Kapitel 6
»Er hat die Trompete geblasen.«
John Mina blickte Pat an.
»Die niemals zum Rückzug blasen soll«, sagte Pat leise.
Kai rutschte nervös auf dem Stuhl herum und betrachtete die Lagekarte an der Wand.
»Wie konnten wir die Potomac-Linie nur so schnell verlieren?«, fragte er traurig. Er stand auf und strich mit der verbliebenen Hand die Falten der langen schwarzen Jacke glatt.
»Es war ein Risiko«, antwortete Pat fast abwehrend. »Lee hat 1864 fast die gleiche Frontlänge mit etwa der gleichen Anzahl Truppen gehalten.«
»Fast fünfhundert Kilometer Schienenstrecke und über hundertfünfzig Kilometer Befestigungen – alles verloren«, flüsterte John und schüttelte ungläubig den Kopf.
Am angrenzenden Zimmer blieb die Telegrafentaste nicht stehen. Ein Bursche brachte die jüngsten Meldungen, und Pat las sie schweigend durch, ehe er sie weiterreichte.
»Sind wir vorbereitet?«, fragte Kai schließlich und sah dabei John an.
»Dreißig Lokomotiven mitsamt den Wagen stehen hinter den Linien bereit, um die Soldaten und die Artillerie zurückzuholen. Zum Glück hatten wir entschieden, das Hauptdepot hier in Suzdal zu belassen. Wir verlieren die unmittelbaren Versorgungsgüter, die schon an der Front sind, aber sonst nichts.«
»Aber was wird aus unseren übrigen Plänen?«
John schüttelte den Kopf.
»Wir haben uns am Potomac auf ein Glücksspiel eingelassen und glaubten, noch mindestens zwei weitere Monate Zeit für die Ausweichlinie beim Bahnhof Wilderness Station zu haben sowie für noch stärkere Befestigungen am Oberlauf des Neiper. Wir hatten darauf gezählt, noch wenigstens zwei weitere Korps Infanterie zu haben und weitere zwanzig Batterien Geschütze für die Entscheidungsschlacht Anfang Juli.«
Er legte eine kurze Pause ein und lehnte sich zurück, als grübelte er über ein theoretisches Problem.
»Womöglich verlieren wir Hans’ komplettes Korps«, sagte Pat leise, während er die Meldungen sichtete, die aus dem Hauptquartier des bedrängten dritten Korps eingingen. »Der Bruch ist schon jetzt acht Kilometer tief -nur die Dunkelheit hält die Merki noch auf.«
Pat stand vom Stuhl auf. Er beugte sich über den Tisch, justierte den Docht der Öllampe und blickte Kai an.
»Falls wir sämtliche Männer Kindreds verlieren, dann denke ich nicht, dass wir den Feind noch aufhalten werden«, sagte er leise. »Es geht dort um ein Drittel all unserer Veteranen.«
»Wir verlieren vielleicht sogar, falls wir sie retten«, gab John kalt zu bedenken. »Die Merki erleiden bislang anscheinend verdammt wenig Verluste. Dabei müssten wir ihnen zehnmal mehr Verluste zufügen, als wir selbst erleiden, um siegreich zu bleiben. Ich bezweifle jedoch, dass wir auch nur ein Verhältnis von zwei zu eins erreichen. Sie werden fast noch intakt sein, sobald sie den Neiper erreichen.«
»Was zum Teufel sagen Sie beide da?«, raunzte Kai wütend. »Wir alle waren so verdammt zuversichtlich, dass wir stets siegreich bleiben würden. Jetzt haben wir diese Schlacht verloren, aber es ist nur die erste des ganzen Krieges.«
Pat blickte zu Kai hinab und lächelte.
»Wenn wir mal vom günstigsten Fall ausgehen: können wir die Neiperfront halten?«, fragte Kai und erwiderte Pats Blick.
Der Artillerist zupfte an seinem Bart und runzelte die Stirn.
»Dieser Trick mit der Mole … Wir hätten nie erwartet, dass sie so was tun, aber wir hätten verdammt noch mal damit rechnen müssen!
Die gleiche Nummer werden sie am Oberlauf des Neiper durchziehen. Sie haben hundertsechzig Kilometer Fluss vor sich. Sie können die ganze Strecke sondieren, eine ungeschützte Stelle finden und dort übersetzen. Sobald sie ihn überquert haben …« Er wurde still.
»Wie lange brauchen sie dafür?«, fragte Kai scharf.
»Falls sie die gefangenen Carthas heranführen: in einer Woche können sie sie etwa zweihundert Kilometer weit treiben«, antwortete John.
»Dann haben wir eine Woche Zeit, um uns etwas zu überlegen!«, bellte Kai.
»Ich breche lieber gleich auf«, sagte John Mina und erhob sich. »An der Neiperbrücke wird das reinste Chaos herrschen, und wir müssen noch die Züge sortieren.«
Er nahm einen Stoß Papiere zur Hand, stopfte sie in seinen Ranzen und verließ das Zimmer.
Pat packte seinen Hut und ging zur Tür.
»Wo finde ich Sie?«, fragte Kai.
Pat lächelte.
»Ich fahre an die Front; jemand muss doch Hans herausholen.«
»Andrew erwartet, dass Sie hier bleiben.« Pat lachte gutmütig und knallte die Tür hinter sich zu.
»Warum halten wir an?«, knurrte Tamuka.
Instinktiv kauerte er sich im Sattel zusammen, als ein Lichtblitz über den Himmel zuckte.
Er bemühte sich darum, die Angst zu beherrschen, als er die Schreie der Unglücklichen hörte, die der Blitz getroffen hatte. Der Donner rollte vorbei. Ein weiterer Blitz zuckte herab, fuhr in den Schild seines Gefährten und leuchtete dabei heiß und klar auf der polierten Außenseite.
Hulagar streckte die Hand aus und gab dem anderen Schildträger einen Klaps auf den Ellbogen.
»Deshalb!«, schrie er, als ein weiterer Donnerschlag über die Steppe rollte.
»Es ist zu dunkel, es regnet und wir brauchen Ruhe. Ruhe du dich auch aus, mein junger Freund, denn dein Ka brodelt vor Blutgier. Ruhe dich aus; der Sieg heute war gut.«
Tamuka schüttelte Hulagars Hand ab und schämte sich, weil er kurz der Angst zum Opfer gefallen war. Und doch war es selbst für den Qar Qarth akzeptabel, wenn er Angst zeigte, sobald die Fackeln Worgs am Himmel aufleuchteten, denn schließlich brannten sie mit dem Feuer eines Gottes. Tamuka wendete das Pferd und blickte zu der Stelle hinüber, wo Jubadi saß, kaum erkennbar im Licht einer unstet flackernden Fackel; dann wollte er das Pferd antreiben. Hulagar griff ihm jedoch an den Zügel, und Tamuka sah ihn wütend an.
»Tu es nicht!«, zischte Hulagar. »Es steht dir nicht zu. Du treibst dich selbst zu hart voran.«
»Wir haben sie an der Gurgel! Du hast sie fliehen gesehen; du hast das Gemetzel miterlebt, als ihre Linie brach!«
»Ja«, sagte Hulagar leise, »und ich habe dich in der Vorhut gesehen. Ich habe gesehen, wie du mit Freude im Blick flüchtendes Vieh niedergehauen hast. Ist das noch ein Schildträger?«
Tadel schwang nachdrücklich in seinem Ton mit, und Tamuka blickte unbehaglich auf.
»Der Kampf ist nicht unsere Aufgabe; unsere Aufgabe ist es, zu beschützen und zu beraten und nicht selbst das Blut des Feindes zu nehmen. Sollen unsere Qarths das tun!«
Spürte Hulagar es denn nicht?, fragte sich Tamuka. Diese Schlacht diente nicht der Freude und nicht dem Beweis des eigenen Namens. Dies hier ging über Krieg hinaus, war ein Ringen um das Überleben der Horde, aller Horden, sogar der in Schande gefallenen Tugaren und der verfluchten Bantag, die nach wie vor ihren eigenen Ritt gen Osten fortsetzten und den Merki die blutige Bürde überließen, sie alle zu retten.
Wie seltsam sie war, diese Lust. Vor einem Jahr noch hatte Tamuka geglaubt, er hätte sich gelöst von allen Dingen, außer dem Weg des Begreifens, dem Aufstieg zum reinen kristallklaren Licht des Schildträgers.
Er musterte die Versammlung und erblickte Vuka an der Seite seines Vaters, und Tamuka empfand Verachtung. Er erinnerte sich an Vuka beim Angriff, wie er ganz vorn mitgeritten war, als alle es sehen konnten; wie er dann jedoch im Augenblick des Grauens ein Stück zurückblieb, als sie die Linie mit den Fallgruben durchquerten, wo Pferde schreiend stürzten, dann die Flanke zu den Wällen hinauf, wo sich Vieh erhob und ihnen direkt in die Gesichter schoss. Vuka fiel nicht weit genug zurück, um auffällig zu werden, aber doch genug, um sich zu schützen.
