ACHT
Wie Arey vorausgesagt hatte, kam in der Nacht Schnee und dann, am Vormittag des nächsten Tages, Regen. Im Tunnel überließen sich Gefangene und Bewacher dem gleichförmigen Warten, verbunden mit den notwendigen Arbeiten wie Kochen, Holz-sammeln und anderen Routinetätigkeiten. Die Westländer schienen die Organisation und die Vorschriften für die Gefangenen zu verschärfen und lehnten jedes Gespräch ab bis auf das, was korrekt und notwendig war.
Abgesehen von den Routinearbeiten hatten die Gefangenen wenig zu tun, sie konnten nur zusehen, wie die Shumai Na,na spielten, wobei sich ihre Hände bemerkenswert flink bewegten, wenn der Gesang schneller wurde und immer in brüllendem Gelächter endete, wenn einer der Spieler aus dem Rhythmus kam. Die großen, blonden Reiter gaben sich frech und lässig. Die Sentani mit ihrem kurzgeschorenen Haar und ihrem förmlichen Benehmen wirkten reservier-ter, obwohl sie unaufhörlich ein Brettspiel mit in Reihen aufgestellten Figuren spielten, wenn sie nicht mit ihrer Ausrüstung und ihren Waffen beschäftigt waren, die sie makellos in Ordnung hielten. Die Pelbar waren die Mädchen für alles und hielten die Gruppe zusammen, sie waren vergleichsweise still, immer beschäftigt und auf die Bedürfnisse aller bedacht. Die Peshtak, in deren Gebiet sie sich ja alle befanden, wirkten hier irgendwie fremd, sie waren schweigsam, blieben für sich und waren mißtrauisch, aber auch auf scheue Art angetan davon, mit den anderen Westländern beisammen zu sein. Wie Peydan mit Er-staunen feststellte, waren sie alle eine einzige Gesellschaft, die im Begriff war, zu einer einheitlichen Kultur verschmolzen zu werden, in der jeder Teil anders war, aber doch seinen Beitrag leistete.
Gegen Abend des ersten Regentages bahnte sich Winnt einen Weg durch die Gefangenen, um sich Borunds Bein noch einmal anzusehen. Er brachte seinen alten Sentani-Gefährten mit, der heißes Wasser trug. Schweigend entfernte er die Verbände, wusch und untersuchte die Wunde und band sie wieder ein.
Borund hielt die Hände vor die Augen und erwiderte das Schweigen. Als Winnt fertig war, kam Mokil, stellte sich, die Hände in die Hüften gestützt, hinter ihn und beobachtete ihn.
»Ich weiß es jetzt«, sagte er. »Es ist wegen Stels Buch, nicht wahr?«
»Wir wollen hier nicht darüber sprechen«, wehrte Winnt leise ab.
»Ich sehe es. Es wird uns vernichten«, meinte Mokil.
»Wir brauchen alle verfügbaren Mittel, um mit dem fertigzuwerden, was ansteht«, erklärte Winnt.
»Aber wir wollen nicht darüber sprechen – nicht hier, alter Sternenführer. Vergiß nicht, was die Pelbar für mich getan haben!«
»Ganz anders. Ja. Ich erinnere mich. Glaubst du, diese Leute würden Nordwall vor den Tantal retten?
Keinen Stierhuf sind sie wert. Sie würden aus den Hautfetzen eines anderen Eintopf machen und ihm das dann als erstklassiges Fleisch verkaufen. Man sieht es doch. Sie haben nicht einmal vor ihresglei-chen Achtung.«
»Ihr wißt nicht einmal, was Achtung überhaupt ist!« fauchte Borund. »Ihr seid nichts als eine Bande von Dreckwühlern und Mordbrennern.«
»Borund, ich bitte dich«, beschwor Peydan. »Der Dreckwühler hat soeben dein Bein versorgt.«
»Das ist nicht mehr nötig«, stellte Winnt fest. »Es ist wieder ziemlich in Ordnung.« Er wandte sich an den Leutnant. »Hallo, Odorly! Alles klar?«
»Ja, Winnt. Bei dir schon, wie ich sehe – so klar, wie es bei einem Sentani-Kratzer nur sein kann«, erwiderte der lächelnd.
