DREIUNDZWANZIG
Während Tor und Tristal gleichmäßig zwischen den nebelverhangenen, mit Nadelgehölz bedeckten Inseln dahinruderten, erschienen allmählich Schwärme von Möwen und verschwanden wieder in den Nebel-schwaden. Seehunde, wie sie die Bootsbauer beschrieben hatten, tauchten aus dem windbewegten Wasser auf und ließen sich wieder hineinsinken. Tristal hörte auf zu rudern, steckte seine Finger ins Wasser und leckte daran. »Es ist salzig, Tor!« rief er und verzog das Gesicht.
»Dann haben wir also das Westliche Meer erreicht – wo Stel vor so vielen Jahren hinwollte.«
»Und was haben wir davon? Sieh dir nur all die Narben an, die du dir geholt hast. Hier gibt es nichts Besonderes. Es ist neu, das gebe ich zu, aber ...«
Wie als Antwort auf seine Bemerkung bewegte sich das Wasser westlich vom Boot und floß seitlich ab, als sich ein erstaunlicher, schwarzer Koloß aus dem Meer erhob und nach vorne rollte. Eine höckrige Gestalt glitt ins Wasser, nur um weiter entfernt wieder auf-zutauchen. Gischt aus einer Stelle hinter dem Kopf zu speien, wieder unter Wasser zu rollen und von neuem hochzukommen, sich weit aus dem Wasser zu heben, mit einem erstaunlich breiten Schwanz zu schlagen und wieder unter die Oberfläche zu gleiten.
Die beiden Shumai hielten ihre Ruder ehrfürchtig und ungläubig erhoben. Weiter entfernt erschien die Gestalt noch einmal, spie wieder Gischt, rollte hinab, und das Meer faltete sich zusammen, als der hohe Rücken des Geschöpfes versank.
Tor begann hastig in die Richtung zu rudern, in der das Tier versunken war, aber es erschien nicht wieder.
»Und wenn es feindselig ist?« rief Tristal.
»Ich glaube, es ist das, was Nuchatt einen Wal genannt hat – irgendeine Art davon«, sagte Tor. »Die größten Tiere, die es gibt.«
»Schau, noch einer!«
Wieder erhob sich eine Gestalt aus dem Wasser, rollte zurück, stieg wieder auf, schoß mit der ganzen Vorderseite zur Hälfte aus dem Wasser, schüttelte und drehte lange Flossen und ließ sich mit einem lauten Platschen aufs Wasser zurückfallen. Dann erhoben sich dahinter zwei weitere und verschwanden wieder.
Tor schwieg lange, ohne den Blick von der Stelle zu wenden.
»Ist diese Insel gut genug?« fragte Tristal und riß ihn damit aus seinem Tagtraum. »Zum Essen? Als Lager?«
»Ach. Das ist gleich. Wir haben Wasser.«
»Wir müssen uns nach Süden wenden, um weit über das Eis hinauszukommen.«
»Ja.«
Es war eine ziemlich große Insel, und während Tristal Fische briet, wanderte Tor das Eiland ab, kehrte zu-rück und sagte, sie hätte eine eigene, kleine Quelle.
Tristal schaute auf, die Augen vom Rauch gerötet.
»Ein öder Ort ist das, nichts als Fels und Bäume und dieser endlose Nebel. Ich bin froh, wenn wir wieder auf den Ebenen im Shumaigebiet sind.«
»Ein weiter Weg.«
»Wenn wir auf dem Rückweg auf so viele Probleme treffen wie bisher, dann bin ich ein alter Mann, ehe ich zurückkomme. Fahna wird schon Enkelkinder haben.«
»Fahna? Ich dachte, du hättest sie längst vergessen.«
»Sie vergessen? Warum? Wegen Elayna?« Er schwieg lange, während er die aufgespießten Fische umdrehte, damit sie auch auf der anderen Seite gebraten wurden. »Was glaubst du, wie das für mich war? Ich bin kein steriler, alter Mann wie du. Wenn ich für Fahna etwas taugen soll, kann ich nicht ...«
»Rein sein? Keusch?«
»Trocken. Verschrumpelt. Ach was, ich bin einfach nicht geschaffen für diesen Heroismus, für diese Leere. Man kann einen Menschen nur bis zu einem bestimmten Punkt treiben. Über das ganze Eis vor diesen Geistesräubern zu fliehen. Über dem Tod zu hängen, nur von einem Seil in der Hand eines einarmigen Mannes gehalten. In einem Tal voller selbstgefälliger Bauern und Schafhirten, beherrscht von reichen Familien und ungerechten Richtern eingezwängt zu sein. Manches Holz taugt einfach nicht zum Axtgriff.
