ZWANZIG

Es dauerte lange, bis Tor sich erholte, zuerst im Landhaus der Blakes, dann eine Zeitlang bei Richter Fenbaker. Als er endlich wieder gehen konnte, machte er sich auf den Weg zu Freifrau Arbyr, um dort den Winter zu verbringen, er hoffte, genug verdienen zu können, um Leinen für seinen nächsten Ballon zu kaufen. Tristal war schon zwei Wochen früher, kurz vor dem ersten Schneefall dorthin zu-rückgekehrt.

Während Tor langsam die von Wagenspuren durchzogene Straße entlangging, verspürte er eine gewaltige Erleichterung darüber, daß er jetzt, nach fünf Wintern, den Weg aus dem Eistal gefunden hatte. Aber wenn Tristal im Frühling mit ihm aufbrach, hatte er nur noch zwei Jahre Zeit, um das Versprechen zu erfüllen, das er Fahna gegeben hatte. Tor kam in der Nähe des Gutshauses Clear Hill in den Südsektor und wandte sich mit der Straße nach Süden, auf Blue Lake zu. Endlich erreichte er das obere Ende von Blue Lake, wo sich die Straße nach Osten wandte, und bald danach sah er drei Männer, die von der Stadt kamen und hinter ihm herliefen. Als er die Uni-form der Männer des Sheriffs sah, wartete er.

Sie kamen keuchend heran. »Tor«, sagte einer von ihnen, nach Luft ringend. »Komm mit uns!«

»Worum geht es?«

»Sheriff ... will mit dir reden. Weiß nicht, worüber.«

Später, im Büro des Sheriffs beobachtete Tor, wie der Mann nervös, mit zitternden Händen auf seinem Tisch nach etwas suchte. »Ach ja«, sagte er schließ-

lich. »Hier. Ein Befehl von Südsektorrichter Morton.

Man soll dich festhalten, bis wegen einer möglichen Komplizenschaft bei den jüngsten Greueltaten im Westen eine eingehende Untersuchung durchgeführt werden kann.«

Tor stand ein paar Augenblicke schweigend da.

»Was ist der wirkliche Grund? Weshalb wollt ihr mich festhalten?«

Der Sheriff blickte unbehaglich zu Boden, dann sagte er zu seinen Leuten: »Bringt ihn weg! Nicht hier. Ins Gefängnis!«

Tor wehrte sich nicht. Es schien wenig Sinn zu haben. Bald genug würde sich alles aufklären. Aber als die dicke, mit Nägeln beschlagene Tür hinter ihm zu-fiel, spürte er, wie ihm der Mut sank. Er drehte sich in seiner Zelle um und sah im schwachen Licht vom Fenster her den jungen Mann, den er vor über einem Monat gefangengenommen hatte. Der Junge starrte ihn an, dann drehte er sich auf seiner Pritsche um und steckte den Kopf unter die Decke.

Im fernen Nordwall war es tiefer Herbst. Fahna ging den Weg von ihrem Haus zum Fluß hinunter. Hörner hatten verkündet, daß Fremde den Fluß herunter kä-

men. Plötzlich tauchte Bravet wie aus dem Nichts auf und stellte sich neben sie. Sie fuhr zusammen. Er nahm ihren Arm.

»Ich ... will dir etwas sagen.«

»Ja?«

»Das geht jetzt seit Jahren so. Nie willst du mit mir reden. Selbst letztes Frühjahr – es war eine so kurze Unterhaltung.«

»Und die war schon viel zu lang. Ich weiß, was du willst. Ich bin versprochen. Das weißt du.«

»Jeder Mann, der bei Verstand ist, wäre schon zu-rück – hätte dich inzwischen geholt. Er kommt nicht mehr.«

»Er ... er wird kommen. Was wolltest du mir sagen?

Bitte. Ich möchte sehen, wer da den Fluß herunter-kommt.«

»Ich habe jetzt eine kleine Bande. Wir sind es leid, für die Pelbar Holz zu schlagen. Die ganzen Ebenen sind verlassen. Wir gehen wieder hinaus, um den Herden zu folgen. Ich werde der Axtschwinger sein.