Das war nicht die kluge Entscheidung eines Qar Qarth, eines Häuptlings, der wusste, dass er zuzeiten andere nach vorn stürmen lassen musste, um sich nicht sinnlos der Gefahr auszusetzen. Nein, Vukas Verhalten war anders, war Ausdruck einer beharrlichen Furcht. Es war in Ordnung, wenn Vieh sich wie Vieh benahm, und es war in Ordnung, sich rasch die Klinge mit dessen Blut zu befeuchten. Aber in einer Situation, in der das Vieh den Tod brachte, einen letztlich ehrlosen Tod ohne Ehre, da zeigte Vuka Angst.
Dieser Anblick hatte in Tamuka den Irrsinn entfesselt, und er war nach vorn gesprungen, hatte den Schild von Vukas Seite gesenkt, das Krummschwert gezückt und war über die Brüstung gestürmt. Sein Pferd fiel, rollte strampelnd und schreiend in die feindliche Festung hinab, und das Stück Vieh, das das Tier niedergeschossen hatte, stand keuchend da, das Gesicht bleich und abgespannt. Der Mann hob die Faustfeuerwaffe erneut und drückte den Abzug, aber der Hahn schlug auf eine leere Kammer.
Tamuka dachte mit einem inneren Schaudern daran zurück. Er hatte in diesem Augenblick geglaubt, er wäre so gut wie tot, niedergestreckt von der Hand eines bloßen Tieres, und das hatte ihn mit Wut erfüllt.
Das Stück Vieh war nicht schnell gestorben, dafür sorgte er. Er nahm sich Zeit für die Schwerthiebe – erst die Arme, ehe der tödliche Hieb gegen den Kopf erfolgte.
Vuka lachte über diesen Anblick und tauchte das eigene Schwert in die offenen Wunden des Mannes, als wäre er seine Beute; dann lief er weiter.
Nein, Hulagar hatte das nicht mitempfunden und spürte immer noch nicht, wie mörderisch diese Auseinandersetzung wirklich war.
»Falls wir jetzt nachsetzen«, sagte Tamuka kalt, »können wir bis zum Morgen ihre beide Straßen aus Eisenstreifen unterbrechen.«
»Die Umen sitzen seit gestern Nachmittag im Sattel und haben dabei über hundertfünfzig Kilometer überbrückt!«, hielt ihm Hulagar scharf entgegen. »Wir haben eine Schlacht geschlagen, und unsere Pferde brechen vor Erschöpfung schier zusammen. Falls wir jetzt die ganze Nacht weitermachen, könnte bei Anbruch des Morgens alles verloren sein: unsere Krieger zu erschöpft, um noch zu kämpfen, unsere Pferde zu müde, um noch zu laufen. Tausende von ihnen sind schon tot.«
Tamuka schnaubte verächtlich, musste aber zugleich darum ringen, das Zittern der Gliedmaßen zu beherrschen. Er blickte zum Nachthimmel auf, während ihm der Regen übers Gesicht spülte und innerhalb der Rüstung hindurchlief, und er schauderte über das kalte, klamme Gefühl des nassen Leders.
»Warum kann die Nacht nicht Tag sein, wenigstens in diesem Augenblick?«, rief er. »Nur für diese Stunden? Sie werden entkommen!«
Hulagar war erschrocken von Tamukas düsterer Eindringlichkeit und schwieg.
»Wir könnten der Sache hier ein Ende machen!«, raunzte Tamuka. »Wir könnten sie fern ihrer Städte von jedem Rückzug abschneiden, um dann in zehn Tagen unbehindert in ihr Land einzumarschieren.«
»Unser Fürst, der Qar Qarth, glaubt, das wir so viel schon erreicht haben.«
»Dann ist er ein Dummkopf!«, zischte Tamuka.
Benommen wendete Hulagar sein Pferd. Er lenkte es eng an Tamukas Seite und packte den anderen Schildträger am hohen Kragen des Lederwamses.
»Du gehst zu weit, Schildträger des Zan Qarth!«
»Du vergisst«, wandte Tamuka ein, »dass wir es sind, die ebenfalls Macht in Händen halten. Du vergisst, dass wir es sind, die sogar den Qar Qarth selbst beseitigen dürfen, falls er sich als unwürdig erweisen sollte zu herrschen, damit der Weg für einen Besseren frei wird.«
»Ich bin der Schildträger des Qar Qarth«, zischte Hulagar. »Ich allein habe diese Macht. Ich allein bin der Qarth unserer Bruderschaft. Ich allein darf solche Gedanken hegen, und dies auch nur in der Stille meines eigenen Geistes!«
Tamuka befreite sich aus Hulagars Griff.
»Der Vorstoß einer einzigen Nacht! Durchtrennen wir die Eisenstreifen des Feindes fünfzehn Kilometer nordöstlich von hier und achtzig Kilometer südöstlich von hier. Dann hätten wir sie jetzt gleich im Sack!«
»Die Entscheidung wurde gefällt«, entgegnete Hulagar, »und ich bin mit ihr einverstanden. Wir haben viel gewonnen. Obwohl wir von großer Zahl sind, dürfen wir nicht vergessen, dass wir es nach diesem Krieg wieder mit den Bantag zu tun haben, ungeachtet aller Versprechungen, die du ausgehandelt zu haben glaubst. Unsere Krieger fallen vor Erschöpfung aus den Sätteln. Keine Sterne sind zu sehen, die uns führen. Woher sollen die Krieger also auch nur die Richtung erkennen, die sie in dieser Dunkelheit einschlagen? Du verlangst zu viel. Bei Anbruch des Tages wären sie nicht mehr fähig zu kämpfen – hätten sich verstreut und schwebten in Gefahr, ihrerseits angegriffen zu werden.
Wir müssen in diesem Ringen obsiegen, aber wir müssen den Sieg auf eine Art und Weise erringen, dass wir auch den nächsten Krieg gewinnen. Du hingegen tust so, als wäre in diesem Krieg des Viehmetzeins das Leben von Zehntausend, von Fünfzigtausend ohne Belang. Hast du nichts von den Verlusten der Vushka Hush vernommen?«
»Die Hälfte von ihnen sind tot«, sagte Tamuka trocken, »aber sie haben sich gut geschlagen.«
»Ja, das haben sie.«
Erschrocken drehte sich Tamuka um und sah, wie sich Jubadi zu ihnen gesellte. Einen Augenblick lang geriet er in Panik und schämte sich ihrer zugleich, als stünde er einem Vater gegenüber, der Zeuge taktlosen Benehmens geworden war.
Jubadi musterte ihn.
»Mein Sohn berichtet, du hättest einen ihrer Anführer abgeschlachtet«, sagte er trocken.
Tamuka nickte.
»Eine seltsame Tat für einen Schildträger.«
»Er stand im Weg«, entgegnete Tamuka.
Jubadi lächelte.
»Vergiss deine andere Aufgabe nicht, Tamuka.«
Tamuka nickte, ohne etwas zu sagen.
»Es ist Zeit zu schlafen«, sagte Jubadi mit einem Blick zum Nachthimmel. Ein weiterer Blitz zuckte darüber hinweg und tanzte zwischen den Wolken. Jubadi sah es sich reglos an, und der Regen glättete seine wallende Mähne.
»Nachts Krieg zu führen, das war nie unsere Art. Und wenn Worg spricht, ist ebenfalls nicht die Zeit zu kämpfen. So lauten die Worte unserer Väter.«
»Wenn wir gegeneinander stehen«, wandte Tamuka ein. »Aber gegen Vieh?«
Jubadi drehte sich wieder zu ihm um.
»Wir erledigen sie morgen; sie sind so erschöpft wie wir.«
»Hoffen wir es«, sagte Tamuka leise.
Jubadi sagte nichts und wandte sich ab.
»Brennt nieder, was noch übrig ist!«, schrie Hans und deutete auf ein Lagerhaus mit offener Wand, das noch dicht gefüllt war mit Rationen.
Schrill pfeifend fuhr ihm abgelassener Dampf über die Beine, und ein Funkenregen stieg hinter ihm auf. Er drehte sich um und verfolgte, wie der Zug aus dem Depot fuhr und Kurs direkt nach Osten nahm; dabei drehten die Rader mehrere Male durch, ehe sie auf den nassen Gleisen griffen.
Die geschlossenen Güterwagen glitten vorbei. Im Laternenlicht sah er, dass sie dicht gefüllt waren mit Verwundeten. Ein halbes Dutzend offene Wagen folgten am Schluss des Zuges, auf jedem davon zwei Feldgeschütze, wobei die Munitionswagen zurückblieben.
Auf einmal hatte Hans eine Idee. Er blickte den jungen Gregori an, der neben ihm stand.
»Junge, ich brauche Sie, um die Dinge zu organisieren. Steigen Sie in diesen verdammten Zug! Organisieren Sie die Truppen wieder, sobald sie hinter dem Neiper sind.«
»Aber, Sir, ich werde hier gebraucht!«
»Hier werden Sie mir aber auch glatt verflucht viel nützen!«, knurrte Hans. »Jetzt los mit Ihnen!«
Gregori zögerte und sah den Zug an, der langsam vorbeiratterte.
»Los!«, bellte Hans.
Gregori salutierte und lief zum Zug.