Man könnte daraus einen guten Schrank oder einen Pfeiler in einem Haus machen. Aber durch dieses ständige Schlagen, Schlagen, Schlagen zersplittert es nur.«
»Meinst du jetzt dich selbst? Du unterschätzt dich.«
»Ich kenne mich. Das sagst du immer wieder, und dann schleppst du mich über das Eis und noch weiter, nur um zu beweisen, daß du recht hast.«
»Nein. Es ist richtig daß du nach Hause gehst. Was wirst du zu Fahna sagen?«
Tristal überlegte. »Nichts. Das wirst du wohl tun.«
»Nein. Nicht meine Sache.«
»Sehr komisch. Du bist kein Führer, Tor. Du bist ein Wahnsinniger.«
»Sie wird es wissen.«
»Fahna? Was? Was wird sie wissen?«
»Du wirst sie so halten wie jemand, der schon einmal eine Frau gehalten hat.«
»Sie wird es nicht wissen, es sei denn, es hat sie schon jemand gehalten, der es noch nie getan hat.
Und dann ist es nicht mehr wichtig.«
»Soviel Zeit und Mühe, und trotzdem verstehst du noch immer so wenig, was wissen heißt. Nun, das ist jetzt egal. Manche Hoffnungen erfüllen sich eben nicht. Das bedeutet nicht immer einen Fehlschlag.
Nur eine andere Richtung.«
»Noch mehr Rätsel. Noch mehr trockene Philosophie. Ich habe es satt, Tor. Ich würde am liebsten kein Wort mehr davon hören. Niemals mehr. Du bist nicht das, was ich mir unter Erfolg vorstelle. Jede Vorstellung, die du für mich hast, würde von Blut triefen, und am meisten von meinem eigenen.«
»Vielleicht hast du recht. Aber du solltest doch an-erkennen, was wir getan haben. Wir haben eine Tyrannei zerschlagen. Wir haben einige Menschen von der Herrschaft der Geistesräuber befreit. Wir haben das Eis überquert, wo es noch nie jemandem gelungen ist. Wir waren die ersten Besucher im Eistal, abgesehen von den Kindsräubern – und wir haben die Menschen im Tal verändert. Sie werden sich jetzt besser verteidigen. Vielleicht kommen sie auch heraus.
Wir waren die ersten Außenseiter, die diese Leute hier seit uralten Zeiten gesehen haben. Nuchatt hat es mir gesagt. All das ist keine Zeitverschwendung.«
»Außer, man würde lieber etwas anderes tun. Mir sind all diese Jahre wie trockene Blätter unter den Händen zerfallen. Ich fühle mich halb verbraucht – für nichts.«
Tor erwiderte nichts darauf, sondern suchte die See nach weiteren Walen ab. Die beiden aßen schweigend, bereiteten sich schweigend zum Schlafengehen vor. Schließlich sagte Tor: »Bete mit mir, Tristal. Nur dieses eine Mal.«
»Was soll ich beten? Gebete des Eistals?«
»Nein. Das sind keine Gebete. Nur Auswendigge-lerntes, Aufgesagtes. Laß dir von den Gesängen der Dinge erzählen, daß du eins bist mit ihnen, und spüre die komplexen Harmonien – wie im Chorgesang der Pelbar. Spüre den Rhythmus, den Herzschlag, der allem unterlegt ist. Er ist vollkommen, Tris. Selbst wenn die Oberfläche der Dinge abirrt, gibt es darunter eine Vollkommenheit, die nur unvollkommen wahrgenommen wird. Sie tut sich kund, äußert ihre Güte trotz Hunger, Diebstahl, Gefangenschaft. Das sind nur Verletzungen des Gesangs, falsches Hören.
