuer!«
Klaffende Lücken rissen in der feindlichen Linie auf, wurden aber schnell wieder gefüllt, als die angreifende Formation nach rechts schwenkte.
»Profis!«, bellte Charlie und drehte sich zu Hans um. »Sie wissen, was sie tun, genauso gut wie die Rebelleninfanterie. Das sind keine Tugaren.«
Die Standarten träger richteten sich von neuem in den Steigbügeln auf, schenkten ihre Wimpel im Kreis und reckten sie anschließend senkrecht hoch.
»Vushka Hush da gu Merki!«
Die Merki gingen im Laufschritt zum Angriff über und wahrten dabei eine perfekt gerade Linie, bewegten sich im Gleichschritt und überbrückten mit jedem Schritt viereinhalb Meter. Es klang wie das Tosen des Meeres an einer Felsenküste.
»Batterien, mit Kartätschen laden!«
Hans gab dem Pferd die Fersen und ritt seine Linie entlang.
»Ruhig, Jungs, schön ruhig bleiben!«
Die Batterien jagten ihre Kartätschenladungen los, und zweitausend Eisenkugeln jagten hinüber, rissen Erde hoch und Merkikrieger von den Beinen, und heisere Schreie drangen herüber.
»Batterien, Kartätschenfeuer nach eigenem Ermessen!«
»Bereitmachen!«
Zweitausendfünfhundert Gewehre wurden präsentiert.
»Vushka, Vushka!«
Hans blickte zu seinem Fahnenträger hinüber. Der Junge starrte den Angreifern entgegen, die Augen groß vor Entsetzen, und bewegte die Lippen in einem lautlosen Gebet.
Hans beugte sich vor und spuckte Tabaksaft auf den Boden. Er zog den Karabiner aus dem Futteral und spannte ihn.
»Auf dreihundert Meter einstellen!«
Die lange Reihe Infanterie justierte ihre Kimmen entsprechend.
»Legt an!«
Es war beruhigend zu hören, wie Hände die Schäfte packten und Ausrüstungsgegenstände klapperten. Polierte Stahlläufe flackerten im Nieselregen, als sie in die Horizontale sanken und ihre Bajonette auf den Gegner wiesen.
»Nur die erste Reihe!«
»Vushka!«
»Feuer!«
Ein Laken aus Feuer und Rauch peitschte los. Die feindliche Linie stolperte und Dutzende Krieger fielen, aber ohne zu zögern liefen die Überlebenden weiter.
Ladestöcke wurden gezückt; Arme stiegen rhythmisch und rammten die Kugeln in die Läufe.
»Zweite Reihe, Feuer!«
Eine weitere Salve peitschte die Linie entlang, und weitere Merki stürzten.
»Distanz zweihundert Meter.«
Hans verfolgte das Geschehen schweigend. Der Sturm fegte heran und schien unaufhaltsam. Er spürte die wachsende Angst und Anspannung.
»Erste Reihe, Feuer!«
Die Merkilinie taumelte, als wäre sie an eine Wand geprallt. Die Batterien links von Hans jagten weiter ihre tödlichen Ladungen hinaus, und die Kartätschen rissen ganze Erdbahnen hoch und krachten in die Körper der Merki. Ihre Linie stockte, setzte dann jedoch den Ansturm fort.
»Tief halten, Jungs!«, schrie Hans, der sich nicht mehr beherrschen konnte, als sich der alte Instinkt des Sergeant Major zurückmeldete. Er sah, dass ein Junge in der Linie seine Kimme immer noch auf dreihundert Meter eingestellt hatte, und wäre am liebsten vom Pferd gestiegen und hinübergegangen und hätte ihm die Waffe entrissen.
»Ich bin ein General, verdammt«, murmelte er vor sich hin.
Die Merki stürmten erneut an.
»Vushka, Vushka!«
»Zweite Reihe, Feuer!«
Diese Salve auf gerade noch knappe hundert Meter wirkte verheerend und riss die Linie der Angreifer auf, als Krieger stürzten und den Mann hinter sich oder neben sich mitrissen. Hunderte fielen.
»Nach eigenem Ermessen feuern!«
Wundersamerweise waren der Vushkakommandeur und einer seiner Bannerträger noch am Leben; der Kommandeur galoppierte seine Linie entlang und schwenkte das Schwert. Der Wimpel sank und deutete schnurgerade zurück auf die Vushkalinie.
Der Angriff stoppte, und Hans verfolgte schweigend, wie Tausende Bögen gehoben wurden.
Das gleichmäßige Knattern der Musketen stieg zum Crescendo an, und noch mehr Merki fielen. Hans rührte sich, legte den Karabiner auf den Vushkakommandeur an und feuerte. Das Pferd des Kommandeurs bäumte sich auf und brach zusammen.
»Ich sehe auch nicht mehr so gut!«, knurrte Hans, klappte den Sharps auf und schob eine neue Patrone hinein.
Auf einmal verdunkelte sich der Himmel, und einen Augenblick später pfiff der Pfeilhagel heran. Männer brachen zusammen oder stolperten unter dem Einschlag rückwärts. Schrille Schreie zerrissen die Luft; es sah so aus, als wäre ein ganzer Wald aus mehr als einen Meter langen Pfeilen aus dem Boden gewachsen.
Eine neue Wolke stieg auf, viel höher diesmal, denn sie kam von hinter der anstürmenden Linie.
