DREIZEHN

Ahroe stand vor der Ratsvollversammlung in Pelbarigan und erstattete Bericht über die Lage im Osten.

In ihrer Stimme war kein Zittern zu hören, aber sie war auch nicht so lebhaft und hatte nicht den leicht säuerlichen Humor wie sonst. Der Rat befragte sie ausführlich über die Innanigani und die zu erwarten-den Kosten bei einer Auseinandersetzung.

»Friede ist besser als Krieg und natürlich billiger«, sagte Ahroe. »Wie ich jedoch schon sagte, gibt es eine Partei, die es auf Krieg abgesehen zu haben scheint.

Ich habe das bei diesem Teiggesicht Borund erlebt.

Für ihn steht von vornherein fest, daß es westlich von Innanigan nur Wilde gibt und daß er das Recht hat, sie zu entfernen, wenn er das für angebracht hält.

Glücklicherweise gibt es auch vernünftige Stimmen, und einige davon könnten die Oberhand gewinnen.

Wir können nur hoffen.«

»Ich verstehe das nicht«, bemerkte ein Ratsmitglied. »Wie können Menschen so doktrinär sein?«

»Wie? Seht euch doch um! Als ich fortging, hatte ich zu Hause einen Gatten, aber er wurde eingesperrt wegen des Verbrechens, ein Buch zu besitzen, bezie-hungsweise, weil er im Verdacht stand, eines zu besitzen. Im Gefängnis wurde er zweimal überfallen, ohne daß ihn die Wachen schützten. Beim zweiten-mal floh er, wahrscheinlich, um sein Leben zu retten, nur um dann des Verbrechens der Flucht beschuldigt zu werden. Als nächstes verteidigte er Eolyn gegen die Borund-Partei in dieser Stadt, und nun wirft man ihm Gewalttätigkeit und Widerstand gegen die Festnahme vor. Wenn wir nach uns selbst urteilen, brauchen wir uns über Borund nicht zu wundern.«

»Aber das ist doch alles ganz anders, Ahroe«, sagte Alance sanft. »Du siehst eine sehr komplizierte Angelegenheit nur von der negativen Seite. Wir brauchen die Herrschaft des Gesetzes. Das Gesetz hat das Recht, zu entscheiden. Für diese Anschauung bist du dein ganzes Leben lang eingetreten.«

»Ja, Protektorin«, murmelte Ahroe und senkte den Blick. »Und niemand weiß besser als ich, wie schwierig Stel sein kann – und was er alles bewirken kann, wie er ja vor kurzem in Ginesh gezeigt hat. Ihr habt allen Grund, zu fürchten, was er in Gang gebracht hat. Ich selbst meine, daß wir handfestere Probleme haben als diese ... Worte. Wie ich jedoch erfahren ha-be, gibt es Leute, die mein Haus auseinanderreißen wollen, Stein für Stein, um sicherzugehen, daß diese Worte nicht darin sind.«

»Deine Versicherung wird wahrscheinlich ausreichen, Ahroe.«

»Meine Versicherung? – Ich werde nachsehen und euch Meldung machen. Aber wenn Stel sagte, das Buch sei nicht dort, dann war es auch nicht dort. Es geht nicht darum, daß er nicht lügen würde. Es ist einfach so, daß er dumm gewesen sein müßte, wenn er es dort gelassen hätte. Wahrscheinlich hat er sich so verhalten, um euch zu täuschen. Und das war nicht schwer, Protektorin.«

»Ich bedauere deine feindselige Haltung, Ahroe«, erwiderte Alance krampfhaft beherrscht. »Sie ist nicht erfreulich.«

»Tatsächlich? Nicht ›erfreulich‹, Protektorin? Ich bin der Ansicht, daß ihr euch alle sehr ... übel verhalten habt. Vielleicht findet ihr, daß es mir nicht zukommt, das zu sagen, und vielleicht habt ihr recht damit, aber die Tatsachen scheinen meine Ansicht zu bestätigen.«

»Was wir getan haben, wird durch viele Beispiele gestützt, Ahroe.«

»Ja, natürlich, Protektorin. Aber wir leben in einer beispiellosen Zeit. Diese Diskussion führt jedoch zu nichts. Ich habe einen Vorschlag. Ich werde nach Stel suchen, und wenn ich ihn finde, werde ich das Buch zurückbringen, wenn er es hat. Was das Haus angeht, so könnt ihr es ruhig auseinanderreißen, wenn ihr wollt. Mir liegt nichts daran.«

»Ich ... ich verstehe nicht, Ahroe.«

»Es ist meine Pflicht, das Buch zurückzugeben, Protektorin. Ich werde es tun, wenn du es wünschst.«

»Und dann?«

»Und dann ... es gibt in dieser Föderation Wichtigeres zu tun, als über Bücher zu streiten, Protektorin. Und da-zu möchte ich meinen Beitrag leisten. Darf ich gehen?«

»Du hast dich noch nicht ausgeruht. Soll dich jemand begleiten?«

»Nein.«

»Nein?«

Ahroe seufzte und rollte die Augen. »Nein, Protektorin von Pelbarigan. Ich will mich nicht ausruhen.

