Kapitel 8
»Alle Ihre Ideen waren ja leicht auszusprechen«, sagte John Mina, »aber mir ist wirklich zuwider, dass ich es sein muss, der kalte Duschen zu verabreichen hat.«
Andrew kämpfte gegen den Schleif an. Die Standuhr im Wohnzimmer tickte rhythmisch die Zeit herunter. Er nahm den heißen Tee zur Hand, den ihm Kathleen auf den Beistelltisch neben seinem Stuhl gestellt hatte, und trank einen Schluck. Im Wohnzimmer war es fast zu warm, denn das Kaminfeuer, das die Frostigkeit des Abends verbannen sollte, sorgte für eine stickige Atmosphäre.
Er knöpfte den Hemdkragen auf und war froh, dass er die schwere Wolluniform und die Weste hatte ablegen können. Draußen auf dem Zentralplatz des kleinen neuenglischen Städtchens im Herzen von Suzdal war es still. Die Bürgerversammlung war recht glatt verlaufen, und die Männer und ihre Familien waren schweigsam nach Hause zurückgegangen. Zehn der Männer, die mit Hans gefallen waren, hatten Familien, und in ihren Häusern war es jetzt dunkel. Andrew bemühte sich, nicht an die schlichte Blockhütte auf der anderen Seite des Platzes zu denken, wo er viele Abende in ruhigen Gesprächen verbracht hatte, ein Wachmann stand vor der Tür, und in der Hütte war es dunkel und kalt. Andrew musste irgendwann hinübergehen und entscheiden, was mit den persönlichen Habseligkeiten geschah, verbannte den Gedanken jedoch. Zu viele andere Sorgen beschäftigten ihn, um sich wieder der Trauer zu stellen.
Er hatte den Menschen erklärt, dass hier alles verloren war, dass sie ihre Häuser aufgeben mussten – die sie so liebevoll in der Erinnerung an das frühere Leben aufgebaut hatten –, um nach Osten in ein ungewisses Schicksal zu fahren.
Er blickte sich im Wohnzimmer unter den alten Freunden um, den Gefährten, die dieses Abenteuer von Anfang an mit ihm zusammen erlebt hatten: Pat, John, Emil, Vincent, Chuck Ferguson, Kai, die Stabsoffiziere und die beiden neu hinzugekommenen Anführer Marcus und Hamilcar; und natürlich Kathleen, die neben ihm saß.
»Duschen sie uns so kalt, wie sie möchten, John«, sagte Andrew jetzt. »Es gehört schließlich zu Ihrem Job, mir zu sagen, was möglich ist und was nicht. Nur muss ich Ihnen diesmal erklären, dass es einfach getan werden muss.«
»Das weiß ich, Andrew.«
»Dann erklären Sie mir, wie wir es umsetzen.«
»Wir haben Sechsundsechzig Lokomotiven und einen Fuhrpark von an die achthundert Wagen. Darauf müssen wir das ganze Unternehmen aufbauen.
In ganz Rus haben wir laut Volkszählung etwas über eine drei viertel Million Menschen. Seit vergangenem Jahr ist sie etwas gewachsen.« Er blickte zu Hamilcar hinüber. »Um etwa dreißigtausend.
Etwa zweihunderttausend dieser Menschen leben innerhalb von hundertfünfzig Kilometern um Suzdal, und davon wiederum fünfzigtausend innerhalb von dreißig Kilometern um die Stadt. Die Kranken und Alten mal ausgenommen, schlage ich vor, dass sie praktisch alle zu Fuß abziehen.«
»Wie steht es um ihre Versorgung?«, fragte Emil.
»Darauf komme ich noch zu sprechen«, sagte John müde.
»Alles in allem müssen wir mindestens fünfhundert-fünfzigtausend Menschen mit der Bahn befördern. Ich schlage vor, dass wir dabei in zwei Schritten vorgehen. Wir fahren sie zuerst nach Kew – was uns vierhundert Kilometer weiter nach Osten bringt. Von dort aus bringen wir alle Nichtkombattanten nach Roum.«
»Die Horde kann vierhundert Kilometer in fünf Tagen zurücklegen«, gab Hamilcar kalt zu bedenken.
»Womit?«, fragte Andrew. »Sie erwarten, hier vom Land leben zu können; falls wir es jedoch in eine Wüste verwandeln, wird es etwas schwieriger für sie.«
»Man kann grünes Gras nicht verbrennen«, entgegnete Hamilcar.