Eine zweite Reihe, versteckt hinter der ersten, wie Hans feststellte; sie haben verdammt viel mehr Krieger, als ich erwartet hatte.
Die Pfeilwolke schien in der Luft hängen zu bleiben, prasselte dann jedoch herab. Sie war allerdings ein bisschen zu weit gezielt, und die meisten Geschosse schlugen gut vierzig Meter oder noch weiter hinter der Linie ein.
Auf siebzig Meter Distanz wurde ein mörderischer Schusswechsel ausgetragen. Der Rauch stieg in Wirbeln und Spiralen auf; der Feind wurde nahezu unsichtbar darin, und die Feldgeschütze rissen die Erde auf, wenn sie beim Schuss rückwärts sprangen. Verletzte Pferde schrien; Kanoniere schnitten die gepeinigten Tiere aus den Wagengeschirren frei, und ein stetiger Strom Verwundeter wurde hinter die Linien getragen.
Ein neuer Todesregen stieg hinter der vorderen Merkilinie auf, schien in der Luft zu hängen und prasselte diesmal in die Schützenreihe. Schwere Bolzen nagelten die Männer regelrecht an den Boden.
Hans ritt entlang der Reihe hin und her, schätzte die Stärke der eigenen Truppen ein, behielt sie scharf im Auge. Er hatte hier Veteranenregimenter stehen, aufgestellt im ersten Tugarenkrieg, bewaffnet mit den neuesten Springfieldgewehren. Der Stolz der Männer war erkennbar – sie weigerten sich nachzugeben, wohl wissend, dass jede Flucht den sicheren Tod bedeutet hätte.
Trotzdem entstanden Lücken in der Front. Die Unteroffiziere bildeten an manchen Stellen aus den beiden Reihen eine einzige Reihe, während Junioroffiziere an den Flanken der fünf Regimenter sicherstellten, dass sich zwischen den Einheiten keine gefährlichen Breschen öffneten.
Die leichten Vierpfünder, von denen jedes Regiment zwei hatte, setzten ihre Arbeit fort. Ihre Geschosse klangen beinahe blechern, verglich man sie mit dem tiefen Donnern der Zwölfpfund-Napoleoner.
Das Feuer erstarb auf einmal. Hans richtete sich in den Steigbügeln auf und spähte durch den Rauch. Jubelschreie breiteten sich aus, und als sich der Rauch verstreute, sah Hans, dass sich der Feind zurückzog und eine gerade Linie aus Toten zurückließ, die sich keine fünfzig Meter entfernt auftürmten.
»General Schuder!«
Hans drehte sich um und sah einen Kurier von hinter der Front auf Ingraos Batterien zugaloppieren.
Hans stellte fest, dass sein Fahnenträger fehlte. Dann sah er den Jungen mit ausgebreiteten Gliedern am Boden liegen, einen über einen Meter langen Pfeil in der Brust, die Fahnenstange noch fest umklammert.
Hans gab einem Adjutanten zu verstehen, dass er den Kurier zu ihm führen sollte.
»Da kommen sie wieder!«
Aus der zurückweichenden Linie der Merki brach jetzt eine zweite Formation hervor und setzte zum Sturmlauf an.
»Vushka, Vushka!«
»Vorbereiten zum Salvenfeuer! Feuer auf einhundert Meter eröffnen! Erste Reihe, präsentiert!«
Der Sendbote galoppierte herbei.
»Von General Kindred, Sir!«, schrie er und zügelte das Pferd, als er an Hans’ Seite war.
Dieser spürte, wie sich sein Herz verknotete und kurz flatterte. Erneut der stechende Schmerz, aber er drückte ihn weg. »Nicht jetzt, mach mir nicht jetzt Probleme«, flüsterte er vor sich hin.
»Die Merki, die Horde, Sir, marschieren am Waldrand entlang!«
»Wieviele?«
Der Junge sah ihn mit großen Augen an.
Hans sah, dass er einen Zettel fest umklammert hielt, und entriss ihm die Nachricht.
»›Hans, ein massiver Block Merki, mehrere Kilometer tief, rückt aus dem Westen an und folgt dabei dem Waldrand. Sieht nach der ganzen Horde aus. Erreicht unsere Linie in einer Stunde bei Bastion 90. Bezweifle, dass wir standhalten können. Kindred.‹«
»Feuer!«
Sein Pferd scheute vor der Explosion. Er blickte der angreifenden Linie entgegen. Diesmal stürmten sie schnurstracks heran, die Krummschwerter gezückt, die Bögen über den Schultern.
»Nach eigenem Ermessen feuern!«
Jetzt drohte der Nahkampf. Die Salve riss klaffende Lücken in die Merkireihe, aber die Krieger rannten weiter und sprangen über ihre Toten hinweg. Ihre Formation löste sich auf, als die Kühnsten und Schnellsten mit blitzenden Schwertern vorstürmten.
»Doppelte Kartätschenladung!«
Hans blickte die Front entlang. Murphy.
»Wo steckt Murphy?«
»Tot, Sir.« Ein Bursche deutete zu der Stelle, wo der Divisionskommandeur am Boden lag und mehrere seiner Stabsoffiziere neben ihm knieten.
Hans wendete das Pferd und galoppierte zurück zu der massierten Geschützstellung.
»Ingrao!«
Der kleine, in der Sprache so manierliche Artillerist blickte auf.
»Feuert, sobald sie dicht vor uns sind!«, brüllte er und lief auf Hans zu.