»Leutnant Oberly!« rief Borund. »In Innanigan werden wir schon sehen, wie es um dich steht.«
»O ja, das kann ich mir vorstellen«, sagte Leutnant Oberly. »Dort wird man ganz begeistert sein, wenn man erfährt, wie du ganz alleine einen Krieg angefangen hast. Das können nicht viele Leute von sich sagen.«
»Leutnant!«, mahnte Peydan.
»Ja, Erhabener?« Oberly war plötzlich ernüchtert.
»Gib Frieden!«
»Gute Idee!« meinte Mokil. »Das könntet ihr alle lernen. Ich hoffe, es besteht eine gewisse Aussicht. Ich wollte meine letzten Jahre in Koorb zubringen. Herumtrödeln. Fischen. Die großen Epen singen. Mit En-kelkindern spielen.«
»Wo willst du denn die Enkelkinder herbekom-men?« fragte Winnt grinsend.
»Ausleihen. Ich ...«, begann er, dann bemerkte er den Ausdruck in Winnts Augen und verstummte.
»Schon gut«, sagte Winnt. »Igna ist als Soldat gekommen und den Soldatentod gestorben. Wie so viele. Atou gibt uns die Kraft, das einzusehen.«
»Es war Verrat«, sagte der alte Sentani.
»Auch das ist ein Teil des Krieges. Das ist doch ein Krieg, nicht wahr, Oberly?«
»Nicht antworten, Leutnant!« warnte Peydan.
»Warum nicht?« fragte Mokil.
»Wenn eingestandenermaßen Krieg herrscht, muß ein formeller Friedensvertrag gemacht werden. Das ist nicht immer einfach. Manchmal kann man die Dinge leichter regeln.«
»Aha«, sagte Winnt. »Ich verstehe. Aber Frieden ist schließlich eine Geisteshaltung.«
»Das ist wieder Stels Buch«, sagte Mokil. »Komm jetzt! Wir sind schon zu lange hier.« Sie schlenderten weg.
Als Oberly den sich entfernenden Sentani nachsah, fragte er: »Was, bei des Schicksals Karten, ist Stels Buch?«
»Wer weiß?« meinte Peydan. »Vielleicht etwas, was wir zu unserem Vorteil nützen können. Sie sind jedenfalls psychologisch gesehen Dummköpfe. Voller Angst und Aberglauben. Ich kann mir vorstellen, daß sie für die Wissenschaft der Psychologie überhaupt keinen Sinn haben.«
Im Nordwesten, in den Sümpfen von Maaldune, hatte der Schnee die Spuren der Flüchtlinge von Enult überdeckt, und der darauffolgende Regen verwandelte den ohnehin trostlosen Lagerplatz von Sharitans Truppe in ein morastiges Elendsquartier. Die Männer hatten Unterstände aus Tannenzweigen gebaut, aber sie konnten das stetig tröpfelnde, eiskalte Wasser nicht abhalten. Die qualmenden Feuer halfen ein wenig, aber sie hatten gegen die Feuchtigkeit anzukämpfen, die verhinderte, daß die Männer ihren Körper und ihre Kleidung trockenbekamen. Am zweiten Morgen befahl Sharitan widerwillig den Rückzug nach Osten durch den Sumpf.
Die Stimmung der Männer besserte sich, als es sicher schien, daß sie endlich nach Hause zurückkehren würden. Sie mußten an der Stelle durch den Fluß waten, wo die erste Brücke hinter ihnen herausgeris-sen worden war, und als die ersten auf der anderen Seite aus dem Wasser stiegen, wurden sie mit Blitz und Krach und einem kalten Schlammschauer in die Luft gejagt. Die Nachfolgenden schauten verstört über den Fluß zu ihren blutüberströmten, zerrissenen Kameraden hinüber, bis ein Unterführer rief: »Hindurch jetzt, Männer, und greift an! Wenn die Feinde hier sind, los auf sie!«
Mit trillernden Schreien rannte die ganze Schar durch das Wasser und in den dahinterliegenden Sumpf, sie hörten erst auf zu laufen, als sie eine hö-
hergelegene Insel erreichten. Kein Feind ließ sich sehen. Sie legten eine Pause ein, stolperten platschend herum und rangen nach Atem, waren aber froh, ein Stück weitergekommen zu sein. Sharitan hatte nichts gesagt, war aber mit den übrigen durchs Wasser ge-watet.