Andrew nickte.
»Sie führen eine Million Pferde mit. John, wie viel braucht man, um ein Pferd auf den Beinen zu halten?«
»Ich erinnere mich, mal gehört zu haben, dass eines unserer normal großen Pferde – also nicht die Monster, die man hier antrifft – etwa fünfundzwanzig Morgen pro Jahr braucht. Ich würde sagen, ein hiesiges Pferd braucht mindestens dreißig, vielleicht fünfunddreißig Morgen bestes Weideland.«
»Sie werden sich aber nicht für ein Jahr einquartieren«, gab Emil ruhig zu bedenken. »Sie brauchen ja nur durch uns hindurchzufegen. Siebzig Pfund Heu pro Tag reichen für ein Pferd dieser Größe.«
»Eine Million Pferde, vierhunderttausend Krieger, vierhundert Geschütze, all das wird durch den Flaschenhals von Suzdal geführt«, stellte Andrew nachdrücklich fest. »Und vergessen Sie nicht: hier marschiert nicht nur eine Armee; hier ist ein ganzes Volk unterwegs, eine Völkerwanderung.«
»Eine was?«, fragte Pat, der das deutsche Wort nicht verstanden hatte.
»Ein Volk auf Wanderung«, erklärte Emil. »Wissen Sie, wie die Hunnen. Frauen, Kinder, alte Menschen, Wagen, einfach alles.«
»Das bedeutet mindestens eine weitere Million Pferde«, ergänzte Andrew.
»Sie werden Pferdefleisch essen. Die Tugaren hatten das damals abgelehnt, aber die Merki wissen es heute besser.«
»Zweitausend Pferde pro Tag brauchen sie dafür, falls keine weiteren Lebensmittel vorhanden sind. Das wird ihnen rasch weh tun, falls es uns gelingt, ihren Vormarsch hier zu bremsen. Sie können auch ihre Jurten nicht aufgeben und müssen die entsprechenden Zugtiere auf jeden Fall behalten. Letztlich verspeisen sie also die Ersatzreitpferde.«
»Selbst in Anbetracht des frischen Frühlingsgrases«, erläuterte Pat mit einem Schimmer Optimismus in den Augen, »fressen sich zehn Pferde pro Tag durch einen Morgen des hiesigen Agrarlandes. Das Nahrungsangebot schwindet wie Schnee in der Sonne, sodass in ein paar Monaten ein Morgen vielleicht noch für gerade ein Pferd reicht.«
»Hunderttausend Morgen pro Tag allein für die Reitpferde der Krieger, eine Million Morgen pro Tag bis zum Mittsommer«, sagte Andrew, und ein schmales Lächeln lockerte seine Züge auf.
»Noch haben Sie keine Antwort auf meinen früheren Einwand gegeben«, erinnerte ihn Hamilcar und gab dem Dolmetscher dabei kaum Zeit. »Die Merki können trotz allem ein Dutzend Umen in fünf oder sechs Tagen durch das ganze Land von Rus treiben und die desorganisierten Massen rings um Kew angreifen.«
Er senkte die Stimme.
»Das wird ein Massaker.«
Alle Blicke richteten sich auf Andrew.
»Wir werden sie bremsen. Darauf können Sie sich verlassen.«
Andrews Ton war nachdrücklich.
»Wie?«
»Wir werden es schaffen«, wiederholte Andrew und ließ dabei durchblicken, dass das Thema abgeschlossen war.
»Sie werden sich weiterhin von meinem Volk ernähren!«, stellte Hamilcar wütend fest.
Andrew betrachtete den Cartha-Anführer und wusste nicht, was er sagen sollte; nach wie vor schämte er sich des Massakers am Potomac.
»Trotzdem stehe ich im Kampf weiter an Ihrer Seite«, sagte Hamilcar leise.
»Falls wir den Fluss mit unseren Panzerschiffen halten, sogar noch nach unserem Rückzug, zwingen wir sie damit, ihn weiter am Oberlauf zu überqueren; die Flussstraße wird für sie unnütz sein. Sie müssen über achtzig oder noch mehr Kilometer eine komplett neue Straße durch den Wald anlegen, um mit ihren Wagen hindurchzukommen.«
»Und unsere Ernährung?«, wollte Emil wissen.
Andrew wandte sich hoffnungsvoll an John.
»Mit den verfügbaren Zügen können wir täglich achtzigtausend Menschen nach Kew bringen, jede Person mit zehn Pfund Gepäck.