»Sobald Sie zu Hause sind«, schrie ihm Hans nach, »heiraten Sie gefälligst dieses Mädchen, von dem ich gehört habe!«
Gregori blickte zurück, zögerte, salutierte noch einmal traurig und sprang auf den letzten Wagen, als dieser gerade vorbeirollte.
Hans blickte ihm wehmütig nach und bemerkte kaum, dass sich Ingrao zu ihm gesellt hatte.
»Sie werden wohl sentimental«, fand Ingrao.
»Er hat das Zeug zu einem guten Kommandeur«, antwortete Hans sanft. »Er hat die Chance verdient.«
Hans sah Ingrao an, der schweigend verfolgte, wie der Zug im Nebel verschwand.
»Das waren alle«, stellte Charlie traurig fest. »Es tut mir Leid, was die Übrigen angeht.«
»Sie haben hinausgeschafft, wen sie konnten«, sagte Hans.
»Ich habe heute die halbe Korps-Artillerie verloren -drei Batterien Napoleoner, zwanzig Vierpfünder.«
»Sie haben die Vushka aufgehalten.«
»Die halbe Artillerie, um ein Umen zu vernichten? Bei dieser Quote erledigen wir acht Umen, und ihnen bleiben noch dreißig.«
Hans wandte sich ab. Wieder das Flattern, die Leichtheit, der stechende Schmerz.
Und er feilschte aufs Neue mit sich: nicht jetzt! Lass mich das hier zu Ende bringen.
»Wir brauchen noch acht Züge«, sagte er und blickte Charlie an, als könnte man die Züge aus dem Nichts herbeirufen, indem man einfach den Wunsch äußerte.
Er blickte zum Himmel hinauf, über den ein Lichtblitz fuhr. Eine schwere Regenbö fegte an ihnen vorbei, hob seinen Poncho an und durchnässte seine Beine.
»Wie spät?«
Charlie schüttelte den Kopf.
»Mitternacht muss vorbei sein.«
Also noch sechs Stunden.
Er traf Anstalten, sich abzuwenden, aber Charlie packte ihn am Ärmel und drehte ihn wieder um.
»Jemand wird letztlich zurückbleiben müssen«, sagte Charlie. »Sie wissen das, ich weiß das. Jemand muss den Rückzug der anderen decken. Wir können nie alle aus der Schlacht abziehen, in die Züge laden und hinausbringen. Man riecht hier schon die Anfange einer Panik.«
Hans nickte.
Aus dem Durchbruch im Norden zog er schon die ganze Nacht lang Männer ab – das, was von zweieinhalb Divisionen übrig war. Er zog sie am Depot zusammen, lud sie dort in die Züge und fuhr sie nach Osten, hinaus aus dem Kessel, der von den Vushka im Norden und der geballten Masse der Horde im Süden gebildet wurde. Erst zwei Brigaden waren draußen. Wenn der Morgen anbrach, herrschte womöglich schon das Chaos.
»Wir schaffen sie hinaus. Geben Sie die Meldung weiter: ich möchte alle Einheiten innerhalb einer Stunde an dieser Schienenstrecke in Formation aufmarschiert sehen. Wir geben die gesamte Frontlinie auf«, sagte Hans leise.
»Die Frontlinie aufgeben! Und was, wenn die Merki durchstoßen?«
Erneut peitschte ein Regenguss herab, und der kalte Wind trieb ihn zu einem fast horizontalen Laken.
»Dieses Wetter schickt uns der Himmel, um unseren Rückzug zu tarnen«, erklärte Hans. »Ich bezweifle, dass diese schmutzigen Drecksäcke nachts bei solchem Wetter angreifen. Wir führen die Jungs schnurstracks nach Osten zu den Zügen, die dort einfahren werden. Wenn der Morgen anbricht, schließen die Merki den Kessel, und mit etwas Glück bleiben wir dabei außerhalb. Jetzt aber los!«
Ingrao musste lächeln, salutierte und rannte los.
Hans tastete in der Hosentasche nach Kautabak. Er zog den kümmerlichen Rest des Priems hervor und fluchte. Natürlich ging ihm das Zeug in einer solchen Lage aus. Er steckte diesen Rest in die Tasche zurück.
»Zwei Stunden bis zur Morgendämmerung.«
Andrew nickte schweigsam.
Es goss in Strömen, und er sprach lautlos ein Dankgebet.
Geduckt spähte er in den dahinjagenden Regendunst, und die Fluten des Potomac liefen ihm über die Stiefel.
Er konnte sie am anderen Ufer hören, wo ihre Rufe widerhallten. Sie arbeiteten nach wie vor daran, obwohl der Pegel durch den seit Anbruch der Nacht tobenden Sturm schon gestiegen war.
Ein Blitz leuchtete dort drüben auf, und ein Sprühregen Kartätschengeschosse peitschte über den Fluss; sie prasselten in die schlammverkrusteten Wälle hinter Andrew.
Noch war der Angriff nicht eröffnet. Die Nacht und das Wetter hatten sich zumindest vorläufig darauf verständigt, Andrew bei der Rettung seiner Armee zu helfen.
»Gehen wir«, flüsterte Andrew. Er drehte sich um und mühte sich den rutschigen Hang hinauf, und schlammverkrustete Burschen zogen und schoben ihren Kommandeur zurück über den Wall.
Barney stand hier vor ihm, kaum erkennbar im Sturm.
»Sie wissen, was jetzt zu tun ist«, sagte Andrew.
»Weiterfeuern bis etwa eine Stunde vor Sonnenaufgang. Dann die Kanonen vernageln und uns wie der Teufel zur Bahnlinie zurückziehen.«
»Ich denke nicht, dass die Merki schon vor dem Morgengrauen etwas unternehmen. Es ist einfach zu dunkel, um die Flöße zu Wasser zu lassen.«
»Um meinetwillen hoffe ich das«, sagte Barney und zwang sich zu einem grimmigen Lachen.
Andrew gab ihm einen Klaps auf den Rücken.
»Wir sehen uns am Neiper«, sagte er. Er erwiderte Barneys militärischen Gruß und ging weiter.
Auf dem ganzen Weg zurück ins Hauptquartier behielt er den Poncho an. Das Ding war die alte Einheitsgröße der Nordstaatenarmee. Wer immer diesen Schnitt bewilligt hatte, musste zwergwüchsig gewesen sein, dachte Andrew kalt. Bei einem Menschen von über einsachtzig reichte der Poncho kaum über die halben Oberschenkel, und die nasse Wolle der Hose klebte an Andrews spindeldürren Beinen.
Er blickte sich in der Hütte um. Alle Karten und seine persönliche Habe waren schon verladen. Er ging ins Hinterzimmer, und der Telegrafist blickte besorgt auf.
»Irgendeine Nachricht?«
»Bei Bastion 60 sind sie knapp an Zügen. Wie Sie befohlen haben, vernageln sie dort die Geschütze und schieben sie von den Güterwagen, um den nötigen Platz freizumachen und das letzte Regiment herauszuholen.«
»Warten Sie eine Minute.« Er hob die Hand, als die Taste wieder losklapperte.
Er tippte eine kurze Antwort und blickte auf.
»Die Telegrafenstation von Bastion 60 macht dicht. Der letzte Zug fährt gerade aus. Alle Männer sind eingestiegen.«
Andrew nickte, und der Telegrafist blickte wieder auf den Meldungszettel.
»Alle Positionen östlich von hier wurden aufgegeben und geräumt. Die beiden Züge, die von Nummer 60 kommen, müssten innerhalb einer Stunde auf der Heimatstrecke sein. Einige Merki konnten fünfzehn Kilometer westlich von hier herüberkommen, aber wir haben sie kurz vor der Bahnlinie aufgehalten. Alle Männer von unserer Front sind weg, abgesehen von den beiden Regimentern Barneys. Das ist alles, Sir.«
»Machen Sie zu; wir brechen auch auf.«
Der Telegrafist nickte dankbar und tippte eine kurze Meldung. Sekunden später riss er die Taste von der Leitung und sammelte behutsam die nassen Batterien ein, die er in einen Tragekasten packte.
»Alles abgeschaltet, Sir.«
»Dann gehen wir«, sagte Andrew.
Er ging hinaus in den Sturm und warf einen abschließenden Blick in die Runde.
»Ein Jahr Planungen«, flüsterte er, tadelte sich selbst mit einem leisen Fluch und stieg in den wartenden Waggon.
Seine Stabsoffiziere drängten sich um den qualmenden Ofen, und der Geruch von nasser Wolle hing hier dick in der Luft. Mehr als einer der jungen Offiziere war schon eingeschlafen und hatte sich zwischen Haufen von Ausrüstungsgegenständen zusammengerollt.
»Fahren wir nach Hause«, flüsterte Andrew. Sekunden später ruckte der Zug an und folgte dem Nebengleis zur Hauptweiche, um von dort auf die Strecke nach Suzdal zu schwenken.
»Was zum Teufel meinen Sie damit, Sie könnten keinen weiteren Zug hinaufschicken?«, brüllte Pat, der über dem Bahnhofsvorsteher aufragte, als wäre er bereit, ihn umzubringen.