Ich will keine Hilfe. Ich will diese Angelegenheit erledigen – jedenfalls meinen Teil davon. Alles wird sich nie erledigen lassen. Man hat mir berichtet, was Stel sagte. Er hatte recht. Du wirst das Licht niemals in die Sonne zurückstopfen können, genausowenig, wie Borund Menschen mit gutem Willen und wirtschaftlicher Vernunft davon wird abhalten können, irgendwann seinem lüsternen Verlangen nach Eroberungen ein Ende zu setzen. Nur werden viele Menschen viel erdulden müssen, und einige werden wahrscheinlich umkommen, ehe diese Frage entschieden ist. Kann ich gehen?«

»Ja.«

»Dann lebt alle wohl.« Ahroe drehte sich auf dem Absatz um und verließ den Saal. Eine Weile saß Alance sehr still da und schaute schmollend vor sich hin. Sie spürte die Kränkung, aber alles war sehr korrekt vor sich gegangen, und sie konnte wenig dagegen machen, ohne kleinlich und mürrisch zu erscheinen. Nun, irgendwann würde Ahroe sich übernehmen, und der vorsichtige Weg, dem die Protektorin-nen im allgemeinen folgten, würde schließlich den Sieg davontragen.

Alance forderte zu vollen vier Sonnenbreiten Gebet auf. Diesmal betete sie wirklich – für Stel, um den Frieden der Stadt, um Sicherheit vor dem Osten, um Beruhigung ihrer stürmischen Empfindungen gegen-

über Ahroe, um eine Möglichkeit, das gegenwärtige Problem zu lösen, ohne allzu dumm dazustehen.

Ahroe vermutete, daß Stel in das Gebiet bei der Kuppel zurückgekehrt war, wie er es schon einige Male getan hatte, wenn er seine Ruhe haben wollte. Hier hatte er vor einigen Jahren mit wenig Unterstützung und viel Mühe die Menschen befreit, die seit der Zeit des Feuers in diesem Bauwerk gelebt hatten, alles auf die vage Vermutung hin, daß der Stab, der bei jedem Äquinoktium aus der Kuppel aufstieg, im Innern von Menschenhand betätigt wurde.* Es war knapp gewe-

 

* Siehe »Die Kuppel im Walde«, HEYNE-BUCH Nr. 06/4153.

sen, da das Bauwerk kurz davor stand, in eine Schlucht hinunterzubrechen, und als die Leute aus der Kuppel, Eolyn und Celeste, mit ihrem technologi-schen Wissen nach Pelbarigan kamen, hatten sie viel dazu beigetragen, die Stadt zu verändern.

Ahroe setzte über den Fluß und ging nach Südwesten, dann überquerte sie den Isso auf dem Eis und wandte sich nach Süden. Sie war wütend über die ab-surde Situation und über die Engstirnigkeit von Pelbarigan und mußte sich selbst daran erinnern, daß die Leute dort noch nicht viel herumgekommen waren. Die meisten Ratsmitglieder hatten sich daran gewöhnt, die Welt von den Fenstern der Stadt aus zu betrachten, obwohl nun schon seit Jahren gefahrloses Reisen außerhalb von Pelbarigans Mauern möglich war.

Sie war auch wütend auf Stel, weil er dieses Durcheinander angerichtet hatte. Es schien alles so unnötig.

Sicher, Pelbarigan war wahrscheinlich reif für einen Aufruhr, aber warum hatte er ihn herbeigeführt, und auch noch zu einer Zeit, da man alle verfügbaren Kräfte für die Schwierigkeiten im Osten brauchen würde?

Ahroe näherte sich den mittleren Jahren, aber sie fuhr mühelos auf ihren Schneegleitern dahin und fühlte sich allein im weiten, winterlichen Gelände ganz wohl, obwohl mehr Tanwölfe als gewöhnlich unterwegs zu sein schienen. Zweimal kamen sie ihr zu nahe, und sie mußte ihr Gewehr abnehmen und einen erschießen, um die anderen abzuschrecken.