Sie sind einverstanden.«

»Ach ja. Das ... ist schön. Wann brecht ihr auf?«

»Im Frühling. Im dritten Monat. Zwei Frühlinge später bin ich wieder hier.«

»Warum?«

»Um zu sehen, wie der Siebenjahrestermin deines Versprechens vorbeigeht. Während du immer noch alleine bist.«

»Ich kann mein ganzes Leben warten, wenn ich will.«

»Verschwendung. Eine Schönheit wie dich gibt es im ganzen Heart-Fluß-Tal nicht mehr.«

»Hast du nachgesehen?«

»Bitte. Sei nicht eklig. Ich kann auch grob sein.«

»Ohne Zweifel. So, ich muß jetzt gehen. Bitte laß mich los!«

»Ich komme mit.«

»Wenn du willst. Aber nimm die Hand weg!«

Die beiden gingen schweigend das Ufer hinunter zum Fluß, wo sich eine seltsame Flottille aus fünf Booten dem Landebereich näherte. Eine Reihe von Gardisten erwarteten sie. Die Ankömmlinge waren eine Mischung aus rauhen Jägern, alten Männern und Frauen, einer jungen Frau und ihren beiden kleinen Kindern. Ein Gardist legte eine Planke zum Leitboot, und ein großer Mann sprang mit einem Lederseil ans Ufer und zog das Boot hinauf.

»Das hier ist Nordwall«, sagte der Gardehauptmann. »Ihr seid Fremde? Wie können wir euch helfen?«

»Wir suchen Platz für Winter. Wir möchten arbeiten. Nur Platz, wo wir bleiben können. Seid ihr Pelbar?«

»Ja. Die nördliche Pelbarstadt, aber jetzt eine Heimat für alle.«

»Gut. Ich heiße Dardan. Das ist meine Frau Orsel und andere weit aus Norden, nahe an Eis.«

Fahna stieß einen kurzen, scharfen Schrei aus.

Mehrere Gardisten drehten sich um und sahen, wie sie beide Hände vor den Mund hielt. »Das Kurzschwert. Es ist Tristals Kurzschwert«, rief sie schrill.

»Tristal. Er hat es mir gegeben«, sagte Dardan.

»Spätsommer. Vor ... vier Jahren jetzt. Sein Onkel – Tor – wollte das Eis überqueren. Habe sie seither nicht mehr gesehen. Wir wollten weg und hatten nur Steinwerkzeug. Er gab mir das.«

Fahna rannte das Ufer hinunter, nahm das Schwert und zog die Klinge heraus. Sie war abgenützt, und das obere Ende des Griffs war leicht angekohlt.

»Das«, sagte Dardan und deutete darauf, »wurde vorher gemacht. Von verrückten Shumai. Haben es erhitzt und ihm die Brust verbrannt.«

Fahna keuchte. »Seine Brust?«

»Er ist in Ordnung. Alles verheilt. Nur Narbe.«

»Dardan«, sagte Orsel, »dafür ist noch Zeit. Wir wollen ans Ufer.«

»Ich gebe dir ein neues Kurzschwert, wenn ich das hier behalten darf«, sagte Fahna.

»Nimm es! Es war ein Geschenk. Bin aber dankbar für neues.«

Zwei Tage später brach Fahna nach Pelbarigan auf, um wieder bei Eolyn, der Frau aus der Kuppel, zu studieren. Sie saß auf dem Deck eines alten Tantalse-gelschiffs, hielt das beschädigte Kurzschwert in der Hand, schaute gelegentlich darauf hinunter und be-rührte den geschwärzten Fingerschutz und das ver-kohlte Holz des Griffs daneben.

Tor war sechs Tage in seiner Zelle, bis der junge Mann das erste Wort mit ihm wechselte – und das klang verächtlich. Er sagte es, als er vom Steinehauen zurückkam, was man von Tor nicht verlangte.

Es hörte sich an wie ›Swin‹.

»Swin?« erkundigte sich Tor.

»Swin!« bestätigte der junge Mann.

Tor überlegte eine Weile, dann sagte er: »Wistorm.

Ist das richtig?«

Der junge Mann starrte ihn an. »Fisdorm«, wiederholte er und spuckte aus.