»Nun, Männer, vorwärts!« brüllte er schließlich, und die Truppe setzte sich wieder in Marsch, durch das Laufen aufgewärmt. Jemand begann zu singen, aber ein paar Augenblicke später traf ihn ein einzelner Gewehrschuß aus großer Entfernung in den Bauch, und er kippte nach vorne.
»Jetzt ist der Feind da!« schrie der Unterführer.
»Auf! Bewegt euch, Männer, in Richtung auf den Schuß!« Wieder begann die Truppe stolpernd über die Hügel im Sumpf zu traben, und schließlich ge-langten sie ganz aus den Sümpfen heraus. Der Unterführer hob seinen in der Hülle steckenden Bogen, stieß einen schrillen Schrei aus und tanzte wild auf dem ansteigenden Gelände. Er rannte zurück, um die Männer anzufeuern, aber da, wurde auch er von der letzten der Landminen, die die Westländer gelegt hatten, in die regennasse Luft gesprengt. Er landete mit einem platschenden Aufprall. Drei weitere Männer stürzten ebenfalls. Zwei lagen reglos, der dritte hielt sich stöhnend die Ohren. Die Männer dicht dahinter bekamen etwas von der Druckwelle mit, blieben aber ziemlich unverletzt.
Sharitan kam heran und sagte: »Nun, Männer, wir nehmen die hier mit und legen sie zu den Kundschaftern, die diese Stinktiere ermordet haben. Wir halten uns die ganze Zeit abseits der Wege.«
Als die Leichen mit Steinen bedeckt waren, rief Sharitan seine Truppe erneut zusammen. »Männer von Innanigan«, begann er. »Es mag auf den ersten Blick so aussehen, als hätten wir eine Niederlage erlitten. So solltet ihr es nicht auffassen. Wir haben da-zugelernt. Wir werden zurückkommen. Die Macht von Innanigan hat die Peshtak und ihr Freundesge-sindel so weit zurückgetrieben, wir werden nicht aufgeben. Wir werden unsere stählerne Hand so weit nach Westen ausstrecken, daß sie nie mehr wiederkommen. Nun ist es Zeit, mit erhobenem Haupt nach Osten zu marschieren. Nehmt es als Vorbereitung für das kommende Jahr. Dieser ganze Vormarsch war nicht richtig geplant, aber es ist uns gelungen, den Feind anzugreifen, und obwohl Eplay eine Niederlage einstecken mußte, hat er ihnen zuvor sicher entscheidende Schläge versetzt. Jetzt werden die Bürger alarmiert sein und einsehen, wie notwendig die Unterstützung ...«
Sharitans Rede wurde durch einen weit aus dem Südosten kommenden Gewehrschuß abgeschnitten.
Der Innanigani-Leutnant wurde herumgerissen und stürzte von dem Felsen, auf dem er gestanden hatte.
»Dem Schicksal sei Dank«, sagte ein Mann. »Wir wollen ihn mit den anderen begraben. Wer ist jetzt noch übrig? Unterführer Kaynard? Sieht so aus, als wärst du dran. Wir wollen nach Hause.«
»Ich? Lollar, übernimm du! Du bist länger dabei als ich.«
»Nicht um deine Schweinspfeife, Kay. Du bist dran. Ich schlage vor, wir verschwinden schleunigst von hier.«
»Zuerst begraben wir den Leutnant.«
»Werft ihn auf die Steine. Da kann er alles bewachen. Es bläst ein kalter Wind herauf. Bald wird der ganze Regen gefrieren.«
Ohne auf weitere Befehle zu warten, warfen vier Männer Sharitans Leiche auf den Steinhaufen und machten sich, nach den anderen rufend, auf den Weg nach Osten, durch die Wälder. Kaynard blickte Lollar an und zuckte die Achseln. Der ganze Haufen packte sich die Vorräte auf den Rücken und folgte.
