SIEBZEHN
Gleich nach Mittsommer, an einem überraschend schwülen Tag erschien Tor auf dem Pachthof der Johnstons nahe am westlichen Rand des Zweitsektors. Mutter Johnston stand vom Erbsenpalen auf, um ihn zu begrüßen.
»Du, Tor. Alles in Ordnung? Keine Jungs, denen man Schwimmunterricht geben kann?«
»Ich dachte, ich könnte euch beim Heuen helfen.
Ich glaube, es wird noch vor Abend regnen.«
»Regnen, wie? Stan hat kein Wort davon gesagt.
Aber es geht nicht. Kann dir nichts bezahlen.«
»Macht nichts. Habe Zeit. Genug Zeit.«
»Dann bist du kein Farmer. Du findest sie alle auf der Wiese. Gabeln sind in der Scheune. Sie können sicher noch eine zusätzliche Hand brauchen. Du machst dir doch keine Sorgen? Wegen eines Überfalls, meine ich.«
»Doch. Aber nicht am Tag. Und ich bin an der ge-samten Eiswand des Zweitsektors entlanggegangen.
Nichts als die üblichen Spuren von Pärchen.«
Freifrau Johnston sah ihm nach, wie er auf die Scheune zuschritt, ohne zu hinken jetzt. Sie lächelte ein wenig. Sie mochte ihn. Das Tal hatte zu wenig Exzentriker. Er war eine Gestalt aus der Legende, am falschen Platz.
Im Verlauf des Nachmittags arbeitete Tor mit den übrigen, die Gabel in eine Lederschlinge um seinen rechten Unterarm gesteckt. Aber er wurde zuneh-mend unruhiger. Schließlich hörte er auf und schaute über den breiten Waldstreifen, der anstieg, sich senkte und sich dann weit hinauf zur Eiswand erstreckte. Etwas stimmte nicht. Die anderen Männer gingen die Heureihen entlang und schauten zu ihm zurück. Er bewegte sich überhaupt nicht. Bildete er sich etwas ein? Er erwachte aus seinem Tagtraum und arbeitete schweigend weiter bis zur Abendessen-spause.
Wie er prophezeit hatte, türmten sich Gewitterwol-ken auf und regneten in weiter Ferne an der West-wand des Eises ab. Sie waren so dick, daß die hohen Wolkentürme begannen, sich über den Wald und die westlichen Farmen auszubreiten.
Tor setzte sich nicht an den im Freien aufgestellten Tisch, sondern aß im Stehen einen Gerstenkuchen.
»Ich wäre dankbar, wenn du uns heute abend noch hilfst, solange es hell ist und der Regen noch ausbleibt«, sagte Stanley Johnston.
»Etwas stimmt nicht.«
Johnston schaute Tor an. »Das ist eine fixe Idee von dir, Tor. Nichts als eine fixe Idee.«
»Nein. Hier habe ich das noch nie gespürt. Es wundert mich, daß du es nicht merkst, nachdem du ein Kind an sie verloren hast. Auch wenn es so lange her ist. Ich weiß es immer. Das ist mein Beruf. Ich wünschte, ich könnte dir hier helfen. Aber das ist wichtiger. Hör zu! Ich weiß, ihr werdet müde sein; stellt trotzdem eine Wache auf, wie ich es euch gesagt habe – vor Jahren schon! Wahrscheinlich wird nichts passieren. Noch nicht.«
Johnston schnaubte. »Wir müssen das Essen run-terschlingen und vor dem Regen mit dem Heu weitermachen. Na ja, jedenfalls vielen Dank für deine Hilfe!«
Tor war schon unterwegs. Er winkte als Antwort mit der Hand. Als er bis zur Eiswand hinaufgestiegen war, strömte der Regen herab und rann in schmalen Wasserfällen vom Eis herunter. Tor fand einen seiner kleinen Schutzplätze unter einer Fichte und setzte sich. Als der Regen nachließ, wurde es allmählich dunkel. Tor bewegte sich lautlos einen schmalen Pfad entlang, der zur Holzfällerhütte führte. Etwas war anders. Er konnte es spüren. Der Waldboden war nicht mehr so bröckelig durch den Regen, der immer noch von den Bäumen tropfte und in der Dunkelheit die Abhänge herunterrauschte.
Die Dunkelheit wurde fast undurchdringlich, ehe Tor das erste Geräusch hörte, ganz leise, aber nicht hierher gehörend. Er zog seine Axt aus der Scheide.
Ein zweites Geräusch folgte, weiter entfernt. Tor schlich langsam vorwärts, duckte sich, blieb stehen.