»Der Regen hat die Gleise an zwei Stellen unterspült: einmal fünfzehn Kilometer unterhalb von hier, die andere Stelle hinter den von der Front kommenden Zügen. Dadurch ist die Strecke verstopft. Es wird ein paar Stunden dauern, das zu reparieren. Wir müssen die sechs Züge, die von der Front kommen, hier durchleiten, sodass die Strecke wieder frei wird, ehe wir noch einen Zug hinausschicken.«
»Gott verdamme es!«, brüllte Pat und schlug mit der Faust auf den Tisch. Der Bahnhofsvorsteher sprang erschrocken rückwärts.
»Während Sie hier herumsitzen, warten Schuder und fast drei verdammte Brigaden auf die Evakuierung!«
»Wir arbeiten daran!«, keuchte der Bahnhofsvorsteher.
»Tun Sie etwas!«
»Ich habe selbst einen Sohn da draußen!«, schrie der Mann mit brechender Stimme. »Denken Sie nicht, dass ich längst etwas tue?«
»Lassen Sie die Soldaten aus den Zügen da draußen aussteigen, und schicken Sie die Züge zurück an die Front.«
»Daran haben wir selbst schon gedacht«, wandte der Bahnhofsvorsteher ein. »Aber hinter den Zügen muss ja auch erst noch eine dieser unterspülten Stellen ausgebessert werden. Sie könnten nur gut fünfzehn Kilometer zurückfahren und müssten dann erneut warten. Und die Rückwärtsfahrt geht nur langsam. Die Gleise sind in schlimmem Zustand – in diesen Wäldern hat sich der verdammte Bodenfrost gerade erst ansatzweise verzogen. Werden die ganzen Wagen von der Lok geschoben, entgleisen sie höchstwahrscheinlich. Da läuft es schneller, wenn wir die unterspülten Stellen ausbessern, die Strecke wieder frei machen und dann richtig herum zurückfahren. Glauben Sie mir, wir haben uns das überlegt.«
Pat betrachtete den Mann, der vor ihm stand, voller Angst vor Pats Zorn und doch auch selbst erfüllt von frustrierter Qual.
»Tun Sie, was Sie können«, sagte Pat, stolzierte zum regennassen Fenster hinüber und blickte hinaus.
Das Nebengleis war ein Meer des Chaos. Es regnete Bindfaden. Auf der anderen Seite der Streckte hockten niedergeschlagene Männer gruppenweise zusammen; sie hatten den Zug verlassen müssen, der nun darauf wartete, wieder die Strecke hinauffahren und den Rest ihrer Kameraden herausholen zu können.
»Sechs mickrige Züge«, sagte Pat und betrachtete dabei die sechs aufgereihten Loks; der Regen fiel zischend auf ihre Kessel, und Dampfwolken stiegen rings um sie auf. Der Führungszug war dicht mit frischen Soldaten besetzt – zwei Regimenter, bereit, eine Frontlinie zu bilden, falls das nötig wurde, um die Evakuierung zu sichern.
Er blickte die Strecke entlang und stellte sich die Männer vor, die in der Dunkelheit daran schufteten, den letzten Streckenabschnitt abzustützen.
Er drehte sich zu der Uhr um, die an der Wand vor sich hintickte. Vor sechs Stunden war er noch in Suzdal gewesen, und jetzt saß er hier an der Bahnlinie fest, auf halbem Weg zwischen dem Neiper und der Front, noch achtzig Kilometer von dort entfernt. Er kam sich ohnmächtig vor.
Der ferne Ruf einer Pfeife drang herüber. Pat riss das Fenster auf und beugte sich hinaus.
Aus dem Regendunst näherte sich ein Scheinwerfer.
»Sie kommen!«, rief er. Sowohl er als auch der Bahnhofsvorsteher stürmten zur Tür.
Die erste Lok rollte vorbei und zeichnete sich kurz im Licht der Lagerfeuer ab, die entlang der Schienen brannten. Die Wagen waren gedrängt voll mit Soldaten, denen man die Niederlage von den Gesichtern ablesen konnte. Der zweite Zug folgte, dann der dritte.
Pat blickte wieder auf die Uhr.
»Machen Sie sich bereit, uns durch die Weiche zu lenken!«, schrie er.
Er rannte platschend durch den Schlamm zum Rangiergleis, während der vierte Zug durch den Bahnhof fuhr. Er sprang in den Führerstand der ersten Lok, die darauf wartete, wieder auf die Hauptstrecke hinauszufahren.
»Bereitmachen zum Anfahren!«, schrie er.
Der sechste Zug kroch gerade durch den Bahnhof. Vom letzten Wagen sprang Gregori herunter. Er rutschte im Schlamm aus, erblickte dann Pat und lief zu dessen Lok.
»Wir haben die Strecke mit Mühe und Not wieder passierbar gemacht!«, rief Gregori. »Die Schienen sind verdammt holprig. Wenn Sie dort ankommen, müssten auch die übrigen unterspülten Stellen ausgebessert sein.«
»Steigen Sie ein!«, rief Pat. »Führen Sie uns dorthin!«
Ohne zu zögern stieg Gregori in die Lok und nahm die Tasse mit heißem Tee an, die ihm der Heizer reichte.
»Ursprünglich hielt ich den Regen für ein Geschenk von Kesus«, keuchte Gregori. »Hat diese verdammten Aerodampfer aufgehalten. Aber er setzt der Schienenstrecke durch Unterspülung schlimm zu.«
Der Bahnhofsvorsteher kam gerade aus dem Schuppen gerannt und schwenkte eine Laterne. Ein Stück weiter an der Strecke wurde eine grüne Lampe an einem Pfosten hochgezogen und verkündete, dass die Weiche frei war.
Der Lokführer zog den Gashebel herunter, und der Zug fuhr mit einem Ruck an.
»Wie spät ist es?«, fragte Gregori.
»Anderthalb Stunden bis Sonnenaufgang«, antwortete Pat leise.
»Wir kommen dort nie rechtzeitig an.«
»Wir müssen einfach«, entgegnete Pat kalt.
Gregori schwieg. Er umfasste die Tasse mit zitternden Händen und wandte sich ab.
An diesem Morgen gab es keinen Sonnenaufgang.
Tamuka bewegte sich unbehaglich, als die ersten Nargas schmetterten. Er klappte die schwere Filzdecke auf, die ihn vor dem schlimmsten Regen geschützt hatte, und stand auf. Die Welt lag grau da, und Himmel und Horizont waren eins. Alles war klatschnass, und Regen tropfte von den Flanken seines Pferdes.
Er packte den Sattel, der ihm als Kopfkissen gedient hatte, legte ihn auf den Rücken des Pferdes und schloss den rutschigen Gürtel unter dem Bauch des Tieres. Das Bogenfutteral aus Ölzeug hängte er hinter den Sattel, ehe er sich das Schwert umschnallte. Er zog das Kettenhemd hervor, das in einer Decke aus eingefettetem Filz steckte, und zog es rasch an, ehe er sich den Helm aufsetzte und schließlich den Bronzeschild auspackte und sich auf den Rücken hängte.
Die Nargas schmetterten von neuem. Tamuka wandte sich in die Richtung, die er als Osten einschätzte, verneigte sich tief und sang dabei das Gebet an den neuen Tag in Richtung des immer währenden Rittes. Dann kniete er sich ins nasse Gras und verbeugte sich nach Westen, grüßte so die weichende Nacht und den immer währenden Himmel der Ahnen.
Nun zog er einen Lederbeutel unter dem Hemd hervor und nahm eine Hand voll Trockenfleisch und Quarkstücke heraus. Er kaute seine Mahlzeit geistesabwesend und spülte sie mit abgestandenem Wasser herunter. Dann ging er ein Stück weit von seiner Schlafstelle weg und wandte sich nach Norden, um sich zu erleichtern. Als er endlich fertig war, stieg er in den Sattel und verzog leicht das Gesicht, dieweil der nasse Sattel ihm kaltes Missbehagen bereitete.
Er blickte auf das Gras hinab. Es würde schwierig werden, die Richtung zu finden. Gewöhnlich neigten sich die Halme leicht nach Osten, denn so wuchsen sie unter dem Wind, der sie aus dem Boden lockte. Alle Manöver würden schwierig sein, so dick waren die Wolken, die die Sonne komplett verdeckten. Die Merki mussten sich am Wind in ihrem Rücken orientieren. Alle fünfzig Meter würde man Signalwimpel einsetzen müssen, zumindest, bis sich der dicke Regendunst verzog, nachdem der Sturm abgezogen war.
Damit hatte niemand gerechnet.
Aufs Neue schmetterten die Nargas, und die Träger der blauen Flaggen, die den Weg des Vormarsches markierten, galoppierten aus dem Lager des Qar Qarth. Die Armee würde sich jetzt aufteilen: eine Hälfte schwenkte direkt nach Osten, während sich die andere nach Norden wandte, um alle Feinde abzuschneiden, die noch in der Falle saßen, und sich dann mit den Vushka zu vereinigen und mit ihnen in nordöstlicher Richtung dem Tugarenweg in den Wald und zur Furt des Neiper zu folgen.
Vuka kam aus der kleinen Feldjurte seines Vaters zum Vorschein und schwang sich wortlos in den Sattel, und Tamuka folgte ihm genauso schweigsam.