Inzwischen war der rothaarige Soldat, den Sharitan weggeschickt hatte, unverdrossen nach Osten gegangen, den anderen immer mehrere Ayas voraus, allein und verängstigt. Er fröstelte und suchte nach einem Unterschlupf in den Felsen, um sich auszuruhen.
Beim Gehen kaute er trockenen Mais aus Enult. Als Farmer schreckten ihn die weglosen Wälder nicht, aber er hatte es eilig, von den Peshtak wegzukom-men. Er war erleichtert, daß er Sharitan, den er für verrückt hielt, weit hinter sich gelassen hatte.
Der Wind kam jetzt aus dem Norden, und er war kalt geworden. Nach kurzer Zeit bildeten sich in den Sümpfen von Maaldune im stehenden Wasser an den seichten Stellen Eisnadeln, und diese streckten sich nach außen und wuchsen zu einem dichten Geflecht zusammen. Der Nieselregen wurde schwächer und verfestigte sich. Aus den Leichen der vier Männer, die von der dritten Mine getötet und von den Innanigani in ihrer Eile am Fluß zurückgelassen worden waren, war die Wärme gewichen, sie wurden langsam hart wie der Schlamm, in dem sie lagen, sie verschmolzen mit ihm und wurden ein Teil der vom Durchmarsch der Truppe aufgewühlten Sümpfe.
Etwa um dieselbe Zeit wurden im Südosten, im Tunnel die Gefangenen auf fünf Sentani aufmerksam, Läufer, die von Westen gekommen waren. Die Neuankömmlinge sprachen mit den Westländern, und mehrere Pelbar-Gardisten machten sich im Laufschritt auf den Weg. Bald langte eine Transportko-lonne aus zwölf Pferden an, mit weiteren fünfzehn Sentani zu Fuß und vier Leuten zu Pferde. Zwei davon waren Frauen. Mokil ging hinaus und umarmte sie beide, dann umarmte Winnt die jüngere und hielt sie lange an sich gedrückt. Auch Igant, der ältere Peshtak, umarmte die ältere Frau, und Arey stand in Gedanken versunken da, lachte dann und drückte seine Handflächen an die ihren.
»Was soll das alles?« fragte Oberly.
»Frauen für die Soldaten«, bemerkte Peydan.
»Nein. Die nicht«, widersprach Oberly. »Das sind Verwandte oder sowas. OOOOOh. Sieh dir nur die jüngere an!«
»Verräter!« fauchte Borund. »Faulschlamm, alle beide!«
»Die eine ist eine Seerose.«
»Darf ich dich daran erinnern, junger Mann, daß sie unsere Feinde sind?«
»Oh, Erhabener, die da – die da. Ich wünschte, alle meine Feinde wären so wie sie.«
»Dann freue dich! Vielleicht bringt sie deinen Hin-richtungsbefehl.«
»Irgendwelche Papiere haben sie tatsächlich dabei.
Seht! Der Shumai deutete auf uns.«
»Nur Geduld. Wir werden es erfahren – zu bald schon, könnte ich mir vorstellen. Das ist eine Pelbar.
Jetzt werden wir also sehen, wie die Chefs der Pelbar arbeiten. Wie ich höre, leiten sie die ganze Bande.
Einfach sieht sie auch nicht aus.«
Die Ostländer mußten warten, während sich die eingetroffene Gruppe niederließ und Tee und Kuchen zu sich nahm. Es blies ein kalter Wind, und alle wärmten ihre Hände an den Schalen. Oberly schaute ziemlich ungeduldig zu.