»Sie führen jetzt hier das Kommando, Charlie. Murphy ist tot. Schicken Sie einen Kurier zu Gregori und sagen ihm, er soll die Division übernehmen!«, schrie Hans. »Sie müssen standhalten, aber seien Sie auch zum Rückzug bereit, sobald Sie den Befehl dazu erhalten!«
Ohne sich die Mühe mit einem militärischen Gruß zu machen, riss er das Pferd herum und nahm die Lage in Augenschein.
Die Mauer der Angreifer brach über seine Männer herein. Die Batterie feuerte auf weniger als zehn Meter Distanz, und der Ansturm direkt vor den Geschützen löste sich regelrecht auf. Merkileichen oder nur Köpfe und Gliedmaßen wurden hochgeschleudert, und die wenigen Überlebenden stolperten weiter vor. Die Kanoniere legten die Revolver an und feuerten auf Kernschussweite.
Ein dumpfes Krachen von Stahl auf Stahl und Stahl auf Fleisch lief an der Infanterielinie entlang, die an manchen Stellen ins Wanken geriet oder ganz aufbrach. Viele Krieger aus der ersten Welle der Merki stürmten heran, ohne langsamer zu werden, spießten sich selbst auf den vorgehaltenen Bajonetten auf und drückten die Verteidiger mit dem schieren Körpergewicht nieder. Die nachrückenden Krieger sprangen mit blitzenden Schwertern heran.
»Fahne!«
»Hier, Sir.«
Ein anderer Junge war an die Stelle des gefallenen Fähnrichs getreten. Hans hatte den ersten nicht gekannt, und auch der neue blieb für ihn namenlos.
»Folge mir, Junge!« Er spornte das Pferd zum Galopp und stürmte übers Feld zu der Stelle, wo sein Kommandozug auf dem Nebengleis bereitstand.
»Läuft wie geplant«, verkündete Vuka und lachte triumphierend, als er das Pferd zügelte und einem Diener zuwinkte, er möge ihm ein frisches Pferd für den Sturm in die Schlacht bringen.
Tamuka zügelte neben ihm das Pferd, schob den Helm zurück und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Ein weiterer Diener des Zan Qarth warf ihm einen Wasserschlauch zu, und Tamuka setzte ihn an und spülte sich die Trockenheit aus dem Mund.
Dann holte er eines der kostbaren Fernsichtgläser aus dem Futteral und nahm die feindliche Stellung am anderen Flussufer in Augenschein. Die Zinnen wirkten nahezu ungeschützt, genau wie von der Besatzung des Luftschiffs, das über der Viehlinie schwebte, mitgeteilt. Das Schiff war inzwischen fort, vom heraufziehenden Sturm nach Süden getrieben. Das war knapp gewesen – ein paar Stunden Unterschied, und das Signal hätte die Vushka womöglich gar nicht erreicht. Die Ahnen wachten also über sie und hielten auch den Wetterumschwung zurück, und Tamuka murmelte ein Dankgebet.
Das Vieh hatte den Köder geschluckt und sich nach Norden gewandt, um die Vushka zu stellen. Zwar war ganz gewiss mit Verlusten zu rechnen, wenn die Merki übersetzten, aber die feindliche Linie war so dünn wie eine verfaulte Eierschale. Einmal kräftig zugeschlagen, und man war hindurch, konnte nach Süden schwenken und ins Hinterland der Linie aus feindlichen Festungen vorstoßen.
Die gewaltige Heerschar der vorrückenden Horde, die bislang als eine lang gestreckte Kolonne marschiert war, wechselte allmählich die Formation und machte sich bereit, für den Sturmangriff eine Front von einem Umen Breite zu bilden, mehr als drei Kilometer breit, indem nachrückende Umen aufschlossen und die Lücken wieder dicht machten.
Tamuka warf Vuka, der inzwischen auf einem frischen Pferd saß, den Wasserschlauch zu. Der Zan Qarth lehnte sich zurück, und Wasser sprudelte ihm in den Hals und an der Rüstung herab.
Tamuka sagte nichts. Wasser war Leben, die Gabe Nargs, um die Welt zu nähren. Selbst wenn ein Fluss gerade anderthalb Kilometer entfernt lag, war es falsch, Wasser zu vergeuden.
Vuka zog das Schwert aus der Scheide. Er drehte sich rasch im Sattel und verneigte sich nach Westen, ein Gruß an die Vorväter mit der Bitte, Zeugen dessen zu werden, was er zu erreichen gedachte.
Tamuka verspürte Widerwillen. Blickte der Bruder, den Vuka ermordet hatte, jetzt herab und verfluchte ihn? War Vuka denn so skrupellos und blind, dass es ihm egal war und er weder Schuldgefühle noch Angst über das empfand, was er getan hatte?
Ihre Blicke begegneten sich eine Sekunde lang.
»Was bereitet dir Sorgen, Schildträger?«
Eine Spur von spöttischer Herausforderung schwang in Vukas Stimme mit. Mehr als einer ihrer Gefährten unterbrach die angeregten Gespräche ringsherum und hörte lieber zu.
Tamuka lächelte.
»Ich bin bereit, an deiner Seite zu reiten, mein Fürst, und mein Schild und mein Leben dienen deinem Schutz«, antwortete er, ohne dass auch nur eine Spur Sarkasmus die Verachtung verriet, die er empfand.