»Geben Sie Signal zum Halten, aber leise.«
Hans zügelte das Pferd. Schattengestalten, die beiderseits der Bahnlinie dahinschlurften, blieben stehen; Befehle, gedämpft von Regen und Nebel, liefen die Reihe entlang. Fluchende Soldaten ließen sich fallen. Nass bis auf die Haut, so saßen sie im Schlamm und scherten sich nicht darum, wie ungemütlich das war.
Ein dumpfes Krachen lief durch den Nebel.
Hans blickte auf und versuchte die Richtung zu schätzen.
Ein weiteres, gedämpftes Krachen klang durch die Reihen. Männer rührten sich und blickten in die Richtung zurück, aus der sie seit Mitternacht marschiert waren.
»Geschützfeuer«, sagte Ingrao, blickte nach Westen und versuchte die Richtung zu bestimmen, in der geschossen wurde.
Dunkle, graue Gespenster zogen durch den klebrigen Nebel. Die ganze Welt hatte nur noch eine Farbe, zeigte lediglich Grauschattierungen. Männer und Pferde bewegten sich wie Schatten.
»Ich spüre etwas«, sagte ein junger Soldat, kniete sich hin und drückte das Ohr an den Boden.
Hans schwang sich aus dem Sattel und hockte sich neben den Jungen. Er erinnerte ihn an einen indianischen Späher, der auf der gewaltigen Prärie des westlichen Kansas nach Pferdegetrappel lauschte.
»Etwas bewegt sich dort … Pferde«, sagte der Junge.
Hans nickte.
»Eine Menge Pferde«, sagte er.
»Die Leitung ist tot.«
Hans blickte zu dem Telegrafisten hinauf, der auf den Mast neben der Bahnlinie gestiegen war und sich gerade in die Leitung eingeschaltet hatte.
»Haben Sie die letzte Meldung noch durchbekommen?«
Der junge Mann nickte.
Hans blickte zu Ingrao zurück, dem einzigen verblieben Offizier im Generalsrang, nachdem beide Divisionsbefehlshaber und die drei Brigadegeneräle der verbliebenen Einheiten tags zuvor gefallen waren.
»Höchstwahrscheinlich haben Vorhutverbände der Merki die Gleise überschritten.«
»Also sind wir abgeschnitten?«
Hans blickte den Artilleristen nur an und sagte nichts.
Ein leises metallisches Klingen lief an ihm vorbei, und er blickte die Strecke entlang.
»Jemand hämmert auf die Gleise«, flüsterte Hans. Die Männer, die entlang der Bahntrasse saßen, betrachteten die Gleise, als sprächen sie auf einmal von einer unmittelbar bevorstehenden Katastrophe.
»Eindeutig vor uns, und höchstwahrscheinlich kommen sie auch von hinten. Verdammt, es ist der einzige Weg, den wir genommen haben können – unsere Spur ist also sehr leicht zu verfolgen.«
Eine leichte Brise bewegte die Baumwipfel. Im allmählich zunehmenden Licht rührte sich die Flagge neben Hans, wiewohl ihre Farben noch glanzlos wirkten und ihre seidenen Falten noch recht schlaff hingen.
Ein Regenguss spülte über ihn hinweg, und ihn schauderte.
»Es wird kälter«, flüsterte er. »Der Sturm müsste sich bald verziehen.«
Er zog eine Taschenuhr aus der Jackentasche und klappte den Deckel auf. Wie alle Uhren, die sie durch den Tunnel mitgebracht hatten, zeigte sie jeden Tag eine Stunde zu viel an, verglichen mit der Zeit auf diesem Planeten. Er rechnete schnell nach.
»Der Sonnenaufgang liegt eine Stunde zurück.«
Er steckte die Uhr wieder in die Jacke und blickte nach Osten.
Hätten vor einer Stunde eintreffen müssen. Wo zum Teufel bleiben sie nur?
Sechs mickrige Züge. Ich brauche doch nur sechs Züge! Zur Hölle mit der Ausrüstung; holt einfach die Männer raus!
»Wie weit, denken Sie, sind wir gekommen?«, fragte Ingrao und beugte sich im Sattel vor; er schwankte vor Erschöpfung.
»Zehn Kilometer, vielleicht elf oder zwölf. Schwer zu sagen.«
Ein Pferd wieherte, und Hans drehte sich um. Schatten wirbelten im Süden durcheinander. Ein Reiter wurde eine Sekunde lang sichtbar, der reglos im Sattel saß.
Ein Merki.
»Die Mistkerle müssen hinter uns eingeschwenkt sein, um uns den Weg abzuschneiden. Jetzt sind sie auf der Jagd.«
Eine Windbö erhob sich und rollte den Nebel auf wie einen Vorhang. Etliche Dutzend Reiter wurden erkennbar, die mehrere hundert Meter weiter südlich parallel zur Schienenstrecke dahingaloppierten.
»Sie haben uns gefunden!«, bellte Hans. Er stand auf und stieg wieder in den Sattel.
»Wir tragen es hier aus!«, schrie er, lenkte das Pferd mit wütendem Reißen am Zügel auf die Schienen und winkte den Regimentskommandeuren in seiner Begleitung zu, sich ihm dort anzuschließen.
»Das sind Späher; die eigentliche Vorhut müsste bald eintreffen. Ich möchte ein Divisionsviereck, die erste Brigade im Norden und Osten, die zweite Brigade im Süden und Westen. Jedes Regiment in fünf Kompanien Frontbreite, die übrigen fünf Kompanien als zweite Linie. Ich möchte die Aufstellung vier Reihen tief haben, zwei davon knieend, die beiden übrigen stehend. Die erste Brigade, zweite Division, soll sich als Reserve im Zentrum bereithalten. Charlie, postieren Sie das, was von Ihren Kanonen übrig ist, an den vier Ecken und eine Batterie im Zentrum. Unsere Männer sind über anderthalb Kilometer weit entlang der Bahnlinie verstreut, und wir haben nur wenige Minuten, um sie bereitzumachen. Also los jetzt!«
Hörner stießen Befehlssignale aus, und Offiziere galoppierten los und brüllten Kommandos. Männer rappelten sich auf, und Offiziere drängten sie zum Laufschritt. Das Viereck nahm erste Konturen an. Die übliche Regimentsordnung war vergessen, und die Männer stellten sich einfach dort auf, wo man es ihnen jetzt anwies. Sie zeigten grimmige Gesichter, zogen die Patronenschachteln aus Leder an die Seiten und fummelten behutsam an den Doppelklappen herum, die zum Schutz vor dem Regen fest geschlossen gewesen waren.
Hans galoppierte im Inneren des Vierecks auf und ab, wies Stellungen an, schrie ermutigende Worte und verfluchte jeden, der zu langsam war.
Die dünn gesäten Merkispäher nahmen an Zahl zu und wurden zu Gruppen; allmählich bildete sich eine Linie von Plänklern rings um das Viereck und blieb dabei zunächst außer Reichweite. Reiter mit blauen Wimpeln galoppierten an der Südseite des Vierecks entlang, kaum erkennbar im Nebel.
Noch drei Kilometer, und wir wären im Wald gewesen!, dachte Hans kalt. Drei gottverdammte Kilometer, und jetzt haben sie uns hier draußen in offenem Gelände erwischt. Er blickte nach Norden und konnte die Bäume des Waldes deutlich erkennen. Anderthalb Kilometer nach Norden, und man hätte den Wald erreicht. Mehrere Sekunden lang fühlte er sich versucht, seine Truppen in diese Richtung zu schicken, aber dann wurde ihm klar, dass es Selbstmord gewesen wäre. Die Merki würden ihn dort oben umstellen. Sobald das Viereck formiert war, musste er schnurstracks entlang der Bahnlinie nach Osten ziehen und sich einen Weg freihauen.
Ein neues Geräusch ertönte, und für einen Sekundenbruchteil stockte alles. Ein hohes und durchdringendes Pfeifen trieb aus dem Osten heran.
Rauer Jubel lief durch die Reihen, der aber verstummte, als ein anderes Geräusch, düster in seiner Drohung, über sie hinwegrollte. Es war der Klang von ansteigendem Donner, und die Erde bebte. Aus dem ersterbenden Sturm hervor griff die Horde an, und beim Anblick ihres verhassten Feindes stimmten die Merki ein Lied an.
»Plänkler, die Flanken sichern!«
Pat sprang aus dem Führerstand der Lok und achtete kaum der Pfeile, die heranpfiffen.
Aus den zwanzig geschlossenen Güterwagen hinter der Lok strömten zwei Regimenter, und Männer rannten schon los, um die Flanken zu sichern. Der Panzerwagen vor der Lok jagte einen Sprühregen Kartätschen los, der in den sich auflösenden Nebel hämmerte; die Erschütterung und die Geschossbahnen erzeugten Wirbel in den Nebelschwaden.
Pat stürmte die Gleise entlang und schrie den Männern zu, sie sollten ihm folgen, und er fluchte heftig, als er einen Streckenabschnitt entdeckte, wo die Gleise fehlten.