Die böse Stille der Leere, der Taubheit.«
»Nichts von alledem hat eine Bedeutung für mich, Tor.«
»Denk darüber nach! Versprich mir, daß du dar-
über nachdenken wirst!«
»Warum? Warum sollte ich das versprechen?«
»Warum? Ich habe keinen besonderen Grund. Ich bin dein Onkel. Ich liebe dich und habe mich um dich bemüht, auch wenn ich so sonderbar bin. Aber ich sehe jetzt alles viel deutlicher. Selbst dafür hat sich all unsere Mühe gelohnt.«
»Was siehst du? Was könnte all die Mühen wert sein, die wir hinter uns haben?«
»Das, was ich eben sagte. Der Rhythmus, der Herzschlag, der unter allem liegt. Er ist vollkommen. Er ist wirklich vollkommen. Alle Religionen des Heart-Flusses sehen das. Nun, sie sehen einen Schimmer davon. Dann sagen sie sich, das ist alles sehr schön, aber davon wird kein Tuch gewebt und kein Wildrind gejagt. Und sie fangen an, dem auszuweichen, schieben den Kern ihrer Wahrnehmung Avens in die kleine Innentasche ihres Wintermantels und fangen an, Verbindungen herzustellen, Verbindungen zu ihrem eigenen Leben.«
»Was ist dagegen einzuwenden?«
»Nichts – solange sie nicht vergessen, daß es der Kern ist – die absolute Vollkommenheit, die sie sehen, und daß er die Wirklichkeit von allem sein muß, auch wenn wir es vielleicht nicht sehen. Die Geistlichen Avens haben das erkannt. Sicher gründen auch die intuitiven Vorstellungen über Sertine darauf. Sogar der Atou der Sentani schließt das im Innersten ein, obwohl sie kein sehr religiöses Volk sind. Ich kann mir denken, daß das eine der ältesten Tatsachen über die Menschen ist – daß sie Erfahrung, wie wir sie sehen, nicht als wirklich endgültig akzeptieren. Aber fast niemand nimmt das wörtlich. Nuchatt hat es getan. Ich habe es gesehen. Er hat es getan.«
»Woher weißt du das?«
»Weil wir eine enge Beziehung hatten. Wenn Nuchatt nicht gewesen wäre, hätte man uns vielleicht getötet. Er kam zu uns, als wir am Feuer saßen. Er ist fähig, die Vorstellung von der inneren Vollkommenheit aller Dinge wörtlich zu akzeptieren. Ich glaube allmählich, daß alle Forscher, alle Erfinder, sogar alle Planer davon eine Ahnung haben. Und das muß bedeuten, daß alle Dinge untereinander zu einem verbunden sind, denn das ist die einzige Möglichkeit, wie sie vollkommen sein können, so wie jede einzelne Zahl in einer komplizierten Rechnung sich in die vollkommene Lösung der Aufgabe einfügt. Sie ver-schwindet nicht, sondern gehört zum Ganzen. So wie in den Harmonien der Pelbar jede Note dazugehört.
Man kann die Note noch hören, aber sie ist auch Teil des Akkords.«
»Du sprichst von einem Akkord, der viel zu kompliziert ist, als daß man ihn hören oder singen könn-te.«
»Für uns vielleicht. Für uns. Aber da ist immer noch Aven. Wir schauen über dieses neblige Meer dahin, wo der Sonnenschein die Tannen trifft, und wir sagen, das ist schön. Manche sagen, das, was wir sehen, ist nur vorhanden, und wir selbst steuern die Vorstellung des Schönen bei. Ich glaube, daß das, was das Auge und den Geist dazu befähigte, darin Schönheit zu sehen, auch die Schönheit bereitstellte, die wir sehen. Was wir sehen, ist eine Gemeinschaft von Bäumen in der Ruhe der Tätigkeit, sie wachsen, halten die Nebeltröpfchen fest, die durch ihre Nadeln geweht werden, schwanken im Wind, alles ist unermeßlich komplex, aber ganz einfach, wenn man es als Einheit sieht. Ach, da ist einer.«
»Ein was? Ach so. Wieder ein Wal.«
»Drei. Nein. Vier.«
Tristal verstummte wieder und fragte sich, ob es die Stille der Leere war, von der Tor sprach. Nun, wen kümmerte es? Ihn nicht. Er war so weit von zu Hause weg, daß sein ganzes Herz aufschrie, wenn er daran dachte.
»Tor, ich kann dich nicht verstehen. Vielleicht ist das alles so. Vielleicht bist du auch überlegen. Aber ...
ich kann nicht einfach auf Dinge wie Familie oder die Liebe einer Frau verzichten. Ich bin nicht steril.«
»Ich kann nicht verstehen, warum mich die Leute ständig steril nennen. Nun, vielleicht kann ich es doch. Es ist nicht so. Aber alles findet seine eigene Form, sogar die Liebe. Besonders die Liebe. Nach dem, was meine Mutter getan hat, kann ich ... – ich bringe es nicht über mich, mich von einer Frau ab-hängig zu machen. Es ist eine teilweise Abhängigkeit, eine Abhängigkeit von einem Individuum. Ihr fehlt die innere Vollkommenheit, weil sie sie ignoriert.«
»Deine Mutter? Ich dachte, sie sei gestorben?«
»Nein. Aber das ist egal. Sie hat getan, was sie als ...
richtig empfand. Aber die Folge davon war, daß ich einen großen Teil meiner Kindheit als Sklave bei den Alats verbringen mußte. Das war hart genug. Und dann ...«
»Was dann?«
»Schau! Schau dir doch meinen rechten Arm an!