Er erinnerte sich noch, wie Vuka ihn nach dem Fiasko in Roum furchtsam ansah, erfüllt vom Schrecken über die Vorstellung, dass der Schildträger zu Incataga geworden war, dem Sendboten des Todes, vom Qar Qarth geschickt, um den zu beseitigen, der nicht geeignet war, die Herrschaft anzutreten. Aber jetzt war Vuka in Sicherheit, der einzige überlebende Sohn vom königlichen Geblüt, der einzige verbliebene Erbe.
»Dann tauchen wir unsere Schwerter in Blut!«, lachte Vuka und fuchtelte mit dem Krummsäbel herum. Die Spitze der Klinge zischte dicht vor Tamukas Augen vorbei, aber der Schildträger blieb reglos sitzen und weigerte sich zu erbleichen.
»Der Qar Qarth hat befohlen, dass das Kavhag-Umen unter der Führung des eigenen Qarth angreifen soll, nicht unter deiner«, gab er leise zu bedenken.
Vuka zog heftig am Zügel und drehte sich zu seinen Gefährten um.
»Das königliche Blut sollte nicht in die Gefahr geraten, von der verirrten Kugel eines Stücks Vieh getroffen zu werden, das in einem Erdloch lauert; ein solcher Tod brächte wenig Ruhm.«
»Und hier herumzutrödeln bringt noch weniger Ruhm!«, raunzte Vuka.
»Es sind seine Worte, mein Fürst, nicht meine. Nicht mal der Qar Qarth reitet in der vordersten Reihe. Das wird nur ein Eröffnungszug – später warten noch viele Schlachten auf uns. Es wäre eine Schande, sie zu versäumen, weil ein Stück Vieh dich schon erschossen hat, ehe der Krieg auch nur richtig losgegangen ist.«
Vuka lenkte sein Pferd von Tamuka weg.
Ein Regiment des Kavhag-Umen nach dem anderen galoppierte vorbei und schwenkte nach Südosten auf die rechte Flanke, um die Angriffslinie dort zu verlängern. Kuriere rasten auf schweißnassen Pferden hin und her und trugen dabei Signalstangen auf den Rücken gebunden, sodass die Wimpel über ihnen flatterten und verkündeten, wer sie jeweils schickte und wen sie suchten. Die von ihnen, die die goldene Flagge des Qar Qarth führten, ritten auf geschmeidigen weißen Rössern, den schnellsten Pferden überhaupt, auf Schönheit und Schnelligkeit gezüchtet.
Krieger mit roten Wimpeln bezogen Stellung vor den Kavhag, und die langen Stangen mit den breiten roten Flaggen waren auf dem Erdboden abgestützt. Junge wie auch alte Krieger mit grauen Mähnen schritten an den Linien entlang und führten entweder frische Ersatzpferde an die Front oder erschöpfte Tiere von dort weg, hinaus auf die freie Steppe im Süden, damit sie dort weiden und sich ausruhen konnten nach dem mörderischen Gewaltritt, der am gestrigen Abend begonnen hatte.
Tamuka nahm das alles auf: die gewaltige Organisation, die Präzision der Bewegung, die monatelangen Planungen, die endlich Früchte trugen, bis hin zur Anzahl der Pfeile im Köcher jedes einzelnen Kriegers und dem Wetzstein in seinem Beutel. Erneut spürte er, wie sich in ihm der Ka regte, der Kriegergeist, wie dieser in seine Seele sickerte, während die Steppe unter der Macht der Merkihorde erbebte. Auch wenn es gegen seelenloses Vieh ging, so verströmte dieses ungeheure Panorama urwüchsiger Stärke doch Glanz.
Er setzte den Feldstecher an und richtete ihn auf eine Anhöhe in anderthalb Kilometern oder etwas mehr Entfernung. Jubadi saß dort, umgeben von den Zungenlosen. Dutzende Adjutanten, Kuriere, Umenkommandeure, Schamanen, Nargatrompeter, Trommler und alte Freunde umgaben ihn, den Brennpunkt der Macht.
Vuka hatte sich absichtlich entschieden, derzeit allein umherzuschweifen. Tamuka kannte den Grund: in Gesellschaft des Qar Qarth blieb Vuka der Zweite. Er sah Muzta hinter Jubadi stehen, und dem vom Schicksal gezeichneten Häuptling leisteten nur wenige Gesellschaft, wie auch seine beiden Umen erst weit hinten in der Marschordnung folgten. Des Durchbruchs durch die Viehlinie, des ersten Sieges, sollten sie sich nicht rühmen dürfen.
Tamuka rutschte im Sattel hin und her. Die Lederrüstung knarrte, und der Bronzeschild seines Amtes drückte ihm schwer auf den Rücken. Hier war nicht der richtige Platz für den Tu, den Geist des Schildträgers, um seine Stimme zu erheben, denn hier regierte die Leidenschaftlichkeit. Er bemühte sich darum, seine Gefühle wieder in die Gewalt zu bekommen.
»Merki Gor Rivah Macr!« (Wer von den Merki reitet hier?)
Der einsame Sänger hob seine Stimme, und Bewegung lief durch die lange Reihe der Krieger, als sie sich in den Sätteln aufrichteten.
Wie ein Mann erhoben sie ihre Stimmen:
»Navhag vug darg!« (Wir sind die Navhag!)
Die Verkündung des Clans begann auf der tiefsten Bassnote und lief rollend durch die Luft wie das kehlige Knurren der Nargas. Sobald der Rhythmus des Singsangs etabliert war, erhoben sich weitere, höhere Stimmen zum Kontrapunkt.