Im schattenhaften Nebel sah er eine Gruppe Merki langsam davonreiten und etwas zwischen ihnen mitschleifen.
»Haltet sie auf, gottverdammt, haltet sie auf!«, brüllte er.
Ein junger Soldat stand neben ihm. Pat entriss ihm das Gewehr, legte an und schoss. Ein Reiter kippte vorwärts aus dem Sattel.
»Kommt mit!«, kreischte Pat.
Er sprang vom Bahndamm und rannte durch das kniehohe Gras, und er rutschte mit den Ledersohlen immer wieder aus. Der Boden vor ihm war aufgerissen worden von etwas, was man darüber hinweggeschleift hatte.
»Haltet sie auf!«
Etliche Soldaten blieben stehen und schossen, und noch ein Reiter stürzte. Ein Merki drehte sich mit gespanntem Bogen im Sattel um. Als er schoss, sah Pat Regenwasser von der Sehne spritzen. Der Pfeil kam langsam näher, fand aber trotzdem sein Ziel und streckte den Mann neben Pat nieder.
Brüllend vor ungestümer Wut stürmte Pat weiter ins offene Gelände vor, und andere Männer folgten ihm. Ein Hagel von Schüssen krachte, und ein weiterer Reiter fiel. Diesmal kippte die Last ins Gras.
Pat zog den Revolver und schoss im Laufen. Die Krieger ergriffen eilends die Flucht.
Schwer atmend und mit einem Knoten im Bauch hielt Pat neben dem sieben Meter langen Gleisstück schlitternd an.
»Los, hebt es auf! Sehen wir zu, dass wir ruckzuck wieder zurückkommen!«
Ein Dutzend Männer sammelten sich um ihn, hoben das Eisenstück auf und trabten zur Schienenstrecke zurück. Erneut dröhnte tiefer Donner auf, und unvermittelt machte sich der schrille Pfiff der Zugpfeife bemerkbar.
Pat blickte über die Schulter. Aus dem weichenden Nebel kam eine dunkle Wand zum Vorschein, die mit hohem Tempo in mehreren Hundert Metern Entfernung nach Westen stürmte und dabei den verstreuten Gruppen von Nadelbäumen auswich, die den Rand des großen Waldes markierten. Die Wand traf Anstalten zu wenden, begleitet von schmetternden Hörnern und lauter werdendem Gesang. Aus dem Nebel tauchte eine Reihe Merki auf, die Krummschwerter erhoben, und galoppierten heran.
»Rennt!«, brüllte Pat.
Neben der Lok bezog das erste Regiment gerade Stellung beiderseits der Gleise und vor dem Panzerwagen, der derzeit sein Geschützfeuer eingestellt hatte und darauf wartete, dass die draußen kämpfende Gruppe wieder zurück war.
Der Ansturm hangaufwärts ging weiter. Die Männer rings um Pat blickten immer wieder über die Schultern, Panik in den Augen, aber keiner ließ das kostbare Gleisstück los.
Licht blitzte im Süden auf. Sekunden später heulte die Kanonenkugel heran; sie war hoch gezielt und krachte in einen Baumwipfel nördlich der Strecke.
»Los, los!« Der Singsang stieg von der Roum-Infanterie auf, die jetzt einen Schutzwall vor dem Zug bildete.
Pat blickte über die Schulter und sah, dass die Merki keine Hundert Meter mehr entfernt waren und die Distanz weiter verkürzten.
Ein Pfeilhagel stieg von ihnen auf, und die Geschosse prasselten rings um Pat und seine Männer in den Boden. Ein Mann, der zu den Trägern des Gleisstücks gehörte, brach lautlos zusammen.
»Erste Reihe, zielt!« Das Kommando erfolgte auf Latein. Musketen zuckten hoch und senkten sich in die Horizontale.
Die Linie öffnete sich, als Pat und seine Leute hindurch in Sicherheit stürmten.
»Feuer!«
Die Salve krachte los; Pferde schrien, rutschten auf dem nassen Boden aus, stürzten.
Die sechs Geschütze im Panzerwagen entluden eine Salve Kartätschen, die klaffende Lücken in die Reihen der Merki rissen.
Pat wies seine schwer atmenden Männer an, das Gleisstück wieder einzupassen.
»Die Nägel sind weg!«, schrie einer der Heizer, kaum vernehmbar neben dem Krachen der zweiten Salve.
»Dann nehmt die Bajonette!«, schrie Pat. »Treibt die Bajonette hinein. Benutzt die Musketenschäfte als Hämmer!«
Ein schon totes Pferd krachte, vom eigenen Bewegungsimpuls getragen, keine sieben Meter hinter ihm in die Schützenlinie, riss die Doppelreihe um und blieb schließlich neben den Gleisen liegen. Mehrere Merki wateten durch die Lücke; Pferde und Krieger starben unter Bajonettstichen, aber hauten selbst im Sterben noch Männer nieder. Die Angriffswelle wich zurück.
Ein tiefes, dröhnendes Gebrüll war jetzt deutlich zu hören. Pat kletterte seitlich am Panzerwagen hinauf und blickte nach vorn. Eine weitere Reihe Merkikavallerie baute sich quer über die Schienen auf. Und dahinter sah er, keine achthundert Meter entfernt, mit knapper Not noch den scharfen Blitz einer Salve. Etliche Sekunden später prasselten die Kugeln an ihm vorbei.
Eine Windbö wirbelte durch den dünnen Baumbestand und verstreute den Nebel. Eine ganze Division hatte in Viereckformation Aufstellung in dem flachen Tal direkt voraus bezogen. Pat holte den Feldstecher aus dem Futteral und setzte ihn an, ohne des Pfeilregens zu achten, der von den Reitern hundert Meter vor dem Zug kam; sie galoppierten jetzt an der Strecke entlang und feuerte Pfeil auf Pfeil ab.
Von allen Seiten drangen Merki mit blitzenden Krummschwertern auf die Viereckformation in der Talmulde ein. In gemessenem Rhythmus lief eine Salve nach der anderen an der Außenseite des Vierecks entlang und hielt die Merki in Schach.
Im Zentrum des Vierecks erblickte Pat eine Gruppe Reiter, die sich um die Korps-Standarte versammelt hatten; diese wiederum flatterte neben der dunkelblauen Flagge mit den sparrenähnlichen Uniformwinkeln eines Sergeant Major.
»Hans!«, brüllte Pat und hämmerte in ohnmächtiger Wut die Faust an die Seitenwand des Panzerwagens.
Die Männer, die am Gleisschaden arbeiteten, versuchten die Bajonette hineinzuhämmern und das Gleisstück wieder zu verankern, damit der Zug das letzte kurze Stück zurücklegen konnte. Musketenschäfte zersplitterten unter der Wucht der Schläge und Läufe verbogen sich, aber ganz allmählich drangen die Bajonette in das vom Regen aufgequollene Holz vor.
Und mit jeder verstreichenden Sekunde tauchten mehr Merki zwischen den Zügen auf, und dichte Kolonnen trafen Anstalten, die wenigen Hundert Meter zu füllen, die die Division da draußen von der sicheren Zuflucht trennten. Pat schwenkte das Fernglas nach Süden. Auf der offenen Steppe sah er eine Geschützbatterie nach der anderen im Galopp näherkommen, dass die Protzwagen hüpften und schlingerten, während die Merkikanoniere auf die Zugpferde einschlungen.
Tränen der Enttäuschung verschleierten seine Sicht.
»Da ist der Zug!«, schrie Ingrao.
Hans warf kurz einen Blick den langen sanften Abhang hinauf, wo die Führungslokomotive feststeckte, während die dunkelbraune Reihe aus Roum-Infanterie zu einer Linie davor ausfächerte.
»Etwas hält sie auf!«, schrie Hans. »Wahrscheinlich haben die Merki die Gleise zerstört.«
Eine Salve krachte, und dann schwoll ringsherum ein fortwährendes Dröhnen von Musketenschüssen an.
Ein konstanter Pfeilhagel prasselte heran, aber die Pfeile folgten hohen Bögen und nahmen nicht die mörderischen flachen Flugbahnen. Hans sah sich das an.
Die Nässe wirkt sich auf die Bögen aus, dachte er. Gott sei Dank nicht mehr so viel Durchschlagskraft.
Eine Angriffswelle nach der anderen brandete gegen das Viereck an. Das Abwehrfeuer krachte fast konstant. Hunderte Leichen türmten sich auf, und Formationen zerfielen.
Hans blickte wieder hangaufwärts; dort oben war gerade das scharfe Krachen einer Salve ertönt.
»Charlie, wir müssen uns den Weg über die letzten achthundert Meter freikämpfen!«, schrie er.
Charlie sah ihn an.
»Im Viereck standhalten ist eine Sache, Hans. In dieser Formation zu marschieren und zu kämpfen eine ganz andere.«
»Ney hat es getan.«
»Wer?«
»Verdammt, hat man Ihnen nichts beigebracht?«, schrie Hans. »Geben Sie den Befehl weiter! Die Nord-und Südflanke geht seitwärts, die Westseite rückwärts, der Osten vorwärts. Die Formation soll fest geschlossen bleiben. Falls wir Lücken entwickeln, werden diese Mistkerle einfach durch uns hindurchreiten.«
Ein zischendes Jaulen zog über den Himmel.