»Nun, wir haben festgestellt, daß ihr eine Abart des gewöhnlichen Urstadge sprecht«, sagte Tor. »Paß auf!

Laß mich deine Hände sehen!«

Der junge Mann wich zurück. Tor streckte seine geschlossene Faust aus und öffnete einen Finger nach dem anderen. »Eins, zwei, drei, vier, fünf«, sagte er.

Der junge Mann starrte ihn lange an, dann schaute er zu Boden und sagte: »Een, twe, dri, veer, fimf.«

Eine Zeitlang tauschten sie Worte aus. Allmählich wiederholte der junge Mann mit gerunzelter Stirn, was Tor sagte. Aber dann schien er sich vor lauter Ablehnung wieder von innen nach außen zu kehren.

Nachdem ein weiterer Eistal-Monat vergangen war, war er etwas freundlicher geworden. Tor fragte ihn so gründlich über die Gesellschaft, von der er stammte, aus, wie er nur konnte. Der junge Mann war sichtlich stolz darauf, dieser Abstammung zu sein – ein ›Sgenamon‹, wie er sagte.

Am ersten Tag des zweiten Monats rief der Wärter Tor in den Vorraum, wo Südsektorrichter Morton, flankiert von zwei bewaffneten Männern des Sheriffs ihn erwartete. Tor sagte kein Wort.

»Wir sammeln jetzt Beweise zur Stützung der An-klage«, begann Morton. »Das wird einige Zeit dauern.

Aber jetzt ist ja Winter, und du hättest vielleicht ohnehin nichts zu tun.«

»Du willst Richter sein? Nur Ungerechte verhaften Menschen und suchen dann erst nach Beweisen, um sie festhalten zu können. Das ist Unsinn. Du weißt, daß ich nicht untätig wäre. Wie soll ich mir je genug verdienen, um aus diesem riesigen Schafspferch her-auszukommen, wenn ich diesen Winter nicht arbeiten kann?«

Der Richter starrte ihn mit gerötetem Gesicht an.

»Dann brauche ich ja nicht mit dir zu sprechen«, sagte er und stand auf.

»Nein, du ausgefranstes altes Arschloch! Du Ma-densack! Du Flohpelz! Du ...« Der Richter war schon gegangen.

»Das hättest du nicht machen sollen«, sagte ein Mann. »Jetzt wird es noch schwerer.«

»Was denn? Ich habe nichts getan. Ihr wißt das.

Was soll das überhaupt alles?«

»Geht mich nichts an. Aber die Trauerzeit von Freifrau Arbyr ist vorüber.«

»Ach so. Jetzt dämmert mir so manches. Das ist es.

Die Reichen will er schützen! Sie hatte nichts zu be-fürchten.«

»Sie? Sie fürchtet auch nichts. Aber da ist ja noch dein Neffe, weißt du. Und die Verhandlungen um Elayna sind im Gange.«

»Verhandlungen? Ist sie eine Nation?«

»Schluß jetzt! Zurück in deine Zelle!«

Der junge Mann war da, als Tor zurückkam. Er schaute spöttisch auf und fragte: »Wat dat allens?«

»Niet veel. Maase Irjer.«

»Irjer? Nee, Arjer.«

»Ach. Arjer.«

Der junge Mann lächelte, als Tor sich umdrehte und dem erstaunten Wärter zuzwinkerte.

An diesem Abend versuchte Tor so offen wie möglich zu erklären, wie es zu der Schlacht gekommen war. Er ermutigte den jungen Mann – der sagte, sein Name sei Peelay –, erklärte, was geschehen war, und beschrieb, welches Unrecht die Überfälle darstellten.

Aber der Junge war sichtlich davon begeistert und behauptete, sie seien notwendig, um die Bevölkerung zu ergänzen, da sie selbst nur wenige Kinder hätten.

Tor sprach über das, was man von der Zeit des Feuers wußte, und darüber, daß andere Gruppen von Überlebenden Probleme mit Restverseuchung hätten, dann fragte er, ob sie die stark radioaktiven, leeren Stellen beträten. Peelay runzelte die Stirn. Es war klar, daß er noch nie eine solche Stelle gesehen hatte.