Die Sänger warfen von neuem die Frage auf, und das Umen donnerte seine Antwort. Der Singsang wechselte langsam in einen flotteren Rhythmus, und Frage und Antwort folgten immer schneller aufeinander. Trommler schlugen mit den riesigen, mit Viehhaut bespannten Kesselpauken, auf den Rücken ihrer Pferde geschnallt, einen gleichmäßigen Schlag im Rhythmus eines pulsierenden Herzens. Auch die Hornbläser stiegen jetzt in die Sättel, reckten die fünf Meter langen Trompeten in die Luft und schmetterten einen durchdringenden, dissonanten Ton. Tamuka spürte, wie sich ihm die Nackenhaare aufstellten und der Herzschlag dem Rhythmus der Trommeln folgte, der jetzt beschleunigte.
Totemhalter bezogen vor jedem Regiment Stellung. Rauchtöpfe aus Viehschädeln erzeugten blaugrüne Qualmwolken von Weihrauch, der mit dem Wind aufstieg, um jene Ahnen zu wecken, die womöglich noch schlummerten.
Ein goldener Wimpel, über dem eine rote Flagge wehte, stieg von Jubadis Stellung auf. Entlang der gesamten Frontlinie der Navhag wurden rote Flaggen gehoben.
»Navhag, Navhag, Navhag!«
Die roten Banner sanken wieder, wurden zur Seite ausgestreckt und dann in engen Kreisen geschwungen. Zehntausend Krummschwerter fuhren blitzend in die Luft, als materialisierte wie von Zauberhand ein Vorhang aus poliertem Stahl.
Die Navhag rückten im Schritttempo ihrer Rösser vor und sangen dabei weiter ihren Clannamen. Die Trommler hielten ihren Rhythmus aufrecht; die Hörner schmetterten, und die Totemhalter zogen Rauchwolken nach.
Vuka riss das Pferd herum, zog das Schwert und reckte es hoch.
»Nehmen wir Blut!«, brüllte er und gab dem Pferd die Sporen.
Lautlos fluchend nahm Tamuka den Bronzeschild vom Rücken, während er ebenfalls die Sporen gab. Das Pferd sprang los. Und noch während Tamuka die verrückte Tollkühnheit seines Schützlings verfluchte, war er doch insgeheim dankbar für diese Entladung und die Aussicht, Vieh zu töten.
Hans blickte sich unter seinen Adjutanten um, die sich neben dem Kommandowagen versammelt hatten.
»Sie haben Ihre Befehle -jetzt los!«
Das Dutzend Kuriere galoppierte davon.
»Da kommen sie«, gab Kindred bekannt.
Hans blickte nach Westen. Die sinkende Sonne, die gerade durch eine Lücke in den Sturmwolken brach, zwang ihn, die Augen halb zuzukneifen.
Die gewaltige Angriffslinie rückte vor.
Er blickte die eigenen Linien entlang.
Zwei gottverdammte Regimenter für eine Front von fast zehn Kilometern. Eine Brigade mehr, und er hätte standhalten können.
Keuchend beugte sich Tim über den Widerrist seines Pferdes und hustete kräftig; sein Atem ging in kurzen Stößen.
»Gottverdammtes Asthma … Typisch, dass es sich zu einem solchen Zeitpunkt meldet«, keuchte er.
»Wir brechen jetzt lieber auf«, sagte Hans scharf. »Hier können wir nicht viel ausrichten.«
Tim öffnete das Halfter und zog den Revolver, spannte den Hahn halb und drehte den Zylinder, um die Ladung zu prüfen.
»Denke, ich bleibe noch eine Weile«, keuchte er.
»Sie sind Korpskommandeur«, knurrte Hans gereizt. »Jetzt ist nicht die richtige Zeit für Heldentaten.«
»Ich habe gerade tausend Jungs den Befehl erteilt, hier standzuhalten, wissen Sie«, entgegnete Tim, »und ich weiß, dass es keiner von ihnen überleben wird.«
Er musste erneut husten.
»Verdammtes Frühlingsgras … Habe schon immer gesagt, dass es mich mal umbringt.«
Er sah Hans an und reichte ihm die Hand.
»Navhag!«
Hans blickte auf. Die Angreifer trieben ihre Tiere zum Handgalopp, als sie die breiten Untiefen des Potomac erreichten, der hier kaum mehr als ein Flüsschen war. Die einsame Batterie Vierpfünder nahm ihre Arbeit auf, während einzelne Soldaten schon die ersten Schüsse auf große Entfernung riskierten.
»Ich habe entschieden, mich hier zu stellen«, sagte Tim. »Geben Sie auf sich Acht, Sergeant. Ich denke, jeder von uns muss sich den Platz aussuchen, wo er sich stellt, und ich schätze, ich bin des Kämpfens einfach überdrüssig.«
Hans ergriff Tims Hand und drückte sie kräftig.
Die wenigen Stabsoffiziere und der Fahnenträger hinter Tim blickten sich nervös um, denn sie wussten sehr wohl, was diese Entscheidung für sie bedeutete; sie sagten jedoch nichts.
Tim nahm seine Hand zurück. Er beugte sich vor, gab der Lokomotive einen Klaps auf die Flanke und riss das Pferd herum, um an die Front zurückzukehren.