Endlich trennten Peshtak-Wachen die Innanigani-Offiziere von ihren Leuten und führten sie ein Stück in den langen Tunnel hinein. Die Wächter stellten Sitzgelegenheiten aus Holzbalken auf. Arey und ein Peshtak-Wächter führten die beiden Frauen und Igant an Sitzplätze gegenüber. Die ältere Frau setzte sich und blickte von einem der Innanigani zum anderen.
Sie hatte einen sehr geraden Rücken und schwarzes, von grauen Strähnen durchzogenes Haar. Ihre hohen Backenknochen modellierten ein Gesicht, das offensichtlich einmal sehr schön gewesen, jetzt aber durch Nachdenken, Sorgen und Wetter härter geworden und etwas gealtert war. Die Frau sah sie an, ohne zu lächeln.
Neben ihr stand die jüngere, groß und schlank, mit leichten Sommersprossen auf dem Gesicht, eine Sentani, die eine Schultertasche mit allen Papieren trug.
Oberly sah, daß ein Feuerstrom von Anmut von ihr ausging und aufstrahlte wie der Himmel hinter ihrem Kopf, der das gelöste Haar unter ihrer Mütze erfaßte und aufleuchten ließ. Ihre Augen streiften die seinen, kamen zurück und senkten sich zu ihren müßigen Fingern, die auf dem Band über ihrer Brust ruhten.
»Wie heißt du?« fragte Oberly. Sie warf ihm einen schnellen Blick zu. »Du bist durch all den Regen gekommen, wie ich höre«, sagte er. »Aber ich sehe, daß du nicht zerflossen bist.« Sie rückte weg, warf einen Blick nach hinten. Er grinste und sagte: »Geh nicht fort, bitte. Bleib hier!«
Die andere Frau hüstelte, und Oberly faßte sich wieder und sah, daß Peydan ihn zornig anfunkelte.
Er wich zurück und setzte sich, ohne die Pelbarfrau aus den Augen zu lassen, die sich zusammen mit der jüngeren setzte, dann die Ostländer anblickte und sich räusperte.
»Mein Name ist Ahroe Westläufer«, begann sie.
»Ich bin eine Pelbar aus Pelbarigan, aber von der Heart-Fluß-Föderation ermächtigt, für uns alle zu sprechen. Ich nehme an, du bist Peydan, der Kommandant der Invasionstruppe. Und du mußt Borund sein, der Abgeordnete, dem wir diesen Krieg am un-mittelbarsten zu verdanken haben.«
»Konflikt«, sagte Peydan. »Es ist ein Konflikt.«
Ahroe betrachtete ihn schweigend.
»Soweit ich verstanden habe, ist es nicht so wichtig, was es ist, sondern wie man es nennt.« Arey lachte.
»Wenn man sagt, es ist ein Krieg, dann ist es schwieriger, sich über ein Ende zu einigen. Hat etwas mit der obskuren Politik der Ostländer zu tun.«
»Ach so«, sagte Ahroe. »Ich verstehe. Ich hatte schon gehört, daß euch die Worte wichtiger sind als der Inhalt. Ein ziemlich weit verbreitetes Problem. Ich nehme an, ihr könnt meinen Dialekt verstehen. Ist das richtig?«
»Es ist ziemlich schwierig«, sagte Peydan, »aber wir sind an provinzielle Sprechweisen gewöhnt.«
»Ach so. Wenn ihr im Laufe der Zeit einen etwas weiteren Horizont bekommt, werdet ihr eine ganze Reihe von Sprechweisen kennenlernen, und auch die Stärken jeder einzelnen. Aber zur Sache! Man hat uns mitgeteilt, daß ihr unseren vor kurzem zu euch ge-sandten Boten nicht anerkannt, ja, sogar grob miß-
handelt habt, und daß ihr unsere Anfrage bezüglich eurer Westgrenze nicht beantworten wolltet. Trifft das zu?«
»Es trifft zu, daß wir nicht willens sind, euch Informationen bezüglich unserer Grenze zu geben«, brummte Borund.