Einmal schlief sie ihretwegen auf einem Baum.

Endlich näherte sie sich dem wohlbekannten vorspringenden Felsen, unter dem Stel und seine Ge-fährten in jenem Sommer gehaust hatten, als sie die Kuppel öffneten. Sie befand sich inzwischen ungefähr achtzig Ayas südwestlich von Pelbarigan, in einem völlig unbewohnten Gebiet mit von Bächen durch-schnittenen, bewaldeten Bergen und Langgrasflä-

chen.

Ja, da waren seine Spuren. Sie ruhte sich ein paar Sonnenbreiten lang aus, ehe sie auf die altvertraute Hütte zuglitt. Es dämmerte schon fast. Sie verhielt sich still, als sie etwas hörte. Es war Stels Flöte, die ein bekanntes Pelbar-Lied spielte. Ahroe blieb stehen und lauschte, während die Sonne tiefer sank und den Westen mit einem matten, winterlichen Rot überzog.

Er beendete das Lied und begann zu improvisieren.

Ahroe fiel etwas Neues an seiner Musik auf, ein üppiger und trauriger, aber doch irgendwie zufriedener und ausgeglichener Ton. Nein, nicht wirklich zufrieden. Die Musik schien ein Sehnen auszudrücken, aber nach etwas, was nicht leicht zu erlangen war. Sie erinnerte Ahroe an Drosseln an Sommerabenden, tief im Wald, wenn es war, als habe das ganze, üppig grüne Labyrinth von Schatten eine Stimme gefunden, als sei die Drossel eins geworden mit dem Wald und spreche von seinem aufquellenden Leben. Sie schluckte ein wenig. Was spürte sie da? Stel war ihr irgendwie fremd geworden. Er hatte eine Dimension gefunden, die sie noch nicht erforscht hatte, und sie spürte, daß sie ... Angst hatte, sich hineinfallen zu lassen.

Endlich hörte er auf zu spielen, und sie bemerkte, daß ihre Füße vom Stillstehen ganz taub geworden waren.

Als sie um die letzte Biegung in dem überhängenden Kalkfelsen kam, schaute Stel von seinem Feuer auf. »Du kommst rechtzeitig zum Abendessen«, sagte er. »Ich habe genug gekocht.«

»Bist du jetzt wie Tor? Hast du gewußt, daß ich komme?«

»Nein. Ich habe für drei Tage gekocht. Und genug für ein paar Gardisten, sollten welche kommen.«

»Der Gardist bin ich.«

»Ich weiß, Ahroe. Ich weiß das schon lange. Du bist der Inbegriff des Gardisten. Bist du müde? Frierst du?« Er reichte ihr eine Holzschale mit dampfendem Eintopf. »Wir können drin essen. Ich habe noch keine richtige Feuerstelle gebaut, aber es ist windge-schützt.«

Ahroe schlürfte etwas von der Flüssigkeit ab, die am Rand der Schüssel hing. Sie rann ihr brennend die Kehle hinunter, und sie mußte blinzeln. Stel hatte sich in die Hütte geduckt, und sie folgte ihm.

Im Innern brannte eine kleine Tonlampe, und als sie sich zum Essen in ihre Fellrollen wickelten, sah Ahroe in Stels von unten beleuchtetem Gesicht die Spuren der Schläge, die er abbekommen hatte. Au-

ßerdem sah er blaß aus und bewegte sich zaghaft und steif.

»Ich bin wegen des Buches gekommen, Stel«, sagte sie.

»Ich weiß.«

»Es ist wichtig, die Sache jetzt beizulegen, soweit das möglich ist. Die Stadt reißt auseinander.«

»Ja. Ich verstehe.«

»Das mußte nicht sein. Dein Eigensinn ist über die Mauern hinausgegangen.«

»Eine Metapher aus den alten Zeiten«, sagte er mit leisem Lachen.

»Stel, es ist mir egal, woher die Metapher stammt.

Das ist eine praktische Angelegenheit. Wir müssen den Konservativen gegenüber eine versöhnliche Geste machen und dem Rat gehorchen.«

Stel starrte in die Lampe. »Wir? Du meinst, ich.«

»Du reitest auf jedem Wort herum. Ich rede über die großen Dinge.«

»Ist es nicht etwas Großes, wenn man versucht, das Wesen der Dinge zu verstehen?«

»Wirst du mir das Buch geben?«

»Ahroe, ich weiß es nicht. Vielleicht. Aber irgendwie glaube ich, daß ich es nicht aufgeben kann.«

Ahroe seufzte, schloß die Augen und versuchte, ih-re Wut zu beherrschen, doch sie wurde davon überwältigt. Sie warf Stel den Rest des Eintopfs ins Gesicht. Dann befreite sie sich aus ihrer Fellrolle, riß ihn an den Haaren hoch und schüttelte ihn. »Das Buch!