»Jetzt sehen Sie zu, dass Sie wie der Teufel von hier verschwinden und mein Korps retten!«
Hans blickte Tim nach, als dieser im Handgalopp den Hang hinabstrebte und direkten Kurs auf die angreifenden Merki nahm.
Der Lokführer, der danebenstand, blickte zu Hans auf.
»Bringen Sie uns zu Bastion 100 zurück«, knurrte Hans und versuchte nicht schon mit dem Tonfall zu verraten, wie eng ihm um den Hals geworden war.
Der Lokführer salutierte und lief zum Führerstand. Sekunden später ruckte der Zug an und fuhr zurück nach Norden zu der Stelle, wo Ingrao nach wie vor dem Angriff der Vushka standhielt. Sobald die hiesige Stellung fiel, war die ganze Linie erledigt – alles nördlich von Bastion 100 und damit mehr als zwei Divisionen waren dann vom Rest der Armee im Süden abgeschnitten. Das bedeutete das Ende der Potomac-Front.
Hans hob den Karabiner und feuerte einen Schuss ab -eine kindische Handlung, wie er wohl wusste, und nicht weniger kindisch waren die Tränen der Demütigung und der Wut.
»Wir können damit rechnen, dass sie mit dem Einbruch der Nacht angreifen«, sagte Andrew und blickte sich unter seinen Stabsoffizieren um. »Ich möchte, dass fünfzig Kanonen diese Überquerung beharken, sobald die Sonne gesunken ist, und den Beschuss bis zur Morgendämmerung aufrechterhalten.«
»Das kostet uns aber letztlich fast zehntausend Kugeln«, warf Jewgeni ein, der Artilleriekommandeur des Korps. »Es strapaziert unsere Reserven, und der Krieg ist erst drei Tage alt.«
»Die Merki werden noch an den Resten ersticken«, entgegnete ein junger Adjutant kalt und stand auf, um einen Blick über die Brüstung des Walls zu werfen.
Und er stolperte rückwärts, drehte sich schlaff um und brach zusammen, ohne ein Wort zu sagen. Andrew musterte den toten Soldaten, der gerade Sekunden zuvor noch unanständige Bemerkungen mit seinen Freunden ausgetauscht hatte. Die Verluste entwickelten sich zu einer allmählichen Vergeudung von Menschenleben, die sie alle schier in den Wahnsinn trieb, während die Merkigeschütze einen ständigen Sprühregen aus Kartätschen und Schrapnell über den Fluss aufrechterhielten.
Andrew wandte sich ab, als die Leiche weggetragen wurde.
»Sie brauchen etwas Schlaf, Sir«, riskierte ein Adjutant vorzubringen.
Andrew nickte steif. Er war seit der gestrigen Morgendämmerung auf den Beinen. In zwei Stunden würde es dunkel werden. Er musste sich etwas Schlaf holen.
Wortlos wandte er sich von der Brüstung ab, verließ die Bastion und kehrte in sein Hauptquartier zurück, ohne der Granaten zu achten, die über ihm detonierten.
Glockengeläut verkündete die Ankunft eines Zuges im Schutz der zweiten Linie. Die Schwaden aus Dampf und Rauch zeichneten sich hinter den Wällen der Bastion ab.
Ein Merkiluftschiff hatte im Kampf gegen den zunehmenden Wind und die tiefer sinkenden Wolken die Lokomotive zu treffen versucht und wendete jetzt. Mit dem starken Wind im Rücken raste es über Andrew dahin und kehrte in den Schutz seines Hangars irgendwo hinter den Shenandoah-Bergen zurück.
Andrew betrat das Hauptquartier und ging zu seinem Feldbett. Ächzend streckte er sich darauf aus.
»Andrew?«
Erschrocken richtete er sich auf. Kathleen stand da in der Dunkelheit.
Sie kam näher und zeigte ein besorgtes Lächeln.
»Was zum Teufel machst du denn hier?«, raunzte er.
»Ein schöner Empfang«, gab sie zurück und setzte sich neben ihn. Sie fuhr mit den Händen über seine Wangen und strich ihm dann eine Strähne blassblonder Haare, durchsetzt mit Grau, aus der Stirn.
Er beugte sich vor und küsste sie leicht. Als ein lauter Donnerschlag ertönte, Sekunden später gefolgt vom Prasseln des Schrapnells an der Hüttenwand, wurde er starr.
»Ich bin als leitende Ärztin mit dem Lazarettzug gekommen«, sagte sie sanft. »Emil hat mich geschickt.«
»Verdammt töricht von ihm!«, schimpfte Andrew. »Hier draußen läuft etwas ab, was man unter dem Begriff Krieg kennt!«
»Ich kann auf mich aufpassen.«
»UndMaddie?«
»Sie bleibt so lange bei Ludmilla.«
Andrew gab innerlich nach, wohl wissend, dass es nutzlos gewesen wäre, mit Kathleen über den angemessenen Platz einer Frau im Krieg zu diskutieren. Solche Feinheiten hatten vielleicht zu Hause auf der Erde gegolten, aber hier kämpfte eine Nation ums nackte Überleben. Alle trugen das gleiche Risiko, und wer war er denn, dass er seiner Frau hätten befehlen können, sich zu verstecken?
»Es läuft nicht gut, nicht wahr?«, fragte sie.
Er nickte hölzern.