Erschrocken blickte Hans nach Südosten. Der Rauch eines Feldgeschützes wälzte sich mit dem Wind; die Merkikanoniere sprangen vor, um nachzuladen.
Eine lange Reihe von Geschützen, abgeschirmt durch eine Kolonne berittener Krieger, wurde über die offene Steppe herangezogen und fuhr zwischen die Division und die Züge, die auf dem niedrigen Kamm gestoppt hatten.
»Wir müssen losmarschieren!«, schrie Hans, lenkte das Pferd an die Ostflanke des Vierecks, hob den Karabiner und deutete damit auf den Führungszug.
Hörner schmetterten. Die Männer sahen sich verwirrt um, als die Offiziere ihnen zuschrien, beim Marschieren die Formation zu wahren.
Das Viereck setzte sich in Bewegung. Noch ein Geschosshagel prasselte in die Formation, als zwei weitere Kanonen feuerten. Getroffene stürzten, und Männer lösten sich aus der Formation, um den Verwundeten zu helfen.
»Marschiert oder sterbt!«, brüllte Hans. »Niemand hilft den Verwundeten!«
An den Flanken stürmten die Merki an, ungeachtet der eigenen Verluste, und Nargas schmetterten beharrlich. Eine gewaltige Keilformation wandte sich dem Viereck aus Süden zu und setzte zum Angriff an; die Krieger ritten in vollem Galopp, und Hunderte von Merki zu Fuß rannten aus Leibeskräften, um Schritt zu halten.
Das Knattern der Musketen stieg zum Crescendo. Pferde fielen und schleuderten ihre Reiter zu Boden; strampelnde Hufe töteten sie dort. Die Merkikrieger zu Fuß stürmten weiter an, sprangen über Tote und Sterbende hinweg und sangen dabei ihre Lieder, die Krummschwerter blitzend erhoben.
Der Ansturm krachte in die Südwestecke des Vierecks, und die Reihe brach. Merki strömten durch die Lücke. Ein Teil der Reservebrigade wendete, bildete im Laufschritt eine massive Linie und hielt die Bajonette waagrecht, verzweifelt darauf bedacht, die Lücke wieder zu schließen.
Wie Aasgeier, angelockt vom Tod, stürmten Merki auf die Bresche zu und kämpften darum, sie offen zu halten. Die Geschützlinie fuhr in Stellung, und die erste Kanone sprang in die Luft, als das Gespann sie über die Bahntrasse zog; die eisenbeschlagenen Räder schlugen Funken, als sie über die Gleise donnerten.
Eine zweite Geschützlinie folgte der ersten. Die Mannschaften richteten sie nach Osten aus, hangaufwärts zu den Zügen.
»Bleibt in Bewegung!«, brüllte Hans.
Er schwenkte neben der Standarte eines der beiden Regimenter an der Ostflanke ein.
»Männer der Siebten Nowroder; wir müssen diese Geschützstellung einnehmen!«, schrie Hans und wies mit dem Karabiner die Richtung.
Er blickte über die Schulter. Die Bresche schloss sich wieder, aber fast ein ganzes Regiment war dort untergegangen und das Viereck eingeschrumpft, als hätte ein Chirurg einen Teil des Körpers herausgeschnitten, um den Rest zu retten. Ein Knäuel Überlebende außerhalb des Schutzes der Formation kämpfte weiter und wurde schließlich überrannt.
»Hornist: zum Laufschritt blasen!«
Tamuka zügelte das Pferd und schenkte dem Batteriekommandeur ein zufriedenes Lächeln; der Kommandeur verbeugte sich zum Gruß und wandte sich wieder seinen Geschützen zu.
»Doppelkartätschen laden!«
Merkikanoniere machten sich an die Arbeit, stürmten los, um nachzuladen, und achteten nicht der Wand aus brüllendem Vieh, die auf sie zustürmte.
Jetzt werden sie erleben, womit wir antworten können, dachte Tamuka lächelnd.
Das Viereck rückte weiter vor. Rings um Hans fiel es allmählich auseinander, während es den Hang zu überwinden und die Kanonen zu erreichen versuchte, ehe diese abgeprotzt – und geladen waren.
Einhundert Meter!, dachte Hans. Durch die Geschütze hindurch, und wir sind am Ziel. Dreißig Sekunden noch; und er sah, wie die Ansetzer von den Geschützen zurückwichen.
Fünfzig Meter noch, und vor ihnen lauerten schweigend die Batterien; im Herzen wusste Hans, was jetzt kam.
»Gleich sind wir da, Jungs, gleich! Direkt auf der anderen Seite des Hügels!«, brüllte er.
Dreißig Kanonen feuerten gleichzeitig. Sechstausend Eisenkugeln peitschten über das Feld in die keine dreißig Meter mehr entfernte Angriffslinie.
Pat stöhnte vor innerer Qual, konnte aber nicht den Blick abwenden. Die gesamte Ostflanke des Vierecks schien zu stürzen, und die Formation stockte, als wäre sie vor eine Mauer gelaufen.
Die andere Geschützreihe, die direkt gegen ihn gerichtet war, feuerte hangaufwärts. Die Schützenlinie vor ihm wurde durchsiebt; Körper lösten sich auf, flogen durch die Luft.
Ein Dampfstoß fegte an ihm vorbei; der Kessel der Lok explodierte, als Massivgeschosse durch ihn jagten.
Pat stand benommen und wortlos da.
»Sammelt euch, verdammt, sammelt euch!«
Er war auf den Beinen. Wie er dorthin gekommen war, wusste er nicht. Jemand war neben ihm. Der Flaggenträger; die Fahnenstange war durchgebrochen, und der Junge schluchzte, während er das Banner über seinem Kopf schwenkte.
»Noch einmal!«, brüllte Hans.
Aus dem Durcheinander ringsherum rappelten sich einzelne Gestalten auf und stolperten weiter, als kämpften sie sich gegen einen Sturm voran.
Blitze liefen vor ihnen über die Erde. Ein Eisenhagel peitschte heran und konnte einfach seine Ziele nicht verfehlen. Hans hatte das Gefühl, durch einen Alb träum zu wandeln. Es war ein Albtraum.
Er blickte zum Zentrum des Vierecks zurück. Die Geschosse, die die Flanke verfehlt hatten, waren in die Reserve gerammt, die unter den Einschlägen taumelte. Männer liefen ins Zentrum der Formation zurück. Deren Ostflanke existierte nicht mehr. Wie ein sterbendes Tier versuchten sich die drei Brigaden zusammenzurollen.
»Noch einmal!«, brüllte Hans. »Wir dürfen nicht stehen bleiben!«
Er packte das Banner, reckte es hoch und stürmte vor.
Ein Sturm fegte über ihn hinweg, riss ihn von den Beinen, als wäre er nur ein trockenes Blatt, und schleuderte ihn zu Boden.
Hände griffen zu, zerrten ihn zurück. In einem Bein hatte er kein Gefühl mehr.
»Lasst mich los!« Er strampelte und wehrte sich, aber sie gaben ihn nicht frei. Männer drängten sich um ihn. Endlich konnte er sich aus ihrem Griff befreien.
»Sie wurden getroffen, Sir.«
Ohne sich um den Aufschrei zu kümmern, rappelte er sich behutsam auf und verzog vor Schmerzen das Gesicht.
Dieselbe verdammte Stelle, wo mich der Rebellenscharfschütze erwischt hat, dachte er kalt.
Ein Regimentskommandeur kam heran und führte Hans’ Pferd am Zügel. Ohne eine Frage zu stellen, stieg Hans in den Sattel und unterdrückte dabei ein Stöhnen, das ihm die Schmerzen entlocken wollten.
Das Viereck schmolz rapide dahin. Die Südwestecke war erneut aufgerissen worden, und Merki strömten in die Bresche. Die Ostflanke war ganz verschwunden, und ein Teppich weißgekleideter Leichen bedeckte dort das Schlachtfeld, die Hemden rot gefärbt; Hunderte Verwundeter schrien, krochen, stolperten rückwärts. Hangaufwärts setzte die Artillerie ihr mörderisches Feuer fort.
Nichts weiter war mehr übrig als die Gruppe Männer rings um Hans, die Letzten der Reserve, und die Überlebenden stürmten aus der sich auflösenden Formation heran. Offiziere bemühten sich darum, die Männer ins Glied zu treiben und die Löcher zu stopfen. Die Luft war förmlich lebendig von Geschossen.
Und die wilden Schreie der Schlacht wurden noch übertönt von den Nargas.
Wie von einer einzelnen Hand geführt, wendeten die Reiter, die durch die löchrigen Linien geschlüpft waren, galoppierten wieder hinaus und schlugen dabei auf alles ein, was ihnen in die Quere kam.
Die gegen die Züge gerichtete Artillerie hämmerte weiter auf die Bahnstrecke entlang des Höhenzuges ein; eine hohe Dampfwolke stand über der zerschmetterten Lokomotive, aber über dem, was von den drei Brigaden übrig war, lag unheimliche Stille.