Ich will dieses Buch haben!«

»Dann such es dir«, sagte Stel tonlos und wischte sich das Gesicht ab.

Ahroe gab ihm eine schallende Ohrfeige. »Ich meine es ernst«, sagte sie.

»Ja. Schlag mich noch einmal! Mit dem Eintopf an den Händen siehst du großartig aus.«

Ahroe schlug ihn tatsächlich, als er so dastand und herumschwankte, und als er sein Gesicht mit den Händen bedeckte, ging sie wie eine Wilde auf seinen Körper los. Als sie seine Seite traf, schrie er auf, stürzte, kroch, noch halb in der Fellrolle steckend, in die Ecke und rührte sich nicht mehr.

Mit seinem Schrei war Ahroes Zorn verflogen, und Scham mischte sich in ihre Enttäuschung. Sie kniete neben ihm nieder und legte ihm die Hand auf den Rücken. Er bewegte sich nicht, aber sein Rücken hob und senkte sich in krampfhaftem Zittern.

»Was ist los mit dir?« zischte sie. Er antwortete nicht. »Mit dir habe ich mehr Schwierigkeiten gehabt, als man mit drei Männern haben dürfte. Und du änderst gar nichts damit. Ich muß das Buch haben.«

Stel antwortete noch immer nicht. Ahroe bewegte ihre Hand auf seinem Rücken, aber er zuckte schau-dernd davor zurück. Sie lehnte sich nach hinten, ließ aber die Hand auf seinem Körper liegen und schaute in die brennende Lampe. Schuldgefühle krochen in ihr hoch. Sie hatte ihn noch nie geschlagen, obwohl das in der alten Zeit, als die Städte noch geschlossen waren, bei den Pelbar-Frauen ziemlich häufig geschehen war. Sie wußte jedoch, daß die besten Frauen es nicht taten.

»Es tut mir leid, Stel. Daß es so weit gekommen ist.« Er antwortete noch immer nicht. Die Zeit verging. Ahroe betrachtete weiter die Lampe in der kleinen Hütte, in ihrem Licht war Stels saubere, aber schlichte Zimmermannsarbeit erkennbar. Sein Körper hatte sich nicht im Schlaf entspannt, wie sie es so gut kannte, nachdem sie so viele Jahre an seiner Seite gelegen hatte. Gelegentlich sagte sie etwas, aber er antwortete nie. Endlich flackerte und zuckte die Flamme in der Lampe, brannte nieder und erlosch qualmend.

Die Dunkelheit schien undurchdringlich.

Ahroe rutschte langsam zurück, müde nach einem Tag auf den Schneegleitern und den emotionellen Aufregungen des Abends. Das Gewicht ihrer Schuld kämpfte gegen ihr Gefühl für Pflicht und Notwendigkeit. Endlich legte sie sich schlafen und zog die Fellrolle über sich, ohne ihre Hand von Stel zu nehmen.

Sie erwachte plötzlich, helles Tageslicht strömte durch das Fenster aus abgeschabtem Leder. Stel war fort. Sie krabbelte nach draußen und sah, daß die Spuren seiner Schneegleiter von der Hütte wegführten. Wieder stieg Zorn in ihr auf. Jetzt mußte sie ihm erneut nachlaufen. Sie duckte sich in die Hütte zu-rück, um sich fertigzumachen, aß ein wenig von dem übriggebliebenen Eintopf und bemerkte erst jetzt in der Ecke Stels Untergewand, das mit Blut durchtränkt war. Sie hob es auf und sah den Schwertschnitt darin. Aha. Sie hatte ihn also auf seine Wunde geschlagen. Das hätte er ihr sagen, sich von ihr helfen lassen können. Sie hätte ihren Fehler wiedergutma-chen können. Sie ließ den Kopf sinken, und ihr ganzer Körper zitterte unter dem Ansturm widerstrei-tender Gefühle.

Endlich öffnete sie die Augen und sah im Sonnenlicht, das durch die offene Tür hereinströmte, ihre um das Tuch mit dem dunklen Blutfleck gekrampfte Hand mit der sauberen, sternförmigen Brandnarbe.