Tor ermutigte ihn, weiterzusprechen, und während der nächsten Abende tat er das auch.

Als Tor ihn eines Tages spät nachts bat, zu beschreiben, was sie aßen, erwähnte der Junge weiche, graue Töpfe.

»Graue Töpfe?«

Peelay, der die veränderten Laute jetzt recht flüssig übersetzte, erklärte mühsam und gebrochen, man fände sie als lange Rohre in einem Ruinenhaufen.

Man könne sie leicht in Stücke schneiden, dann würden die Stücke am Boden durch Hitze verschweißt.

Man kochte in diesen Töpfen, indem man erhitzte Steine hineinwarf, denn sie schmolzen, wenn man sie über ein heißes Feuer stellte. Aber sie waren kostbar, denn obwohl sie schwer waren, zerbrachen sie nicht wie Steingut.

Tor hatte bei dieser Erklärung ein ungutes Gefühl.

Er wußte, daß sich Sterilität aus Giften entwickelte. Er wurde nachdenklich.

Peelay fragte ihn: »Wat laus?«

»Was los ist? Ich glaube ... ich weiß nicht. Wir werden es morgen sehen.«

Am nächsten Tag überredete er einen freundlichen Wärter, ihm ein Stück Blei mitzubringen. Blei war selten im Eistal, aber man verwendete ein paar Stücke als Gewichte beim Stoffspannen. Tor wußte nicht, wo sie herkamen. Der Wärter reichte Tor das Bleistück und sagte: »Hoffentlich erzählst du niemandem davon. Ich verstehe es nicht.«

»Wenn diese Leute in dem Metall kochen und es aus alten Gebäuden holen, ist das vielleicht der Grund, warum sie keine Kinder haben. Also wäre es auch der Grund, warum sie euch überfallen müssen.«

»Ach so«, sagte der Mann nachdenklich. »Glaubst du das?«

»Bleib hier! Er wird bald kommen. Sieh selbst!«

Peelay kam müde vom Steinhauen, neugierig, als er den Wärter sah. »Wat weelt he heer?« fragte er.

»Peelay, er brachte ... verstehst du ...?«

»Prakte?«

»Ja. Er brachte das hier. Ist es das, woraus eure grauen Töpfe gemacht sind?«

Peelay nahm den Bleiklumpen, schaute ihn stirnrunzelnd an und kratzte mit dem Fingernagel daran.

Dann blickte er lächelnd auf und sagte: »Aj. Dat datsilbe.« Dann formte er die Worte sorgfältig: »Das ist dasselbe.«

»Wir nennen es Blei«, sagte Tor. »Die Sgenamon sollten darin nicht kochen, wenn sie gesund bleiben wollen.«

Peelay runzelte wieder die Stirn und enträtselte langsam, was Tor gesagt hatte, während der dem Wärter das Blei dankend zurückgab. Der Mann schien überrascht, welche Fortschritte Tor bei dem jungen Mann gemacht hatte.

Als der Wärter fort war, sagte Tor: »Nun, Peelay.

Warum haben sie dich den Berg heruntergeschickt?

Du warst soviel jünger als die anderen.«

Drei Nächte später hängte Tor zusammengebundene Streifen aus der Wolldecke durch das Fenstergitter ihrer Zelle, das sie nach langen Bemühungen hatten lockern können, und ließ Peelay hinaus. Er folgte ihm. Sie sprangen in die heulende Kälte eines hefti-gen Wintergewitters. Tor drängte den jungen Mann an die Rückseite des Sheriffsgebäudes, stemmte die Tür auf und fand dort Winterkleidung und Skier.

Lautlos machten sie sich durch die Schneewehen auf den Weg nach Norden.

Es wurde Morgen, ehe man ihre Flucht entdeckte, aber die Nachricht verbreitete sich schnell, und man stellte auf allen Straßen Wachen auf. Männer des Sheriffs gingen nach Boiling Springs und zu Freifrau Arbyr, und die erste Gruppe fand in einem geschützten Winkel die Spuren von zwei Paar Skiern. Bei Einbruch der Nacht war der Sheriff des Zweitsektors alarmiert worden und schickte seine Leute aus, um die Farmen zu warnen.