Er hörte nichts, spürte aber, daß jemand da war.
Er behielt seine Stellung absolut lautlos wenigstens zwanzig Sonnenbreiten lang bei. Der andere bewegte sich nicht. Die Wolken lichteten sich, ein perlenwei-
ßer Mondschein begann sie zu durchfluten und tauchte den Wald in geisterhafte Helligkeit. Tor hockte immer noch entspannt und reglos da.
Die Zeit verging die Nacht erreichte ihren Höhe-punkt und begann ihren langen Abstieg auf den Morgen zu. Von weit unten hörte Tor wieder ein ge-dämpftes Geräusch, dann, etwas näher, ein zweites, schwach aber bedeutsam.
Plötzlich vernahm er ein leises Rascheln, dann ein Schwirren, ein Pfeil sauste durch die Dunkelheit, wurde von einem unsichtbaren Zweig abgelenkt und durchbohrte seinen rechten Arm. Im gleichen Augenblick erhob er sich, rannte auf das Geräusch zu, wich aus, schwang seine Axt, spürte, wie sie in Fleisch biß, hörte einen gellenden Schrei, wieder ein Rauschen, drehte sich um, schwang erneut die Axt, spürte wieder, wie sie tief eindrang, noch etwas rauschte, er drehte sich um, richtete die Axt nach vorne, um dem Angriff zu begegnen und ihn abzulenken, dann hastete er hinter eine Tanne, in die ein Pfeil hineinfuhr.
Er kam wieder hervor und erwischte die schwach sichtbare Gestalt, wie sie einen neuen Pfeil auflegte.
Er schlug mit aller Kraft nach unten, fühlte, wie die Axt den Schädel traf, und wie der nachgab. Eine der Gestalten wand sich noch immer auf dem Boden.
Tor lief etwa zwanzig Armlängen weit, kniete sich schwer atmend hinter einen Baum und fand endlich Zeit, sich mit dem Pfeil in seinem Arm zu beschäftigen. Die Wunde war nicht schlimm, obwohl sie schmerzhafte Nadelstiche ausschickte. Er bemühte sich, kein Geräusch zu machen, denn er wußte, wer immer da unten war, mußte den Kampf gehört haben. Tor schnitt den Pfeilschaft ab, zog ihn heraus und verband die Wunde, wobei ihm vor Schmerz die Tränen aus den Augen liefen. Dann hielt er sich wieder still. Von oben war schwach zu hören, wie jemand stöhnte und um sich schlug. Einer der Angreifer war noch bei Bewußtsein. Ein weiteres, leises Ge-räusch, erschreckend nahe, bewog Tor, seinen Blick zu wenden, aber nicht seinen Körper. Er strengte seine Augen an, um etwas zu sehen. Von den Bäumen tropfte es noch immer. Er erkannte undeutlich eine einzelne Gestalt, die sich sehr langsam vor ihm den Hang heraufschob. War das ein Trick? Die Gestalt schien ihn nicht zu sehen, nicht einmal zu spüren. Einen Augenblick war sie in sicherer Nähe, und Tor nützte ihn, überwand den Abstand in zwei Sätzen und versetzte der Gestalt mit der flachen Seite der Axt einen raschen Schlag seitlich auf den Kopf. Die Gestalt sackte ächzend zusammen. Tor kniete neben dem Mann nieder, suchte seinen Gürtel, hieb ihn mit der Axt durch und band dem Mann die Hände hinter den Rücken. Er war völlig schlaff. Tor betastete seinen Kopf und spürte, daß er voller Blut war. Dann kehrte er zu seinem Baum zurück und lauschte noch einmal zehn Sonnenbreiten lang. Von den Bäumen tropfte es unablässig. In Tors rechtem Arm tobte ein dumpfer Schmerz, als läge er auf einem Ast. Dann trat Tor heraus, hob den Mann auf, den er gefesselt hatte, hievte ihn sich auf die Schulter und machte sich auf den Weg den Hang hinunter, langsam und so leise, wie er nur konnte. Die Gestalt war ziemlich leicht, aber gelenkig und gut gebaut.
Stanley Johnston fühlte sich noch wie zerschlagen, weil er bis tief in die Nacht hinein gearbeitet hatte, aber er stand auf, als es dämmerte, ging in den Hof und streckte sich. Was kam denn da? Schon wieder Tor? Er schleppte auf zwei Stangen etwas hinter sich her? Einen Mann! Johnston rannte zum Mannschafts-haus und schrie durch die Tür: »Hallo. Alle raus jetzt!