Ein paar Augenblicke lang starrte sie darauf, dann legte sie das Untergewand beiseite und machte sich auf, um Stel zu suchen.

Bei Sonnenhochstand sah sie, daß seine Spuren stockend wurden. Er legte öfter Pausen ein. Irgendwann bog die Spur zum Fuß eines hohen Kalkstein-felsens ab, führte in eine Einbuchtung und verschwand in einem kleinen, niedrigen Loch.

Ahroe hockte sich nieder und spähte in die Dunkelheit hinein. Sie schnallte ihr Bündel ab, lehnte ihre Schneegleiter neben die Spalte und kroch hinein, abgestoßen von der Dunkelheit, die für ihre schneege-blendeten Augen sonderbar rosa aussah. Sie wartete, bis sie ihre wahre Farbe angenommen hatte. Im Licht, das durch den Eingang hereinfiel, konnte sie mehrere Gänge sehen. Sie zog ihr Bündel herein und kramte darin herum, konnte aber nichts finden, womit sie hätte leuchten können, nur Feuerstein und Stahl und ein kleines Bündel Streichhölzer, das Eolyn ihr gegeben hatte.

Sie riß ein Streichholz an und hielt es hoch. Ein Gewirr von Spuren im Staub, menschliche und tieri-sche, sie gingen vom Eingang aus fächerförmig in mehrere Tunnel hinein. Die von Stel führten in alle Gänge. Das Streichholz verbrannte ihr die Finger, und sie blies es aus. Sie blickte sich um, erleichtert, die Lichtflut vom Eingang her zu sehen. Sie rief nach Stel, aber der Laut erstarb in den Felsspalten, und sie empfing nur ein schwaches Echo aus der Ferne: »Stel.«

Sie trat in den Gang, aus dem das Echo gekommen war, tastete sich voran, blickte zum Eingang zurück und schrie noch einmal. Ein schwaches »Stel, tel,el«

kam zurück.

Wieder ging sie zum Eingang. Es nützte alles nichts. Sie mußte noch einmal zur Hütte und die Lampe und genügend Öl als Vorrat holen. Erneut verspürte sie Zorn und Enttäuschung, denn sie wuß-

te, daß Stel sich aus dem Staub machen konnte, während sie weg war. Aber auch wenn er das konnte, so wußte sie doch, daß er in seinem augenblicklichen Zustand nicht weit kommen würde. Ahroe kroch hinaus und schickte sich an, auf ihrer eigenen Spur zurückzugehen.

Da sie sich beeilte, war sie bei Sonnenuntergang mit der Lampe und dem kleinen Topf mit Öl, den Stel in der Hütte beim Kochen gesammelt hatte, wieder an der Höhle. Erneut kroch sie in den Eingang und entzündete dort die Lampe. Ohne lange zu überlegen, wählte sie wieder den Tunnel mit dem Echo und betrat ihn ohne Zögern. Er führte in Windungen ab-wärts, wurde manchmal schmäler und öffnete sich schließlich in einen großen Raum, der sich schwarz und lautlos über den Lichtschein ihrer Lampe hinaus erstreckte. Der Raum war Ahroe zuwider.

Sie hatte in den Lehm-Kies-Boden des Gewölbes X-Markierungen eingekratzt, aber diese gewaltige Höhle mit ihren rhythmischen Tropfgeräuschen und den seltsamen Gesteinsablagerungen jagte ihr irgendwie Angst ein. Wieder schrie sie: »Stel!Stel!Stel!«

Der Raum schien den Schall aufzusaugen und gab nur ganz schwache Echos zurück.

Als sie begann, die Höhle zu erforschen, gelangte sie in mehrere blinde Tunnel und verlor schließlich die Orientierung. Sie kehrte in den großen Raum zu-rück, ging an ihren X-Markierungen entlang und fand schließlich Stels Abdrücke zusammen mit mehreren anderen Spurenpaaren, einige hatten seltsame Sohlen und erhöhte Absätze, und ein Paar drückte bei jedem Schritt ein Karomuster in den Boden. Plötzlich erkannte sie, daß diese Spuren noch aus alter Zeit stammten und von Wind und Wetter unberührt geblieben waren. Ein Schauder lief ihr den Nacken hinunter. Sie beschloß, ihren Spuren entlang zum Eingang zurückzugehen und es nach einer Ruhepause noch einmal zu versuchen.

Unterwegs bemerkte sie, daß Stels Fußabdrücke in einen Seitengang führten, und so bückte sie sich auch hinein, sah, wo er niedergekniet war und folgte dann seinen Spuren bis zu einem kleinen Teich hinab. Sie fand die Stelle, wo er sich hingesetzt hatte. Ahroes Lampe erhellte die kleine Kammer mit den spitzen, herabhängenden Steinsäulen und den dickeren Pfählen aus Stein, die ihnen von unten entgegenstrebten.