»Dürfen wir erfahren, warum?«
»Wir sehen keine Notwendigkeit. Unsere westlichen Provinzen werden von Wilden bewohnt, und wir sehen keine Notwendigkeit, ihnen in irgendeiner Weise besondere Beachtung zu schenken. Sie sind dort nur, weil wir uns bisher noch nicht dazu entschlossen haben, sie zu vertreiben und diese Gebiete in Besitz zu nehmen.«
»Ich verstehe. Dann ist jedes Gebiet im Westen, ganz gleich, wer es bewohnt, für euch einfach ein ...
ein von euch nicht bewohntes Gebiet?«
»Ich lehne es ab, auf diese Frage zu antworten.«
Ahroe schaute Leutnant Oberly an, der etwas weiter hinten an der Seite stand. Oberly schaute die jüngere Frau an, die dasaß und das Gespräch eifrig mit-schrieb. Ahroe wandte sich wieder Borund zu. »Und doch hat dieser junge Mann ein Kapitulationsdoku-ment unterzeichnet, das Arey mir gezeigt hat. Und ein solches Abkommen schließt notwendigerweise ein, daß ihr unsere Existenz als rechtsfähige Körper-schaft anerkennt.«
»Er war dazu nicht befugt.«
»War er zur fraglichen Zeit nicht der kommandie-rende Offizier eurer Armee, nachdem alle anderen getötet oder gefangengenommen worden waren?«
»Unsere gesetzgebende Versammlung würde einem solchen Dokument niemals zustimmen, und daher besäße es für uns niemals Rechtskraft.«
»Du meinst, daß wir euch versorgen, und daß wir ... euch sicher zurückgeleiten, ist nicht von Bedeutung? Wir halten unsere Seite des Abkommens, und ihr widerruft dann die eure?«
Borund antwortete nicht.
»Was sollte uns dann daran hindern, euch alle in einer Reihe aufzustellen und gleich hier zu töten, damit ihr nicht wieder bei uns einmarschiert? Was, heißt das, außer unserer eigenen Zivilisation, die so etwas nicht zulassen würde? Wir sind, wie ich beto-nen muß, offensichtlich fähig, uns zu verteidigen.«
»Jetzt vielleicht noch. Wir Innanigani sind ein friedliebendes Volk und wollten uns bisher lediglich verteidigen. Aber nun haben wir eure Waffen gesehen und werden bald fähig sein, sie selbst herzustellen und zu verbessern«, sagte der Erhabene Peydan.
»Ohne Zweifel«, entgegnete Ahroe. »Diese Erfahrung haben wir in den vergangenen zwei Jahrzehnten auch gemacht. Seit die Tantal bei uns einfielen und Nordwall mit ihren Rohrwaffen belagerten, die sie, wie ich annehme, von euch hatten. Ich wünschte, ich könnte sehen, wozu das alles gut sein soll. Es scheint wenig Sinn zu haben.«
»Der Überlegene beugt sich niemals dem Unterle-genen«, sagte Borund gelassen.
»Inwiefern überlegen?«
»In bezug auf Intellekt, Zivilisation, gesetzliche Vorschriften ...«
»Und Zahl«, fügte Peydan hinzu.
»Das ist eine komische Sache«, sagte Ahroe. »Es freut mich, daß ihr da so sicher seid. Meiner Rech-nung nach war eure Truppe hier ungefähr achthundert Mann stark. Zweifellos alles, was ihr bequem entbehren konntet, ohne tiefe Einschnitte in eure Wirtschaft zu machen. Ihr habt ungefähr zweiund-zwanzigtausend Menschen?«
»Du unterschätzt uns. Und da sind auch noch Seligan und Baligan. Vielleicht hast du von ihnen ge-hört?«
»Ja. Jeweils ungefähr neun-bis zehntausend Ein-wohner. Und nicht geneigt, Krieg gegen ihre Nachbarn zu führen. Vor nicht allzu langer Zeit rüsteten die Peshtak eine Truppe von ungefähr tausend Mann aus und überfielen uns damit. Weißt du, uns betrifft das auch. Ihr könnt nicht von Osten her Druck aus-
üben, ohne alle nach Westen zu schieben. Ich könnte dich erinnern, daß die Peshtak zwar Schaden erlitten haben, aber als Kultur oder als Militärmacht weder durch eure Einmärsche, noch durch unsere Zerschla-gung dieser Invasionstruppe eliminiert wurden. Ihr wißt nicht, wie viele Peshtak es gibt. Wir auch nicht ...
und sie selbst ebensowenig, da sie in lose verbunde-nen Gruppen leben, die überall in den Bergen verstreut sind. Ich habe den Verdacht, ihr habt kaum ei-ne Vorstellung davon, welche Macht mit ein bißchen Organisation gegen euch aufgeboten werden kann.