Als sich der Rauch einen Augenblick lang verzog, kam ein Merkireiter aus den Kolonnen ringsherum zum Vorschein und schwenkte eine weiße Flagge.
»Feuer einstellen!«, brüllte Hans.
Der Reiter lenkte sein Pferd heran und zügelte es.
»Mein Qar Qarth bietet euch die Möglichkeit zur Kapitulation an. Ihr erhaltet Verschonung von den Schlachtgruben, aber werdet für den Rest eures Lebens Untertanen der Merki sein.«
Hans betrachtete die grimmigen Gesichter der Männer, die um die zerfetzten Standarten von einst fünfzehn stolzen Regimentern versammelt waren.
Die Männer musterten ihn gespannt, die Blicke hart und dunkel, und er lächelte.
Er beugte sich vor und spuckte dem Sendboten einen Strom Tabaksaft entgegen.
»Scheiß drauf!«, knurrte Hans, und trotzige Schreie begrüßten seine Worte.
Der Merki knurrte wütend, wendete das Pferd und galoppierte zurück.
»Das haben Sie der Kaiserlichen Garde bei Waterloo abgeschaut.«
Hans drehte sich um und sah Ingrao neben ihm stehen und lächeln; Blut strömte dem Artilleristen aus einer Schnittwunde im Gesicht.
»Konnte es mir nicht verkneifen«, sagte Hans leise.
»Sie haben also letztlich doch etwas von einem Romantiker«, stellte Ingrao fest.
»Beleidigen Sie mich nicht«, wies ihn Hans zurecht.
Er langte in die Jackentasche und zog den Rest vom Kautabak hervor. Er biss die Hälfte ab und reichte Charlie die andere Hälfte.
Charlie nahm sie und nickte traurig.
»Wir sehen uns in der Hölle wieder«, sagte er trotzig und kehrte dann zu dem einzigen Vierpfünder zurück, der der Formation verblieben war. Er packte die Abzugsleine und wartete.
»Meine Augen haben den Glanz des Ruhmes erblickt …«
Das Lied begann im tiefen Bass; ein Soldat nach dem anderen griff die Worte auf, und die Stimmen der Männer hallten über die Steppe. Ladestöcke klapperten in verschmutzten Musketen; Patronen wurden hineingerammt, die Musketen angelegt, die Bajonette ausgerichtet.
Hans klappte den Karabiner auf, den er irgendwie hatte festhalten können. Er steckte eine letzte Patrone hinein, spannte den Hahn und stützte die Waffe auf dem Knie ab, ohne des roten Flecks zu achten, der sich die Hose hinab ausbreitete.
Der Wind blies schön und klar; die Standarten flatterten, und die Luft war sauber vom Regen.
Irgendwie fand sich Hans an einem fernen Ort wieder. Er war nicht mehr hier, nein, sondern wieder in Antietam. Der junge, erschrockene Offizier stand von neuem vor ihm und sah ihn aus dem Gesicht eines verirrten Jungen heraus an.
Er hatte verfolgt, wie der Junge wuchs, zum Kommandeur eines Regiments wurde, einer Armee, einer ganzen Welt.
Der Sohn, den Hans nie gehabt hatte, der Sohn, den er jetzt jedoch wahrhaftig hatte. Das war als Erbe genug.
»Er hat die schicksalhaften Blitze entfesselt …«
»Gott schütze dich, mein Sohn.«
Die Nargas schmetterten.
»Schaffen Sie die Männer hier raus!«, schrie Pat. »Zurück zum nächsten Zug!«
Gregori starrte ihn an, konnte sich nicht rühren, und dann wanderte sein Blick zurück zu dem, was unten in der Talmulde geschah.
»Gottverdammt, Gregori, nun machen Sie schon!«
Der junge Offizier brachte kein Wort hervor, wandte sich ab und schloss sich der zurückweichenden Infanterie an.
Die Roumsoldaten, von denen viele offen weinten, rannten an Pat vorbei. Kanoniere sprangen aus dem Panzerwagen und schlossen sich der wilden Hatz zum nächsten Zug in der Reihe an.
Geschosse heulten an ihnen vorbei, und der dichter werdende Kordon aus Merki drückte gegen ihre Flanken.
Das Lied der verlorenen Armee dort unten wurde vernehmbar, und Pat stand wie vom Donner gerührt. Tränen verschleierten ihm die Sicht.
Die massierte Artillerie der Merki feuerte gleichzeitig, und die kümmerlichen Reste des Vierecks gingen zu Boden; ein Schrei stieg auf, und doch schwankte das Lied zwar, wurde jedoch weitergesungen.
»Ruhm, Ruhm …«
Der Donner der anstürmenden Horde ertönte, und Krummschwerter blitzten. Eine letzte trotzige Salve schlug ihnen entgegen, aber ihr Ton blieb matt. Einen Augenblick lang sah Pat noch Hans, allein auf dem Pferd, den Karabiner angelegt. Und dann erstarb das Lied und es blieb nichts mehr als das Blitzen der Krummschwerter, die stiegen und fielen, stiegen und fielen.
Mit Glockengeläut setzte die Lok in den Bahnhof zurück.
Andrew fühlte sich verlassen, vollkommen verlassen. Die leeren Züge, die von der Strecke zurückkehrten, hatten im Grunde schon die ganze Geschichte erzählt, aber er musste sie trotzdem noch hören.
Die Güterwagen des letzten Zuges waren mit Roum-Infanterie besetzt; die Soldaten blickten ihn aus hohlen Augen an; die Verwundeten hielten sich die blutigen Gliedmaßen; und aschbleiche Gesichter verrieten die Niederlage.
Die Lok stoppte zischend, und Andrew sah Pat aus dem Führerstand steigen.
Er ging auf ihn zu, und der Artillerist kam ihm entgegen, als trüge er eine Last, die im Grunde unerträglich war.
»Hans ist tot«, sagte Pat steif und blinzelte, um die Tränen zurückzuhalten.
Andrew sagte nichts und wandte sich ab. Gott, er hätte am liebsten geweint, mit den Fäusten auf die Erde gehämmert oder wäre in einen dunklen Winkel gekrochen, um sich dort für immer zu verstecken. Aber er konnte nicht. Nicht jetzt.
Hans hatte ihm in Gettysburg zur Seite gestanden und auch später, als Andrew die Leiche seines einzigen Bruders betrachtete.
»Nicht jetzt«, flüsterte der alte Freund damals. »Trauern Sie später, aber nicht jetzt.«
Hans war tot. Er hat mir sechs Jahre lang beigestanden, mir alles beigebracht; er war die Kraft, die mir geholfen hat, zu dem zu werden, der ich heute bin. Und jetzt ist er nicht mehr da.
Andrew wandte sich wieder Pat zu.
»Es war so knapp, Gott vergebe mir, so knapp«, sagte Pat mit ausdrucksloser, dumpfer, benommener Stimme wie jemand, der im Schockzustand war.
»Die drei Brigaden?«
»Keiner ist entkommen. Wurden gezwungen, ein Viereck zu bilden, und dann von der Artillerie niedergemacht.«
»Ingrao, Anderson, Esterlid, Basil Alexandrowitsch?«
Pat schüttelte den Kopf.
Andrew stand da und sagte kein Wort.
»Lieber Jesus, Sie hätten sie aber sehen müssen!«, seufzte Pat. »Gesungen haben sie, gesungen mit den Stimmen von Engeln, die entschlossen waren, bis zum Ende weiterzukämpfen. Dieser verdammte Deutsche mittendrin, umgeben von den Flaggen. Ich wette, er hat dabei einen Priem gekaut und die Heiligen verflucht.
Oh Gott, verzeihe mir! Andrew, ich stand da und konnte nichts tun!«, stöhnte Pat. Er sank nach vorn, umarmte Andrews schmale Schultern und wurde von Weinkrämpfen geschüttelt.
Hans ist tot, dachte Andrew dumpf. Irgendwie hatte er geglaubt, der alte Mann würde ewig leben. Hunderte, wirklich Hunderte Namen hatte er schon stockend ausgesprochen gehört, gefolgt von den geflüsterten Worten: »Er ist tot.« Aber doch nicht Hans … Nein, diesen Albtraum hatte er niemals geträumt.
Hans für immer dahin.
»Haben Sie etwas zu kauen?«, fragte er im Flüsterton.
Pat nickte. Er wich ein Stück weit zurück und zog ein Taschentuch hervor, um sich lautstark zu schnauzen. Dann brachte er einen Priem zum Vorschein und reichte ihn Andrew. Andrew steckte ihn sich in den Mund, und der beißende Geschmack weckte deutliche Erinnerungen.
»Sie rücken schnell vor«, fuhr Pat fort und bemühte sich um Fassung. »Wir wären beinahe nicht mehr entkommen. Bei Einbruch der Nacht werden sie hier sein und vielleicht morgen den Neiper erreichen. Was ist mit der übrigen Armee?«
»Inzwischen hinter den Neiper zurückgezogen.«
Pat nickte geistesabwesend.
»Wir müssen immer noch einen Krieg ausfechten«, sagte Andrew, legte Pat den Arm um die Schultern und kehrte mit ihm zum Zug zurück, während hinter ihm der Bahnhof angesteckt wurde.