Schnell!«
Sie kamen herausgerannt, zum Teil nur halb ange-kleidet. Tor senkte seine Schlepptrage und blieb stehen, die Augen verschleiert vor Erschöpfung, leicht keuchend.
Die Männer drängten sich um ihn und schauten hinunter auf einen jungen Mann in schwarzer Lederkleidung, mit geschwärztem Gesicht, das Haar so lang, daß er es in einem fettigen Schwanz zusammengefaßt hatte. Seine Wangen zeigten auf jeder Seite drei parallele Narben. Die linke Seite seines Gesichts, wo Tor ihn geschlagen hatte, war geschwollen. Er war jetzt wach und blinzelte ängstlich.
Tor setzte sich plötzlich. »Da oben sind noch drei.
Mindestens. Und alle drei sind mindestens verletzt.
Wahrscheinlich sind zwei davon tot.«
»Du, Tor. Bist du in Ordnung? Laß mal den Arm sehen! Man möchte meinen, er hätte schon genug aushalten müssen.« Stan Johnston schaute sich die Wunde an, runzelte die Stirn, blickte auf den Fremden und sagte: »Geh mal lieber rein und laß die Wunde von Mag nochmal auswaschen! Um den hier kümmern wir uns.«
Wie der Blitz war Tor wieder auf den Beinen.
»Was? Wie meinst du das, ihr kümmert euch um ihn?
Er kommt zum Sheriff!«
»Jetzt hör mal zu! Ich habe vor Jahren meinen Jungen an die verloren. Sie haben meinen Onkel getötet, seine Farm niedergebrannt. Für solche Männer gibt es nur einen Platz. Überlaß ihn mir! Wir haben dir deinen Willen gelassen, und vielleicht warst du auch ei-ne Hilfe. Aber jetzt geh zur Seite!« Johnston griff nach Tor und – fand sich hochgehoben, umgedreht und zu Boden geworfen.
»Na gut, ihr Männer, ihr tretet jetzt zurück«, sagte Tor mit tiefer, ruhiger Stimme. »Was nützt er euch, wenn er tot ist? Dann erfahrt ihr nie etwas von ihm.
Mit Toten kann man keine Verbindung aufnehmen oder zu Vereinbarungen kommen.«
»Du, Tor«, sagte Jase Smythe. »Jetzt gehst du zu weit! Es steht dir nicht zu, Johnston zu verletzen. Und jetzt übergib ihn uns, ehe noch jemand zu Schaden kommt!« Er schaute hin, drehte sich um und schwang blitzschnell eine Latte, alles in einer Bewegung, dann spürte er, wie ihm die Latte aus der Hand geschlagen wurde. Er schaute auf Tors aus der Scheide gezogene Axt und wich ein paar Schritte zurück.
»Wenn einer von euch auch nur einen Fetzen An-stand oder Achtung vor dem Gesetz hat, dann läuft er jetzt und holt den Sheriff oder seine Männer. Sofort!«
»Du machst dich lächerlich. Alter! Wir brauchen doch nur ins Haus zurückzugehen und einen von den Bogen zu holen, mit denen du uns das Schießen beigebracht hast. Was nützt dir dann das Spielzeug, das du da in der Hand hast?«
»Du, Smythe? Hast du jemals einen Menschen ge-tötet?«
Der große Mann zögerte. »Einmal ist immer das erstemal«, sagte er dann.
»Ich habe gerade drei getötet. Mit diesem Spielzeug. Zwei von ihnen hatten Bogen. Und jetzt holt den Sheriff!«
Die Männer sahen sich an, die meisten verspürten weder Johnstons Wut noch Smythes Draufgänger-tum. Aber keiner bewegte sich.
»Na gut«, sagte Tor. »Wie ihr wollt. Dann bringe ich ihn eben selbst hin. Aber ihr braucht nie mehr zu sagen, daß ihr anständige Leute seid.« Er hob die Deichsel am Ende seiner Schlepptrage auf und wollte um sie herumgehen. Zwei Männer traten auf ihn zu.
Er ließ die Last plötzlich fallen, was den Mann darin aufschreien ließ, und stellte sich ihnen entgegen.
Aus einiger Entfernung konnte er sehen, daß Mutter Johnston herbeigelaufen kam und sich dabei die Hände an der Schürze abwischte. Ihr Zorn und ihre Erschütterung waren nicht zu übersehen. »Du, Tor.
Du hast einen erwischt. Gib ihn uns! Gib ihn heraus!«
Sie rannte auf ihn los und wollte ihn zur Seite stoßen.