Ich muß mit Nachdruck feststellen, daß wir nicht den Wunsch haben, das zu tun. Wir möchten gerne ein Abkommen erreichen, sogar ... eine Übereinkunft, sofern das möglich ist. In diesem riesigen Land gibt es nur wenige Menschen. Bestimmt ist Platz genug für alle. Wir könnten die ganze Föderation in einem einzigen, kleinen Gebiet zusammenziehen, wenn wir wollten. Ihr müßt einsehen, daß wir von Frieden und Ruhe alle profitieren würden. Andere Projekte sind viel lohnender und interessanter als der Krieg. Ist es nicht so?«
»Jede Nation hat ihre Rechte«, sagte Borund.
»Wenn es darum ging, Repräsentant, hätten wir keine Schwierigkeiten. Das Grundproblem ist, daß ihr uns nicht als Nation anerkennen wollt. Ihr wollt uns nicht einmal eine Ostgrenze zugestehen. Ist es nicht so?«
»Ich sprach von unserer Nation.«
»Ohne Zweifel. Bist du wenigstens bereit, die Angelegenheit bei deiner Regierung ernsthaft vorzu-bringen?«
»Ich bin der Vertreter der Regierung und überbringe dir ihre Entscheidung.«
»Und das ist alles?«
»Wir haben unsere Antwort gegeben.«
»Eure Antwort ist keine Antwort. Selbst nach dem, was hier geschehen ist?«
»Ihr werdet unsere Antwort schon bald bekommen, aber nicht in Worten.«
»Dann also in weiteren Toten? In Explosionen und Pfeilen, in Messern und Elend? Ich wünschte, ich könnte deine Aufsässigkeit verstehen. Ist es die Überlegenheit, mit der ihr prahlt? Der Stolz, der sich selbst vor Anständigkeit nicht beugen will?«
»Unsere Überlegenheit ist keine Prahlerei. Das würde ein einfacher Besuch in Innanigan sogar dir klarmachen.«
»Und du, Kommandant Peydan – stimmst du dem zu?«
»Er ist der Abgeordnete. Ich bin der Soldat. Er hat mich durch seine ständige Einmischung in mein Geschäft genug gequält, ich werde mich in das seine nicht einmischen.«
Ahroe schaute auf ihre Fingernägel, dann zu Igant hinüber, der grimmig lächelte. »Du hattest recht«, sagte sie. »Ich hätte es nicht geglaubt. Ein Volk, das keinen Sinn für Ehre, Wahrheit oder Gerechtigkeit hat.
Nur für Streit, Konflikt und Macht. Ich verstehe jetzt, wie die Alten sich selbst vernichteten, und ich bedau-re, daß etwas von diesem ekelhaften Geist der Dün-kelhaftigkeit und Arroganz, der selbstgefälligen Bes-serwisserei und Rechthaberei bis heute überlebt hat.«
Sie wandte sich an Oberly, der Ahroes Sekretärin anschaute. »Du«, begann sie. »Du bist derjenige, der das Kapitulationsabkommen unterzeichnet hat, nicht wahr? Ach, ich sehe schon, wir müssen weiter ausholen. Wie heißt du?«
»Leutnant Oberly. Ich kann dir deine Frage nicht beantworten. Borund ist unser Sprecher.«
»Aber bei der Kapitulation hast du doch gesprochen.«
»Ich war als einziger in der Lage dazu, da ich der gewählte Kommandant war. Das ist nicht mehr der Fall.«
»Ja. Aber ich bin von meiner Abweichung abgewi-chen. Leutnant Oberly, ich habe versäumt, meine Sekretärin vorzustellen. Das ist Miggi. Sie ist Winnts Tochter und die Schwester des Fahnenträgers, der auf Befehl eures Abgeordneten während eines Gefangenenaustausches getötet wurde. Da machst du ein langes Gesicht. Nun, jede Tat hat ihren Preis, das mußt du einsehen.«
»Ahroe«, murmelte Miggi.