Kurz darauf erreichten Tor und Peelay Johnstons Farm, nahe der Stelle, wo der junge Mann gefangengenommen worden war. Tor klopfte an die Tür, das Geräusch wurde durch seine dicken Fäustlinge ge-dämpft. Stanley Johnston öffnete die Tür, und die Kinnlade fiel ihm herunter. »Du?« sagte er.

»Was ist los, Stan?«

»Der Wilde und der Fremde.« Er wollte ihnen den Weg verstellen, aber Tor drängte sich in den warmen Mittelraum. Dort saßen eine alte Frau und drei Kinder.

Mutter Johnston stürmte mit einem Topf heißen Fetts ins Zimmer. Tor riß ein Kind hoch und hielt es vor sich. »Hört einen Augenblick zu!« rief er. Dann sagte er sanft: »Dürfen wir uns setzen?«

»Damit kommst du nicht durch. Der Sheriff ...«

»Hört doch mal zu!« Tors Stimme klang so entschieden, daß sie verstummten. »Ich glaube, daß dieser junge Mann euer Sohn Billy ist«, sagte er über-gangslos.

Sie starrten ihn an. »Nein!« sagte Johnston.

»Sie haben ihn den Berg heruntergeschickt, weil er schon früher hier gewesen war. Ich habe im Gefängnis mit ihm gesprochen. Im Sgenamon-Dialekt gibt es kein ›ch‹, aber er hat es sich schnell angewöhnt. Er muß es schon gekannt haben. Dieser Laut ist sehr schwer zu lernen. Sie haben seinen Namen nur wenig verändert – von Billy zu Peelay.«

Der junge Mann hatte alle mit großem Mißtrauen angesehen; er konnte nicht alles verstehen, was gesprochen wurde.

»Mutter, stell das Fett weg!« sagte Stanley Johnston.

Sie schaute zerstreut hinunter, trug den Topf ans hintere Feuer, kam mit leeren Händen zurück und wischte sie an ihren Wollhosen ab. Dann schaute sie den jungen Mann genau an und sagte: »Nein.«

»Ich bin ein Sgenamon«, sagte Billy langsam. »Keiner von euch.«

»Das ist ganz normal«, erklärte Tor. »Wenn man kleine Kinder früh genug wegholt, werden sie völlig zu Mitgliedern ihrer neuen Gesellschaft. Sie sind stolz darauf. Sie verachten die alte Kultur, sogar die ihrer Eltern.«

Mutter Johnston wiederholte: »Nein.« Dann verlangte sie: »Zeig mir deine Seite. Genau da!« Sie deutete in Taillenhöhe auf ihre linke Seite. Tor half Billy aus dem Mantel und zog ihm das Gefängnishemd herunter, eine alte Brandnarbe wurde sichtbar. Mutter Johnston schlug keuchend die Hände vors Gesicht, dann streckte sie sie ihm entgegen und sagte: »Oh, Billy, was haben sie mit dir gemacht?«

»Ich bin ein Sgenamon«, sagte Billy mit fast er-stickter Stimme.

Stanley Johnston schaute Tor an. »Was soll ich sagen?« fragte er. »Ich hätte ihn umgebracht. Mutter hat es verlangt. Was soll ich sagen?«

»Sag gar nichts! Warum umarmst du deinen Sohn nicht? Hoffentlich ist dir klar, wie schwierig es sein wird, ihn wieder an das Leben im Eistal zu gewöhnen.«

»Weißt du denn, wie schwer es bisher war? Endloses Geheule und Gejammere? Endlos.«

Am nächsten Tag erreichte die Nachricht von Tors Flucht das Gut von Freifrau Arbyr, ein Mann des Sheriffs überbrachte sie, als alle beim Abendessen saßen.

Sie legten auf dem langen Tisch noch ein Gedeck für ihn auf, und nach einem verlegenen Schweigen sagte Randall Stonewright: »Du glaubst also, daß er hierher kommt?«

»Kein Grund, sich dafür zu fürchten, Randall«, sagte Freifrau Arbyr seufzend. »Er ist klug genug, den Südsektor zu verlassen. Er weiß, daß mein Bruder dieses Gebiet nicht nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit führt, sondern nach seinen eigenen Plänen.«

»Man kann nicht verlangen, daß ein Vertreter des Gesetzes sich solche Reden anhört«, sagte der Mann des Sheriffs und stand auf.