Das hat Ruthan getan. Die sanfte Ruthan.«
»Das hätte jederzeit geschehen können, bei dem Leben, das du führst.«
»Es ist aber nicht geschehen. Und Eolyn. Die rei-zende Eolyn. Sie hätte mich getötet.«
»Bei Aven, Tor. Du willst doch nicht sagen, daß du dich in Eolyn verliebt hast?«
»Verliebt? Nennt man das so? Ich weiß es nicht. Ih-re Denkweise ist der meinen so entgegengesetzt, daß ... es schwer für mich ist, es mir vorzustellen. Das ar-me Ding. In einer unterirdischen Kuppel aufgewachsen.* Mein Herz sprang ihr entgegen. Zuck nicht zusammen. Es ist wahr. Sie ist dadurch verbogen, obwohl sie so schön ist. Ich hätte ...«
»Was hättest du? Sie hält dich für einen Wilden.«
»Ich weiß. Ich weiß. Armer Dailith. Sie wird ihn auffressen – ohne zu wissen, was sie tut. Ich hätte ihr so leicht geben können, was ihr fehlte, es ... hat mich einfach darin bestärkt, meine Bestimmung zu erkennen. Weißt du, ich bin zufrieden damit.«
»Deine Bestimmung! Aber nicht die meine.«
»Nein. Meine Bestimmung. Deine Erziehung.
Schließlich sollte etwas mit dir geschehen, ehe du in das gesetzte, mittlere Alter kommst.«
»Aber das! Das alles! Wir sind am anderen Ende von ganz Urstadge. Du bist unerträglich. Ich kann das nicht glauben.«
»Das ist ja so sonderbar daran. Wir sind am anderen Ende von ganz Urstadge, nur um zu entdecken, daß es gar kein Ende ist. Es ist der Anfang von etwas anderem – oder von wieder dem gleichen. Der Name ist willkürlich.«
Tristal schaute ihn gequält und ungläubig an und weigerte sich, noch etwas zu sagen.
Als es dämmerte, erwachte er und hörte Tor sagen: »Da ist einer. Noch einer. Schau! Ganz nahe!« Er rannte davon. Tristal hörte das Boot auf den Steinen knirschen, als er es abstieß und sein Bündel hineinwarf. Er sah Tor nach, wie der schnell geradewegs auf
* Siehe »Die Kuppel im Walde«, dritter Roman des Pelbar-Zyklus, HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY, Band 06/4153.
den nächsten Wal zuruderte, einen großen, bei dem die Barten zu sehen waren, als er aus dem Wasser heraufrollte. Einen Augenblick lang schien Tor direkt auf ihm zu sein, er stieß einen wilden Shumai-Schrei aus, als der Schwanz hochging, genau über ihm zu hängen schien und dann nach unten glitt, als er die Hand ausstreckte, um ihn zu berühren. Dann verblaßte die ganze Szene zu treibendem Nebel.
Tristal rief nach Tor, wartete auf eine Antwort, die nicht kam. Er rief wieder, stand lange Zeit am Ufer.
Endlich drehte er sich um, stieg wieder auf den Felsen und sah erst jetzt sein eigenes Bündel und, daraus hervorragend, den Griff von Tors Axt.
Einen Augenblick lang war er verwirrt. Er nahm die Axt in die Hand. Die Scheide war dabei, poliert und bearbeitet. Warum hatte Tor sie zurückgelassen?
In seinem Bündel? Dann begriff Tristal – Tor war oh-ne ihn weggefahren, hatte ihn verlassen. Auf einer Insel. Er sollte alleine nach Hause zurückkehren. Tor wollte weiter. Tristal schlug im Zorn mit der Faust auf den Felsen, dann nahm er die Axt und schleuderte sie weit hinaus in die Luft, begriff aber, noch ehe sie wieder herunterkam, daß er sie brauchen würde, um sich ein Boot zu bauen und rannte los, um zu sehen, wo sie hinfiel. Er sah sie ins dunkle Wasser stürzen.
Einen großen Teil des Tages verbrachte er damit, nach ihr zu tauchen, endlich erwischte er die Scheide mit einem Haken. Vor Kälte zitternd brachte er sie hinauf an das große Feuer, das er angezündet hatte.
Er trocknete sich und die Axt in der Wärme, dann legte er sich erschöpft und verzweifelt nieder. Das war es also. Seine Erziehung. ›Geh nach Hause, Tristal. Ich habe dich herausgeführt. Jetzt finde allein nach Hause. Dann bist du würdig für etwas, das du, wie ich glaube, wissen müßtest, auch wenn du es noch so wenig spürst.‹
Nun, da war nichts zu machen. Er mußte es tun. Er ging daran, sich nach einer Zeder umzusehen, um sie zu einem Boot zu behauen.