»Ich hätte nie mit dieser Mole gerechnet. Es war eine so offenkundige Lösung, und wir haben nie entsprechend vorgeplant. Gott helfe mir, ich habe wohl zehntausend Cartha da draußen sterben gesehen. Der Fluss ist rot von ihrem Blut. Die Merki haben noch tausende mehr abgeschlachtet, die zu fliehen versuchten. Wir verheizen tonnenweise Munition, um damit eigene Artgenossen umzubringen.«
Er brach ab. Längst schon fühlte er sich verbraucht von all dem, was er hier miterlebte.
Aus dem angrenzenden Zimmer hörte er die Telegrafentaste klappern, und Kathleen spürte, wie er starr wurde.
Müde rappelte er sich auf.
Sie musterte ihn misstrauisch. Er hatte sich verändert -die Reaktionen wirkten steif, angespannt, und es lag nicht nur am Schlafmangel. Sie erinnerte sich, wie er im Tugarenkrieg gewesen war, wie er damals die drohende Niederlage gespürt, sich aber trotzdem wütend dagegen gesträubt hatte und sie auf diese Weise alle mitzog zum Sieg. Diesmal war da etwas anderes, und als sie ihm in die Augen blickte, erkannte sie schließlich, was es war: er hatte Angst.
Der Telegrafist platzte mit aschbleichem Gesicht herein.
»Es ist von Hans«, vermutete Andrew schon, und es war kaum noch ein Flüstern.
Der Telegrafist hob die Meldung vor die Augen und justierte seine Brille. Mit bebender Stimme las er vor.
»Meldung von General Schuder: die Front wurde von Bastion 85 bis Bastion 90 durchbrochen. Geschätzte mehr als zwanzig Umen greifen an. Empfehle Aufgabe der gesamten Potomac-Linie. Benötige Züge zur Evakuierung von zwei Divisionen aus Bastion 100. Erwarte, dass der Weg nach Suzdal bis zum Anbruch des Morgens abgeschnitten sein wird.«
Benommen wandte sich Andrew ab und forderte den Sendboten des Unheils mit einem Wink auf, das Zimmer zu verlassen.
Mit großen Augen sah Andrew Kathleen an.
»Mein Gott«, flüsterte er. »Sie haben uns in gerade mal drei Tagen besiegt!«
Sie saß da und schwieg.
»Ein Jahr lang haben wir geplant, es hier draußen auszukämpfen, sie hier aufzuhalten; dann pflügen sie durch unsere Reihen, wie Hans es befürchtet hatte, und ich konnte es nicht vorhersehen.«
Er trat an den Kartentisch, zeichnete das Ausmaß des Durchbruchs mit dem Finger nach und schüttelte benommen den Kopf.
Dann knallte er mit der Faust auf den Tisch.
»Gott verdamme sie alle!« Kathleen hörte, wie seine Stimme bebte.
Sie stand auf und trat ihm gegenüber an den Tisch.
»Falls sie dich schon gebrochen haben«, sagte sie mit einem kalten Unterton, »dann könnte ich genauso gut gleich nach Suzdal zurückkehren, Maddie ersticken und mir dann selbst die Kehle durchschneiden.«
Erschrocken blickte er zu ihr auf.
»Ob es dir gefällt oder nicht, alles hängt von dir ab, Andrew Keane.«
»Ich habe mit meinen Planungen eine Katastrophe herbeigeführt. Ich habe genau das getan, was die Merki von mir erwarteten, und geglaubt, wir könnten sie außerhalb unserer Grenzen stoppen. Dabei hatten wir nie genug Leute. Wir waren zu dünn verteilt, und ich hätte es erkennen müssen. Diese verdammten Aerodampfer konnten uns wie Falken im Auge behalten; sie wussten alles und wir nichts. Ich hätte …«
»Du hättest sollen, und du hast nicht«, entgegnete Kathleen scharf.
Er bedachte sie mit einem kalten Blick.
»Wir haben unter den gegebenen Umstanden unser Bestes getan, aber noch ist es nicht vorbei«, erklärte sie, und ihr Ton klang wieder etwas sanfter.
Er versuchte, sich ein Lächeln abzuringen.
»Weißt du«, flüsterte er traurig, »ich fürchte mich gar nicht vor dem Tod, Kathleen. Er stellt sich mir fast als eine Erlösung dar.«
Er wandte den Blick von ihr ab; die Hütte erzitterte unter einer Artilleriesalve.
»Es liegt an dem, was ich durchlebe; daran, dass ich alles noch einmal und dann ein weiteres Mal tun muss, scheinbar für immer. Gott, ich bin es so leid! Heute wurde ich geschlagen. Tausende Jungs, die mir vertraut haben, sind tot oder werden es sein, ehe es Morgen wird.«
»Der Krieg hat gerade erst begonnen«, sagte sie sanft. »Noch viele werden sterben, selbst wenn wir siegen. Aber wir verlieren ganz gewiss, Andrew, falls du dich jetzt selbst hängen lässt.«
Sie kam um den Tisch herum und ergriff seine Hand mit einer Sanftheit, die nach dem kurzen Aufblitzen von Zorn überraschend wirkte.
»Ich muss zurückkehren, muss die Verwundeten beim Abtransport begleiten. Der Rest liegt bei dir, mein Liebster.«
Sie blickte ihm einen Moment lang suchend in die Augen und fragte sich dabei, was sich verändert hatte, was verloren gegangen war. Sie erinnerte sich daran, wie sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, während er in der Offiziersmesse der Ogunquit schlief: die zerbrechliche, schmale Gestalt ausgestreckt, die jungenhaften Züge sogar im Schlaf von Schmerz gezeichnet. Schon damals war er dicht an der Grenze der Belastbarkeit gewesen; dafür hatten drei lange Kriegsjahre gesorgt. Trieb ihn der jetzige Krieg schließlich über diese Grenze?