»Setz dich, junger Mann, und iß!« rief Freifrau Arbyr. »Ich bin schließlich seine Schwester. Es wäre leichter, wenn es nicht so wäre. Alle wissen, daß Tor das Eistal verlassen will. Es ist auch hinreichend bekannt, daß ich ihn gerne zum Herrn dieses Gutes machen würde. Sonderbarerweise benützt der Richter meine Sympathie für Tor als Hebel, um mich davon abzuhalten, Randall zu heiraten – überrascht dich meine Offenheit?« Sie lachte ein wenig. »Vielleicht liegt es am Gerstensaft. Vielleicht bin ich auch zu alt für diese albernen Spiele. Ich weiß nicht, warum Tor geflohen ist, aber ich weiß, wenn er es schafft, den Zweitsektor zu erreichen, wird ihn Fenbaker niemals an Morton ausliefern. Und wenn Morton käme, um ihn zu holen, würde sich die ganze Bevölkerung gegen seine Männer erheben. Für sie ist Tor ein Held.«

»Was ist mit dem anderen Kerl?« fragte der Mann grimmig.

»Das weiß ich nicht. Wir werden es schon noch erfahren. Tor hat irgendeine Idee. Aber mir hat er meine Freiheit verschafft. Morton wollte eine Verbindung mit den Fitzroys vom Drittsektor einfädeln. Ich glaube, er hatte an Hercule gedacht. Pfui! Randall, nachdem Tor nun fort ist, müssen wir, glaube ich ...« Sie hielt inne und schaute den Mann des Sheriffs schel-misch an.

»Und was ist mit mir?« fragte Elayna. »Du denkst überhaupt nicht ...« Sie unterbrach sich und schaute Tristal an, der erstaunt dasaß, während die Gedanken durch seinen Kopf jagten.

»Für dich ist gesorgt, meine Liebe«, sagte Freifrau Arbyr. »Verlange nicht auch noch von mir, daß ich konsequent bin. In diesem Spiel habe ich Morton nachgegeben, obwohl ich deine Wünsche kenne.«

»Smithson?« flüsterte sie.

»Genau der. Nun, ich bin heute etwas betrunken«, sagte Freifrau Arbyr. »Tristal, du scheinst verwirrt.

Nun, du solltest die Grundregel des menschlichen Lebens kennen – zuerst kommt der Besitz, dann das Gefühl.«

Tristal stand auf und funkelte Elayna zornig an, die schaute mit rotem Gesicht zu Boden, blickte wieder auf, drehte sich um, stand auf und verließ wortlos das Zimmer.

»Du, Wilder!« sagte der Mann des Sheriffs. »Ich muß dich mitnehmen. In sichere Verwahrung. Nur bis Flatrock. Das geht schon klar.«

»Versuch es nur, Cowboy«, spottete Tristal.

»Ihr könnt es alle bezeugen, er hat sich der Ver-haftung widersetzt«, sagte der Mann des Sheriffs.

»Ich glaube nicht, daß wir etwas dergleichen gesehen haben. Du etwa, meine Liebe?« fragte Randall Stonewright.

»Nein. Ich keiner Weise.«

»Ich bestimmt nicht«, bekräftigte Unsit. »Tristal, soll ich dir deinen Mantel holen?«

»Jetzt seht euch das an!« sagte der Mann des Sheriffs.

»Betrunken und ausfallend. Und das auch noch im Dienst«, entrüstete sich Freifrau Arbyr.

»Wie könnt ihr nur so lügen?« schrie der Mann.

»Da stellt der Mann des Sektorenrichters eine merkwürdige Frage. Setz dich! Trink noch einen Becher!«

Der Mann wollte aufstehen, aber zwei der Gutsar-beiter lehnten sich auf seine Schultern.

»Ich bin völlig sicher, wir können auch in aller Freundschaft auseinanderkommen«, beschwichtigte Freifrau Arbyr.