Ich schätze, dass wir in ganz Rus derzeit Nahrungsmittel für annähernd neunzig Tage haben. Grob geschätzt hunderttausend Tonnen Lebensmittel – alles mitgezählt, was auf Hufen herumläuft und in Scheunen gelagert ist. An Masse läuft das auf mindestens sechshundert Zugladungen hinaus.«
John sortierte einen Augenblick lang seine Notizen.
»Wir brauchen mindestens dreißig Tage, um allein die Menschen und ihre Nahrung nach Kew zu bringen. Aber es gibt noch verflucht viel mehr: das Werkzeug und die Maschinen aus den Eisenhütten, Gießereien, Munitionsfabriken, dem Lokomotivenwerk und den Sägewerken. Und ich empfehle, auch alles landwirtschaftliche Gerät mitzunehmen, falls wir überleben möchten – und für den unwahrscheinlichen Fall, dass wir siegen.
Ich schätze, in vierzig Tagen Nonstop-Zugverkehr können wir es schaffen, unter der Voraussetzung, dass jede einzelne Lokomotive durchhält. Wir haben im vergangenen Winter eine Menge Holz geschlagen, aber ich bin nicht sicher, ob es reicht. Und wir haben gerade sechs Loks für den Betrieb mit Kohle umgerüstet.«
Im Zimmer herrschte Stille.
»Und außerdem, Andrew, dürfen Sie nicht die Armee vergessen. Wir müssen die ganze Zeit lang den Fluss verteidigen, und wenn die Linie schließlich fallt, wird der gesamte Fuhrpark benötigt, um die Truppen zu evakuieren. Zumindest falls wir eine komplett ausgerüstete Armee, die wir über drei Jahre hinweg aufgebaut haben, behalten möchten. Allein der Abtransport der Feldartillerie beansprucht zwei Tage lang jeden offenen Güterwagen, den wir haben. Ein weiterer Tag fällt für die bislang in den Städten aufgestellten Kanonen an.«
»Was ist mit der Flotte?«, erkundigte sich Bullfinch.
»Jedes einzelne Panzerschiff wird auf dem Fluss sein oder auf dem Meer patrouillieren«, antwortete Andrew.
»Und die Galeeren?«
»Falls wir mit ihnen weiter oben an der Küste landen, könnten wir mein ganzes Volk und einige der Rus evakuieren, die dort leben«, sagte Hamilcar.
Andrew nickte ihm dankbar zu.
»Dann fangen wir morgen an«, sagte er. »Wer sich zu Fuß auf den Weg machen kann, wird es auch tun. Die Kinder, Mütter mit Kleinkindern, alle Personen über sechzig, die Kranken und sämtliche Verletzten fahren ab morgen früh mit der Bahn ab.«
»Jesus, Andrew, wir haben keinerlei Pläne für ein solches Unternehmen vorliegen! Es dauert Tage, alles auszuarbeiten.«
»Wir haben aber keine Tage!«, raunzte Andrew. »Das haben Sie selbst gerade festgestellt.«
»Es wird ein fürchterliches Chaos. Die Leute finden in Kew gar keinen Wohnraum.«
»Dann zweigen Sie mehrere Züge ab, nehmen dazu auch die Schlafwagen für die Bahnarbeiter, und fangen gleich damit an, Menschen direkt nach Roum zu fahren. Falls wir es so machen, können wir in dreißig Tagen mindestens hunderttausend Personen nach Roum bringen.«
John nickte.
»Der zweite Schritt wird sein, nach der ersten Welle der Evakuierung sämtliche Lebensmittel zu verladen. Obwohl es mir widerstrebt, Herr Präsident, verkünde ich mit sofortiger Wirkung das Kriegsrecht.«
Kai lächelte.
»Davon bin ich bereits ausgegangen.«
»Es geht nicht anders. Wir müssen sämtliche Lebensmittel zu einer zentralen Ressource zusammenlegen. Webster, Sie und Gates machen sich gleich heute Abend daran, Gutscheinformulare zu drucken. Ich verstaatliche sämtliche Lebensmittelvorräte. Jeder erhält eine Quittung, und sobald alles vorbei ist, versuchen wir einen Ausgleich zu arrangieren. Sobald ein Bauernhof geräumt wurde, machen sich der Bauer und seine Familie gleich auf den Weg nach Osten. Falls Platz auf einem Zug frei ist, fahren sie mit dem.«
»Und da geht der Kapitalismus dahin«, seufzte Webster und rief dabei ein trauriges Lächeln bei allen hervor.