Er wehrte sie mit steifem Arm von sich ab, und sie setzte sich mit einem Plumps hin. »Laßt ihr euch das gefallen? Von dem da?« kreischte sie. »Von einem nichtsnutzigen Wilden?«
Sie begannen ihm auf den Leib zu rücken. »Wir reden über das Leben eines Menschen!« rief Tor. »Und wenn es auf euch angekommen wäre, wären sie alle hier unten gewesen.« Aus dem Augenwinkel heraus sah er, wie aus den nahegelegenen Feldern Neugierige auf sie zukamen, einige im Laufschritt. Das sah übel aus. Dann erblickte er Bob, der mit großen Schritten die Erdstraße herunterkam, und verspürte eine Welle der Erleichterung.
»Schon gut«, sagte er. »Ihr braucht euch nicht mehr wegen des Wilden aufzuregen. Hier ist der Mann des Sheriffs.« Sie wichen zurück wie eine auslaufende Welle.
Bob trat heran und ließ seinen Blick über die Menge schweifen. »Will irgend jemand hier Schwierigkeiten machen? Was ist, Tor? Hast du endlich einen von diesen Kerlen? Hier, Johnston, Smythe, nehmt die Enden dieser Bahre und tragt ihn in die Stadt.
Tor, bei dir alles in Ordnung? Kommst du noch bis zum Sheriff?«
»Schick lieber einen Trupp hinauf, damit sie nach den anderen sehen«, sagte Tor. »Ich werde ihnen sagen, wie sie hinkommen. Sie sollten lieber bewaffnet sein.«
Es wurde später Nachmittag, ehe Tor sich ausruhen konnte. Sein Arm wurde wieder verbunden, und man nahm einen Bericht der Ereignisse auf. Es wurde ge-meldet, daß der Trupp, der zur Eiswand hinaufgestiegen war, die Stelle gefunden hatte, wo sich der Kampf abgespielt hatte, und eine Menge Blut, aber keine Leichen. Sie fanden auch einen Pfeil in einem Baum. Spuren führten zu einer Spalte in der Eiswand und verschwanden dann.
Als Fenbaker früh am Abend vorbeikam, um nach den Gefangenen und nach Tor zu sehen, fand er sie beide in getrennten Zellen schlafend. Die Tür zu Tors Zelle stand offen. Fenbaker ging hinein und setzte sich auf den geradlehnigen Holzstuhl neben dem Bett. Sofort öffnete Tor die Augen. »Na, nun hast du ja deinen Vogel.«
»Das ist erst der Anfang, Richter. Wir müssen mit ihm sprechen, soviel über sie herausfinden, wie wir nur können, sehen, ob es möglich ist, irgendeine Vereinbarung mit ihnen zu treffen. Wir müssen für den Rest der Saison eine Wache aufstellen. Du siehst – hoffentlich –, daß sie nur auf Kundschaft waren. Irgendwo wartet sicher eine große Bande. Vielleicht schreckt sie das ab. Wenn sie hierherkommen, um Menschen zu holen, wollen sie ja nicht die verlieren, die sie haben. Vielleicht geben sie es im Augenblick auf, nachdem jetzt die Überraschung geplatzt ist.
Aber es ist schwer zu sagen, was geschehen wird. Ich wäre ihnen zu gerne gefolgt.«
»Gefolgt?«
»Sie sind auf das Eis hinaufgekommen.« Tor lachte, dann setzte er sich auf.
»Ja, das ist wahr. Hast du schon gegessen?«
»Ja. Jetzt möchte ich, glaube ich, eine Flasche Gerstensaft.«
»Ich wußte gar nicht, daß du trinkst.«
»Habe ich hier auch noch nie getan. Wie Smythe heute morgen sagte, als er überlegte, ob er mich töten sollte: ›Einmal ist immer das erstemal.‹«
»Smythe? Der Farmarbeiter?«
»Ja. Aber das war nicht so schlimm. Mutter Johnston hätte dann beinahe das Blut zum Fließen gebracht. Ich mußte sie auf ihr Hinterteil setzen. Auch etwas, was ich zum erstenmal gemacht habe. Das hat immer in ihr geschwelt, seit sie ihren Sohn geholt haben – Billy hieß er, glaube ich. Ungewöhnlich, daß nach so langer Zeit noch ein solcher Zorn aufflammt und brennt.«
»Nein. Nicht ungewöhnlich. Als Richter bekommt man das ständig zu sehen. Aber nicht bei den besten Menschen. Es ist eine Art von Lähmung, eine Erstar-rung in der Zeit.«
Tor betrachtete ihn sanft. »Das ganze Tal ist in der Zeit erstarrt, Richter. Das ganze Tal.«