Draußen schnallte sich Tristal Skier an. Allen, ein Küchenjunge, brachte ihm ein Eßpaket und steckte es schweigend in seinen Rucksack. »Randall sagt, du sollst nach Alder Glen gehen«, meinte er. »Dann bist du morgen früh im Zweitsektor. Er sagt, er will dir den Lohn für deine Arbeit zu den Fenbakers schik-ken.«

»Dank ihm in meinem Namen.«

»Hier. Ein Brief von Elayna.«

»Behalt ihn, Allen. Ich ...«

Allen steckte ihn wieder in die Tasche. »Soviel weiß sogar ein Junge, Tris. Klassengrenzen überschreitet man nicht. Es war unmöglich. Behalte die ganze Sache als Spaß in Erinnerung!«

»Na, dann leb wohl, Allen.« Tristal nahm die Stök-ke. »Leb wohl! Und stell dich nicht in den Wind, der vom Schlachthaus kommt.«

»Richtig. Mach deinen Flachs nicht im Schafstrog naß.« Allen sah Tristal nach, wie er auf seinen Skiern in die Dunkelheit hineinglitt.

Drei Tage später saß Zweitsektorrichter Fenbaker auf seinem Podest im Sektorengerichtssaal. Man hatte Sitzgelegenheiten hereingebracht, und der Raum war gesteckt voll. Neben Tor saß Tristal, immer noch grimmig und schweigsam. Farmer vom Westgut, Arbeiter von Boiling Springs und Gutsleute, alle drängten sich im Raum. Billy Johnston, jetzt in der Woll-kleidung des Eistals, aber mit den rituellen Gesichts-narben, saß in der vordersten Reihe.

»Junger Mann, wenn wir dich in die Obhut der Johnstons entlassen, erklärst du dich dann bereit, nichts über uns an die Leute jenseits des Eises zu verraten?«

»Aj, ik bin einverstanten«, sagte er. »Aper ik bin immer nok Sgenamon.«

»Ich habe da eine Idee, Richter Fenbaker«, meldete sich Tor. »Wie wäre es, wenn Billy mit mir kommt, wenn ich im Frühjahr aufbreche? Er kann zu diesen Leuten zurückkehren und ihnen erklären, auf welche Weise sie sich meiner Meinung nach selbst vergiften.«

»Nein! Niemals!« schrie Mutter Johnston.

»Nur so ein Gedanke«, meinte Tor. »Wenn sie es wüßten, könnten sie es vielleicht vermeiden, dann würden sie selbst Kinder bekommen und hätten es kaum mehr nötig, andere Stämme zu überfallen.

Mehr noch, sie könnten über das Eis hinweg mit euch Handel treiben. Billy ist ein natürliches Verbindungs-glied – das erste. Vielleicht setzt das den Überfällen ein Ende. Ihr könntet Waren bekommen, die es hier im Tal nicht gibt. Und ihr hättet einen Markt außerhalb von hier. Wer weiß? Vielleicht wollen einige von euch das Tal eine Zeitlang verlassen. Ich habe den Wald auf der anderen Seite gesehen. Billy sagt, er ist nicht weit weg. Dreißig Kilometer vielleicht.«

»Niemals. Du sollst nicht einmal davon sprechen«, wehrte sich Mutter Johnston.

»Es war nur so eine Idee.«

»Tor, deine Ideen haben eine merkwürdige Art, alles zu verändern«, bemerkte Fenbaker. »Über diese hier müssen wir noch nachdenken. Nun, Billy, hast du verstanden, was eben gesagt wurde?«

»Bißken. Aj.«

»Was meinst du dazu?«

»Ik ... weß nik. Ich ... würde versuken.«

»Hm ... ah, ja, versuchen, wie?«

»Aj.«

»Na ja, du hast ja nun einen großen Teil des Winters verloren, Tor, aber die Leute vom Westgut sagen, sie wollen dir bei deinem ... Ballon helfen. Soviel ich verstanden habe, muß er noch größer werden.«

Tor schaute Tristal an, der den Blick senkte. »Ja.

Ziemlich viel größer.«