»Wir reißen die Fabriken ab. Falls wir jedoch das Werkzeug und die Maschinen verlieren, geht damit auch der Krieg verloren. Sobald die Fabriken abgerissen sind, erhält alles, was mit ihnen zu tun hat, oberste Priorität -sämtliche Arbeiter und ihre Familien, die noch hier sind, fahren zusammen mit dem Werkzeug und den Maschinen auf den Zügen hinaus. Wir können uns nicht erlauben, dass diese Leute von ihrer Ausrüstung getrennt werden, da sie die Einzigen sind, die sich auch darauf verstehen, wieder alles zusammenzusetzen.
Schlussendlich sammeln wir alles weitere ein, das transportabel ist: die Wagen und ihre Gespanne, sogar die Schienen und die Armee, sobald sie nicht länger durchhalten kann.
Wir müssen es in drei Wochen schaffen«, sagte Andrew leise und blickte dabei wieder John an. »Ich kann Ihnen nicht mal zehn Tage fest versprechen, aber wir werden uns bemühen, länger durchzuhalten.«
John sagte nichts.
»Und falls die Merki durchbrechen, ehe wir es geschafft haben?«, fragte Casmar.
»Die Prioritäten stehen«, flüsterte Andrew. »Im Zuge unserer Organisation reisen die Nichtkombattanten als Erstes, dann die Lebensmittel, wie sie an die Züge geliefert werden, und der Inhalt der zerlegten Fabriken, schließlich die Armee und alles weitere. Sollten die Merki vorher durchbrechen, erhalten die Armee und die Fabrikteile die höchste Priorität, und der Rest muss sich zu Fuß nach Kew durchschlagen.«
Casmar nickte und schwieg.
»Brennen wir die Städte ab«, schlug Emil vor.
»Wie Moskau?«, fragte Andrew widerstrebend.
Er blickte sich im Zimmer um.
»Nein«, flüsterte er. »Städte sind nutzlos für die Merki. Vielleicht bleibt uns, wenn alles vorbei ist, etwas von dem erhalten, was wir geschaffen haben.«
Er blickte sich in seinem Heim um und wurde sich zum ersten Mal richtig klar darüber, was er angeordnet hatte und wie es sich auf ihn selbst auswirkte. Die Uhr, die in der Ecke tickte; der von einem Rusbauern geschnitzte Schreibtisch, der eines Morgens an seiner Türschwelle gestanden hatte; die schlichten Teller in der Küche, sogar der Schmuckkasten, den er Kathleen vor so langer Zeit geschenkt hatte, als sie zum ersten Mal zusammen die Straßen von Suzdal entlangspazierten. All das würde nun zurückbleiben. Er rang einen Augenblick lang mit diesem Gedanken und blickte Kathleen an, und ihrer beider Hände berührten sich.
»Emil, ich möchte, dass Sie morgen mit allen Verwundeten nach Kew abreisen. Bauen Sie dort ein Lazarett auf und organisieren Sie den Sanitärbereich. Fletcher, Sie begleiten ihn – Sie sind für die Lagerung und Verteilung der Lebensmittel zuständig. Wir müssen Lagerhäuser aufbauen, um alles unterzubringen.«
Dieses eine Mal beschwerte sich der Doktor nicht.
Andrew blickte wieder Kathleen an.
»Maddie und ich gehen, sobald du auch gehst«, wisperte sie. Er sagte nichts und drückte ihre Hand.
»Noch ein abschließender Punkt«, sagte Andrew. »Das alles muss geheim bleiben. Die Merki dürfen nichts davon erfahren, bis sie den Fluss überschreiten und hier einrücken.«
»Ein verdammt schwer auszuführender Befehl, Andrew«, wandte Kai ein, »wenn man an diese verdammten Aerodampfer denkt, die über uns herumschwirren.«
»Das muss bedacht werden«, sagte John. »Wir hatten Abwehrstellungen entlang der militärischen Bahnlinie zum Potomac hinunter, aber hinter der Abzweigung nach Nowrod haben wir auf Kilometer hinaus nichts. Sobald die Merki von der Sache Wind bekommen, können sie heranbrausen, einen Streckenabschnitt bombardieren und vielleicht sogar landen und das eine oder andere Gleisstück aufreißen. Eine solche Beschädigung würde die Strecke für einen Tag oder mehr unterbrechen.«
Andrew blickte zu Chuck hinüber.