Plötzlich merkte sie, wie müde sie war, und hätte sich am liebsten hier auf die nassen Felsen zum Schlafen niedersinken lassen, aber dann überkam sie eine Welle der Angst davor, sich so tief unter der Erde zu verirren.

Hastig kroch sie wieder zum Hauptweg zurück und folgte erneut ihren Spuren. Irgendwie kam ihr alles anders vor, obwohl sie ihre X-Markierungen im Höhlenboden deutlich erkennen konnte. Schließlich begriff sie, daß sie offenbar in die gleiche Richtung ging wie vorher, als sie hereingekommen war, alle ih-re Fußstapfen zeigten dahin, wo sie jetzt ging. Sie drehte sich um und wollte zurück, und irgendwann führten ihre Spuren in beide Richtungen. Völlig verwirrt setzte sie sich und versuchte, sich über den richtigen Weg klarzuwerden. Dann drehte sie sich noch einmal um und ging ihren Spuren nach, sah, wo sie kehrtgemacht hatte und wanderte über diese Stelle hinaus. Bald kam sie wieder in den großen Raum.

Ahroe ließ sich voll Verzweiflung niedersinken. Sie goß neues Öl in die Lampe, machte wieder kehrt und hastete zurück. Da sie nicht aufpaßte, fand sie sich in einem Tunnel wieder, in dem keine X-Markierungen auf dem Boden waren. Wieder machte sie kehrt, suchte sich den Weg zurück und fand schließlich die Stelle, wo sie seitlich abgekommen war. Aber ihre Spuren führten in beide Richtungen, und jetzt hatte sie keine Ahnung mehr, welcher sie folgen sollte. Sie entschied sich, in eine Richtung zu gehen, aber nun kam sie an eine Stelle, wo anscheinend zwar ihre Spuren waren, aber keine Markierungen.

Wieder ließ sie sich niedersinken, diesmal auf einer vor dem Tropfwasser geschützten Steinplatte. Sie war unaussprechlich müde und beschloß, erst einmal zu schlafen, um sich wieder zu fassen. Sie legte sich hin, nahm das Streichholzbündel in eine Hand und löschte dann, obwohl sie es kaum über sich brachte, die Lampe. Die Finsternis war total, und als die Geister des Lampenscheins aufhörten, durch ihren Kopf zu schweben, fühlte sie sich so völlig einsam wie noch nie zuvor. Sie unterdrückte ihre Empfindungen, schloß die Augen und lauschte auf das langsame Tropfen des Wassers von der Höhlendecke. Irgendwann schlief sie ein.

Als sie erwachte, war sie einen Augenblick lang völlig verwirrt und richtete sich verstört auf. Dann erinnerten sie die Streichhölzer in ihrer Hand, wo sie sich befand. Sie öffnete das Bündel, nahm ein Hölz-chen heraus und strich es an einem Mantelknebel an.

Der aufflammende Lichtschein blendete sie momen-tan, aber sie hielt sich die Hand vor die Augen und zündete vorsichtig die Lampe wieder an, füllte Öl nach und stellte dabei fest, daß ihr Vorrat allmählich zur Neige ging.

Als sie ihre Spuren zurückverfolgte, erkannte sie einige Stellen wieder, verlor aber erneut die Orientierung. Sie begann, in Seitengänge zu gehen, die sie sorgfältig markierte, um auf den früheren Weg zu-rückzufinden. Als sie sich an einer nassen Felsschul-ter entlangschob, rutschte sie aus und stolperte ungefähr zehn Armlängen weit einen Abhang hinunter.

Wie durch ein Wunder ging ihre Lampe dabei nicht aus, aber der Öltopf in ihrer Tasche zerbrach. Sie richtete sich auf und sah unter sich einen gähnenden Schacht, in dem das Wasser hinablief. Sie warf einen Stein hinein und hörte ihn weit unten aufschlagen.

Mühsam kletterte sie wieder nach oben zurück und fand den Tunnel.

In diesem Moment sah sie ein Licht. »Stel!« schrie sie, »Stel!« Sie schaute über den Abgrund, das Licht wurde heller. Es war Stel, der mit stockenden Schritten durch einen Gang auf den Schacht zukam. Er schützte seine Augen vor dem Lampenschein und blinzelte über den Abgrund. »Ahroe. Wie bist du hierhergekommen?«

»Ich bin dir gefolgt, du gefühllose Flußschlange.