Sie hatte sich selbst geschworen gehabt, niemals einen Soldaten zu heiraten, nicht, nachdem sie ihren früheren Verlobten bei Bull Run verloren hatte. »Meine liebste Kathleen«, so begann sein letzter Brief, »falls deine liebevollen Augen jemals diese Worte lesen, bedeutet es, dass wir einander nie mehr sehen werden.«
Das hatte sie beinahe umgebracht, und doch entwickelte sie letztlich Liebe für diesen sanften, starken und jetzt auch verängstigten Mann. Sie liebte ihn aufgrund dieser Angst nur umso mehr – dieser Angst, geboren aus einer viel zu lange getragenen, schrecklichen Last, die in seinem Traum von Freiheit für eine ganze Welt bestand. Irgendwie musste Kathleen ihn jetzt mit ihrer eigenen Seele erfüllen, um die Kraft zu retten, die wie rissiges Glas zu zersplittern drohte.
»Selbst wenn wir diesmal beide umkommen«, flüsterte sie, »bleibt immer noch Maddie. Was wird aus ihr, falls du verlierst?«
Er schien zusammenzuzucken, als der Name seiner Tochter fiel.
»Drücke sie für mich«, sagte er. Er küsste Kathleen leicht auf die Lippen und wich zurück, wobei er mit der rechten Hand schon die Uniform zu richten versuchte. Kathleen zwang sich zu einem Lächeln. Erneut diese Furcht, nie zu wissen, ob ein Lebwohl vielleicht das letzte war.
Er nickte ihr nervös zu und wandte sich ab, als sie die Hütte verließ, denn er schämte sich der Tränen, die ihm kamen. Für lange Minuten stand er allein da, wohl wissend, dass unmittelbar draußen vor der Tür Dutzende auf seine Befehle warteten.
Der engste Freund, den er je gehabt hatte, kämpfte in diesem Augenblick keine hundert Kilometer entfernt um sein Leben, um ihr aller Leben. Andrew warf erneut einen Blick auf die Karte und zeichnete die Linien nach. Einen endlosen Abend voller »Was wäre wenns« lang hatten sie darüber diskutiert, hatten sich Katastrophen ausgemalt und Möglichkeiten, was dann zu tun war. Bei all ihren Planungen hatte Andrew jedoch fest geglaubt, den ersten Ansturm aufhalten zu können und sich erst im Sommer, wenn der Fluss zu einem Rinnsal reduziert war, zu der Ausweichlinie zurückziehen zu müssen, die sie im Verlauf des Frühjahrs am Waldrand angelegt hatten. Hätten sie nur bis in den Spätsommer durchgehalten, dann hätte die Horde vor der Wahl gestanden, sich entweder zurückzuziehen oder zu hungern.
Wenn es Morgen wurde, war die Bahnlinie von Norden aus zurück nach Suzdal wahrscheinlich durchtrennt, und er konnte davon ausgehen, dass die meisten Umen dann direkt nach Osten vorstießen und schließlich nach Süden abschwenkten, um sich mit den Kräften zu vereinen, die ihm hier gegenüberstanden.
Meisterhaft.
Hans geriet so in Gefahr, abgeschnitten zu werden, und ein Großteil seines Korps drohte mit ihm unterzugehen, einige der besten Truppen der ganzen Armee.
Andrew starrte auf die Karte und wusste sehr gut, worauf sie sich alle in einer solchen Lage längst geeinigt hatten. Und wusste sehr gut, dass das grundlegendste Prinzip lautete: immer Kräfte in einen Sieg zu investieren, niemals zusätzliche Kräfte in eine sichere Niederlage zu steuern. Er spürte, wie sich ihm der Magen anspannte, als stünde Hans gleich hier neben ihm, fixierte ihn mit seinen Falkenaugen und erklärte ihm, was getan werden musste.
Er ging ins Telegrafenbüro, und während der Telegrafist die sechs chiffrierten Wörter tippte, starrte er Andrew an.
Andrew verließ die Hütte und gesellte sich zu seinem wartenden Stab.
»Er hat die Trompete geblasen«, sagte Andrew leise.
»Mein Gott, wir ziehen ab?«, schrie ein Adjutant.
Andrew nickte.
»Mehr als das halbe Korps von Hans wurde abgeschnitten. Morgen schon werden die Merki unsere hiesige Stellung von hinten angreifen. Ich habe Befehl gegeben, dass die Reservezüge in der Nacht hier anfahren, um die Armee zu evakuieren und hinter den Neiper zurückzuholen.«
»Was ist mit General Schuder?«
»Er ist jetzt auf sich selbst angewiesen«, sagte Andrew leise. »Sollten wir versuchen, ihn zu retten, ginge die ganze Armee auf dieser Steppe unter. Wir versuchen, einige Züge aus Suzdal über die Nordstrecke zu Bastion 100 zu schicken und ihn herauszuholen, ehe die Merki die Linie unterbrechen.«
»Kesus und Perm mögen ihm beistehen«, flüsterte ein Adjutant.
»Kesus möge uns allen in den kommenden Tagen beistehen«, sagte Andrew.
Verzeih mir, Hans, flüsterte er vor sich hin, als er in die Hütte zurückkehrte und die Tür schloss.