»Sie haben vergangene Woche ein Luftschiff gefahren?«
»Naja, Sir, Jack war der Pilot.«
»Ich wusste die ganze Zeit, dass Sie selbst fliegen würden, ungeachtet meiner Befehle«, sagte Andrew mit einer Spur Tadel im Ton. »Ist der Aerodampfer kampfbereit?«
»Wir sind noch dabei, ein paar geringfügige Probleme glattzubügeln.«
»Ich möchte ihn in drei Tagen über Suzdal in der Luft haben. Und holen Sie die übrigen Schiffe nach, so schnell Sie können.«
»Die Hangars oberhalb von Wasima sind noch kaum fertig, Sir. Außerdem hängt es vom Wind ab. Wir brauchen Nordostwind oder noch besser Ostwind, um hierherzufliegen.«
»Bringen Sie diese Schiffe in die Luft, mein Sohn. Wir haben nicht genug Zeit, um eine ganze Flotte aufzubauen, mit der wir die Merki überraschen können, wie wir es ursprünglich geplant hatten, aber falls sie daraufkommen, was wir im Schilde führen, werden sie ungeachtet aller Verluste über den Neiper stürmen.
Dieser Jubadi hat aus Muztas Fehlern gelernt. Er geht methodisch vor und schont seine Leute. Aber er wird sie nicht weiter schonen, falls er auf die Idee kommt, wir würden flüchten. Ich brauche eine Luftverteidigung.«
Chuck lächelte vorsichtig.
»Habe ich die Vollmacht, alles zu tun, was ich für nötig halte?«
»Natürlich. Die entsprechenden Befehle werden ausgestellt sein, sobald Sie aufbrechen.«
Chuck lehnte sich lächelnd zurück.
»Was immer Sie wünschen, Sir.«
John musterte Chuck argwöhnisch, denn er spürte, dass Andrew gerade einen viel weiter reichenden Befehl erteilt hatte, als John selbst ahnte; er war jedoch zu müde, um sich darum zu scheren, und sagte nichts dazu.
Er wandte sich wieder Andrew zu; er wusste, dass das ganze Unternehmen der Traum eines Narren war. Obwohl Andrew den Einwand weggebürstet hatte: sobald die Merki durchbrachen, konnte sie niemand mehr an einem raschen Marsch nach Osten hindern. Die Stellungen entlang der Weißen Berge waren kaum in der Lage, sich einem solchen Angriff entgegenzustellen.
Andrew tischte ihnen hier eine Fantasievorstellung auf. Das war das Ende von allem. John hätte am liebsten etwas gesagt, aber ein scharfer Blick Andrews machte ihm deutlich, dass dafür jetzt nicht der richtige Augenblick war. John senkte den Blick, benommen von dem, was ihnen allen von neuem abverlangt wurde.
Tamuka packte den Ast und spürte, wie dieser unter seinem Gewicht leicht nachgab. Er zog sich hinauf und lehnte sich mit dem Rücken an den Stamm. Der Baum schwankte leicht unter der aus dem Norden kommenden frischen und duftenden Brise. Er blickte nach Westen zurück. Auf dem breiten Pfad durch den Wald wimmelte es, so weit das Auge reichte, von Pferden, Kriegern und Artilleriegeschützen, ein Heerzug, der sich wie eine Schlange bewegte.
Was für eine schreckliche Gegend!, dachte Tamuka. Erinnerungen an den Angriff blitzten in ihm auf: die einsame Reihe der Navhag, die voranstürmte, dahinter ein weiteres Umen nach dem anderen, die über die offene Steppe brausten. Und jetzt das hier! Vier Tage, und noch immer war weniger als ein Drittel des Nordflügels bis zum Fluss vorgedrungen. Unter ihm wimmelte es im Wald von Pferden, die durch gefallene Blätter stapften, und der Fluss war über achtzig oder mehr Kilometer gesäumt vom sich sammelnden Heer.
Eine Granate peitschte funkensprühend durch die Nachtluft und detonierte über dem Pfad. Ein Schmerzensschrei; dann sanken ein Krieger und sein Pferd zu einem blutigen Haufen zusammen, und die zerfetzten Körper zeichneten sich im roten Mondlicht geisterhaft ab.