Die Leiterin der Pelbar-Garde grinste für einen Moment wie ein junges Mädchen, dann schob sich ih-re ernste Miene wieder wie eine Wolke über die Belustigung. »Repräsentant. Wenn meine Assistentin jedem von uns von allem, was hier gesprochen wurde, eine Abschrift macht, wirst du dann alle Abschriften unterzeichnen – vorbehaltlich deiner Zustimmung, daß der Inhalt zutreffend wiedergegeben ist?«
»Natürlich nicht. Ich werde nichts unterzeichnen.«
Ahroe schürzte die Lippen. »Wirst du dann deiner Legislative eine nicht unterzeichnete Abschrift überbringen?«
»Ich sehe keine Notwendigkeit dafür. Ich kann doch berichten, was geschehen ist.«
»Deine Version davon. Leutnant Oberly, wenn ich dich von deinen sonstigen Beschäftigungen losreißen darf ...«
»Ahroe«, murmelte Miggi.
»Ja, Miggi. Leutnant, ich mache es zur Bedingung für deine Freilassung, daß du dich bereiterklärst, eine Abschrift an die gesetzgebende Versammlung zu überbringen. Bist du damit einverstanden?«
»Aber wir haben ein Abkommen, in dem diese Bedingung nicht enthalten ist«, widersprach Oberly.
»Natürlich. Aber dieses Abkommen hat Borund hier nicht anerkannt. Das bedeutet natürlich, daß wir die Bedingungen stellen können, die wir wollen, nicht wahr?«
Oberly senkte den Blick, dann schaute er Peydan an, der fast unmerklich nickte. »Gut, ich bin damit einverstanden«, sagte er.
»Ich lasse dieses Abkommen aufsetzen, und wir werden es beide unterzeichnen – zwei Abschriften.
Und du wirst dafür sorgen, daß dieser scheinheilige Geier dich nicht daran hindert?«
»Ich kann wenig oder gar nichts tun ...« Oberly zö-
gerte. »Ja, ich werde tun, was ich kann, natürlich sofern ich nicht verhaftet werde.«
»Was wegen deiner verräterischen Tat selbstverständlich geschehen wird«, sagte Borund.
»Ohne die wir alle tot wären«, fügte Peydan hinzu.
»Er wird die Botschaft überbringen, ohne daß du ihn daran hinderst, Repräsentant, und wenn ich die ganze bewaffnete Truppe aufbieten müßte, um das durchzusetzen. Wir wollen lebend hier rauskommen, und diese Möglichkeit wird durch dich gefährdet.«
Borund starrte ihn an.
Ahroe lächelte. »Du denkst jetzt, Repräsentant, du kannst hier allem zustimmen, und tun was du willst, wenn du nach Hause kommst? Nun, dagegen können wir natürlich nicht viel unternehmen, aber etwas doch. Wir haben vor, allen deinen Soldaten vollständig mitzuteilen, was hier geschehen ist. Nein, kein Widerspruch! Ich weiß, daß sie loyal sind. Und völlig vertrauenswürdig. Und sie haben keine Familien.
Und sie sind taubstumm. Und in Innanigan gibt es nur eine politische Partei, und alle sind so aufsässig wie du. Richtig?« Sie lachte mit glockenheller Stimme.
»Vielleicht«, fügte sie hinzu, »können wir miteinander Tee trinken, selbst wenn wir uns nicht sofort einigen können. Nein, Miggi, geh noch nicht! Du hast Zeit genug, die Abschriften zu machen. Tee wird dir guttun.«
»Ahroe«, murmelte Miggi.