Stel, hol mich hier heraus! Ich ... ich habe nicht mehr viel Öl.«

»Bis ich dahin komme, wo du bist, wird es eine Weile dauern. Bei meinem Zustand ziemlich lange.

Geh wieder aus diesem kurzen Tunnel hinaus und warte. Du könntest die Lampe löschen. Sie wird wahrscheinlich sowieso ausgegangen sein, bis ich dich erreiche. Geh nicht weit weg!«

»Bist du wieder in Ordnung?«

»In Ordnung?« Stel lachte trocken. »Geh nur nicht weit weg!«

Ahroe sah, wie Stels Lampe auf der anderen Seite des Schachts verschwand und fühlte sich wieder völlig allein. Sie ging auf ihren Spuren zurück, fand einen glatten Felsen und setzte sich. Dann stellte sie die Lampe ab, nahm ein Stück Reisebrot und Trocken-fleisch heraus und kaute systematisch. Sie brachte es nicht über sich, die Lampe zu löschen, aber nach einer endlos langen Wartezeit ging sie langsam von selbst aus. Wieder lag sie im Dunkeln. Nun wußte sie, daß Stel sie hereingelegt hatte. Er wollte sie hier zurück-lassen. Sie biß die Zähne zusammen. Hinausfinden würde sie, und wenn sie im Dunkeln kriechen und die X-Markierungen ertasten mußte, die sie in den Fußboden gekratzt hatte.

Aber sie wußte, daß das unmöglich war. Sie konnte nur warten. Die Mattigkeit wurde immer stärker, wieder begann sie zu dösen, und schließlich schlief sie ein.

Sie schreckte aus dem Schlaf hoch und sah, daß ih-re Lampe angezündet dastand, daneben eine kleine Kanne mit Öl und ein zusammengeknotetes Tuch, in dem, wie sie wußte, Essen sein würde. Sie öffnete es und aß das darin befindliche Reisebrot und die kalte, gekochte Knöchelwurz. Stel war nicht in der Nähe, aber er hatte Pfeile in den Höhlenboden geritzt.

Ahroe rappelte sich auf und folgte den Zeichen. Irgendwann trennten sie sich von ihren Fußspuren und führten einen steinigen Abhang hinunter. Hier hatte Stel eine grüne Schnur festgebunden, von einem seiner alten Unterziehpullover, wie sie erkannte, mit dem er wohl vor ihr hergegangen war und ihn auf-getrennt hatte. Sie stieg über die Steine hinauf und überlegte flüchtig, ob Stel sie wohl völlig in die Irre führen und sie dann im Stich lassen wollte. Aber nein. Das hätte er schon früher tun können.

Der Weg flachte sich ab, und Stel verwendete wieder Pfeile als Markierungen. An einer Stelle wiesen die Zeichen in einen Seitengang hinein. Ahroe wun-derte sich, weil sie sah, daß sie auch wieder herausführten, aber die Neugier trieb sie, ihnen zu folgen.

Am Ende des Gangs lag das große Skelett eines schweren Tieres mit langen Klauen und Zähnen, das sich vor seinem Tod ganz zusammengekrümmt hatte.

Ahroe erschauerte und hastete wieder auf den Weg hinaus. Würde Stel denn niemals ernst sein? Sie war doch nicht auf einem Vergnügungsausflug. Sie hatte den verzweifelten Wunsch, hinauszukommen.

Der Weg stieg wieder an und traf dann plötzlich auf eine verfallene Betontreppe mit einem rostigen Eisengeländer. Dieser Teil der Höhle war trocken, und alles war mit pulverfeinem Staub bedeckt. Die Treppe führte in Windungen nach oben zu einer vier-eckigen Tür. Dort zögerte Ahroe, dann betrat sie einen fremdartigen Raum.

Reihen von runden Tischen, jeder mit vier Stühlen, nahmen den größten Teil des Raumes ein. Eine Seite wurde von einer langen Theke mit Hockern davor und Regalen mit Gläsern und Tellern dahinter beherrscht. Auf einem Schild über der Theke stand: ›Zum Mittagessen in Smedleys Höhle‹, und dahinter waren auf verblaßten, gerahmten Bildern undeutlich Ansichten der Höhle unten zu erkennen. Außerdem hing ein zerfallendes Papierschaubild mit Zahlen darauf an der Wand. Ahroe las ›November 2009‹ über der Karte, und hinter der Zahl 22 stand in wilder, aber leserlicher Handschrift: ›Und hier endet alles, drinnen wie draußen.‹

Ahroe hustete in der staubigen Trockenheit. Ihr Blick schweifte weiter durch den Raum, und sie sah auf der anderen Seite drei längliche Gegenstände ne-beneinanderliegen. Stels Spuren führten zu ihnen hin, und als sie näherkam, sah sie auch, warum er im Staub niedergekniet war. Sie zog scharf die Luft ein.