Ein weiteres Geschütz feuerte, und Tamuka blickte nach Osten. Eine Welle von Schüssen lief die Front entlang. Granaten zogen über ihm ihre Bahn und explodierten entlang des Pfades und in den Baumwipfeln. Er fühlte sich albern nackt. Schrapnell zischte vorbei und prasselte in den Zweigen. Noch mehr Krieger fielen, und die Kolonne geriet durcheinander. Die Viehgeschütze verstummten wieder.
Meisterhaft, gestand Tamuka widerstrebend ein.
Die Befestigungen auf der anderen Seite des Flusses waren imposant: zwei Linien auf dem zum Fluss abfallenden Hang, das jeweilige Vorfeld ein Labyrinth aus zugespitzten Pflöcken und Gestrüpp. Das Ufer war bedeckt mit den Leichen dreier Regimenter, die über den Fluss gestürmt waren, nur um im Kreuzfeuer der Eisenschiffe und der Uferbatterien zugrunde zu gehen.
Tamuka schloss die Augen und sperrte die Schmerzensschreie dort unten aus. Sein Atem pulsierte kräftig zwischen ein und aus und wurde immer schneller. Der Baum schwankte; der Wind wisperte mit sanfter Stimme in den Zweigen und seufzte, lockte den Atem jeweils wieder heraus, schob ihn wieder hinein. Er schien zu sagen, dass Tamuka, der Wind und der Himmel eins waren.
Der Geist des Schildträgers stieg empor.
Er spürte, wie der Körper unter ihm zurückfiel, und obwohl sein Tu es nicht mitbekam, umklammerten die Hände den Ast noch fester und bewahrten die Körperhülle für seine Rückkehr.
Ein Lichtimpuls floss über Hunderte von Kilometern aus Westen heran. Das Lebensblut seines Volkes, der Horde, drang unerbittlich immer weiter vor. Die Gerüche der Pferde, der Leute, der Jurten, der Lagerfeuer, des freien Graslandes, der endlosen Steppe stiegen rings um den Tu auf und halfen ihm, seine Energie zu bündeln.
Die Geister der Ahnen schwebten am Himmel, ihrerseits ein gewaltiger Strom, der sich für immer über den Himmel ergoss und die Horde auf ihrem endlosen Ritt leitete. Tamukas blicklose Augen wandten sich zum Himmel und konnten sehen. Erneut spürte er diese Sehnsucht, eine in seiner Seele eingeschlossene Erinnerung, die sich wie ein Bogen über den Himmel spannte: die Ahnen der Ahnen riefen. Das waren wir einst; wir reisten zu den Sternen, bauten die Tunnel aus Licht, um von Welt zu Welt zu springen. Sogar auf die Welt des Viehs, auf der wir in unserer Jugend einst wandelten, wo wir Tore in Ländern errichteten, die heute vom Meer überspült sind, sowie auf den offenen Steppen dort, in den gewaltigen Gebirgen, unter türkiser Meeresfläche.
Und es ist dahin, alles dahin – zerstört durch unseren Stolz, unseren Selbsthass, niedergerissen vor zehntausend Generationen, sodass alles, was von uns übrig ist, nur noch hier auf Waldennia zu finden ist, die Reste dessen, was wir in unserer Größe waren.
Tamuka hatte das Gefühl, als zerspränge ihm das Herz vor Schmerz – dieses Begreifen, was verloren gegangen war, und die Erinnerung daran, die ihm durchs Innerste sickerte, weitergegeben vom Blut der Väter im eigenen Herzen. Ein Universum lag einst in unserer Hand, aber heute sind wir zu dem geworden, was man hier sieht, im Kampf gegen jene, die wir früher nicht mal der Beachtung für wert hielten, wir, die einst Herren der Sterne waren. Und jetzt flüsterten ihm die Ahnen zu: sie, die noch an ihrem Morgen standen, während wir schon unseren Mittag erreicht hatten – sie haben sich erhoben. Sie haben sich erhoben und kommen hervor, um uns zu jagen, uns zu töten.
Also sprachen die Ahnen zu Tamuka, dem Schildträger, dem Geistwanderer des Tu auf dem Weg des Wissens, und seine Seele weinte bittere Tränen; der Tu schrie auf vor Zorn, sodass sogar die Hülle, der Ka, erbebte, während er sich am Baum festhielt und Tränen seine blicklosen Augen füllten. Denn wir stehen jetzt am Abend unserer Tage, und die anderen werden in ihren leuchtenden Morgen springen.