Verschrumpelt und mumifiziert lagen die Leichen von einer Frau und zwei Kindern mit dem Gesicht nach oben auf dem Boden. Weiter hinten konnte Ahroe im Dämmerlicht noch eine groteske Gestalt erkennen, die auf einem Stuhl hinter einem der Tische festgeklemmt war.

Erst jetzt bemerkte sie, daß Stels grüner Faden durch den Raum zu dieser Gestalt führte, die in der Trockenheit ebenfalls mumifiziert war. Der Zeigefinger einer Hand deutete auf einige verstreute Rechtek-ke aus dickem Papier. Ahroe konnte sehen, daß Stel von einigen den Staub weggewischt hatte. Auf dreien davon waren Achten zu sehen. Die anderen verstand sie nicht.

Stel hatte den Faden in Form einer Gabel geknotet.

Ein Teil führte zu der ausgestreckten Hand des Mannes, ging darüber hinweg und war ordentlich um das alte Buch gebunden, dessentwegen sie gekommen war. Der zweite wies zur anderen Hand des Mannes, die einen sonderbaren Metallgegenstand umfaßt hielt. Ahroe erkannte sofort, daß es sich um eine kurze Ausgabe des Gewehrs handelte, das sie vor kurzem wieder entwickelt hatten. Aber diese Waffe wurde in der Hand gehalten.

Ahroes Blick wanderte zum Kopf der Mumie hinauf. Die Zähne grinsten grausig zwischen den ver-schrumpelten Lippen hervor, und sie konnte sehen, daß er die Waffe gegen sich selbst gerichtet hatte – und wahrscheinlich auch gegen die anderen.

Schaudernd wand Ahroe dem Mann die Waffe aus der Hand und ließ sie in ihre Manteltasche fallen.

Dann griff sie nach dem Buch. Als sie es aufhob, flatterte ein Zettel heraus. Sie hockte sich in den Staub und las ihn beim Schein der Lampe. Er war mit Blut geschrieben, zweifellos ein ironischer Seitenhieb von Stel.

Ahroe. Hier ist das Buch, das dir so wichtig war, daß du alles dafür tun wolltest. Daß du dich so verhalten hast, hat mich der ganzen Sache überdrüssig gemacht. Ich glaube immer noch, daß es wieder allen Gesellschaften weissagen sollte. Es ist zweifellos ein unbequemes Buch.

Ich glaube, ich verstehe von einem Teil dessen, was es sagt, den Sinn, aber es lohnt sich, es viel gründlicher zu studieren. Ich kann es ohnehin nicht mehr lesen. Möget ihr, die Protektorin und du, Freude daran finden. Bitte lies etwas vom letzten Teil, ehe du es ihr gibst. Jetzt gleich. Um herauszukommen, geh die Treppe wieder hinunter, nimm aber dann den linken Gang. Wenn du das Geröllfeld erreichst, krieche darüber. Du bist jetzt seit drei Tagen hier. Ich wünsche dir eine gute Rückrei-se. Ich komme nicht mit. Leb wohl, meine Liebe.

Stel

Einfach so? Leb wohl, meine Liebe? Dann war er wohl fort? Wollte nicht zurückkehren? Ahroe las den Zettel noch einmal, blickte sich ein letztes Mal um und verließ den Raum. Sie fand die Stelle, wo sich die Treppe gabelte, wandte sich nach links und kletterte, wie Stel es ihr geraten hatte, ein Geröllfeld hinauf. Als sie sich bis nach oben vorgearbeitet hatte, sah sie vor sich ein Licht. Stolpernd und rutschend erreichte sie dieselbe Eingangskammer, in der sie schon gewesen war. Ihre Schneegleiter lehnten ordentlich an der Wand, daneben stand eine Schale Eintopf, noch etwas warm. Sie nahm den Eintopf und setzte sich zum Essen in den Eingang, wo sie freien Blick nach draußen hatte. Es war fast Nacht, ein trüber Wintertag. Der Schnee wurde im ständigen Regen zu Matsch, und Ahroe kam es vor, als passe die ganze Welt zu ihrer gegenwärtigen, gedrückten Stimmung.