NEUNZEHN

Tristal half bei den Verwundeten, während der Tag sich dem Ende zuneigte. Einmal, er trug gerade Wasser, rief ihn ein Mann an und murmelte: »Ich ... brauche Tor. Hol ihn mir! Sag ihm, es geht um Garey Blake.«

Tristal wunderte sich, aber er ging zu Tor, der noch immer neben dem Zaun lag und sich ausruhte. Als er erfuhr, worum es ging, erhob er sich sofort und trabte auf den Heuschober zu, wo die Verwundeten in Reihen in der staubigen Trockenheit lagen. Er kniete neben Blake nieder, der schwach lächelte und sagte: »Du mußt mir helfen. Sie haben meine Tochter entführt. Renee. Sie ist erst vierzehn. Sie werden sie inzwischen schon oben auf dem Eis haben. Was soll ich tun?«

Tor seufzte und blickte auf. Mehrere Männer beobachteten ihn gespannt. »Gut«, sagte er. »Ich brauche etwa acht Mann. Wir müssen in den Wald hinauf. Es kann gefährlich werden.«

»Acht?« schnaubte ein Mann. »Wir gehen alle mit.«

»Der Wind steht noch richtig«, sagte Tor.

»Nicht schon wieder ein Flug!« stöhnte Tristal. Tor lachte. »In gewissem Sinne schon.« Dann blickte er stirnrunzelnd auf Garey Blake hinunter und sagte: »Ich komme mit ihr zurück oder überhaupt nicht.«

Blake wollte den Mund aufmachen, ließ es dann aber sein.

Tor und achtundzwanzig Männer mühten sich durch den Wald hinauf zur Holzfällerhütte, die die Eindringlinge bei ihrem Rückzug in Brand gesteckt hatten. Tor trabte den Hügel hinter der Hütte hinauf zu einem Steinhaufen, stemmte sich fest dagegen und schob einen großen Stein beiseite. Er kniete nieder und begann, an einem kompakten Paket im Inneren zu ziehen. »Helft mir!« sagte er.

Bald war das sonderbare Paket – eine Menge Leinen und mehrere hölzerne Röhren – auf dem Weg den Hügel hinunter. »Bringt es zur Dampfquelle südlich dieser Waldspitze«, verlangte Tor.

Dort angelangt, die Sonne tauchte die Wolken im Osten in rosafarbenes Licht, ließ er zwei Männer auf Bäume in der Nähe klettern und dazwischen eine Leine spannen, die durch einen Ring an der langen, genähten Masse aus Leinen lief, das mit dünnem Fichtenharz versteift worden war. Als sich die Leine straffte, hingen die Stoffalten starr herab. Dann fügte Tor die Röhren aneinander, dünne Stämme, die in der Mitte mit einem Eisenstab hohlgebrannt worden waren, und verband sie mit den Anschlüssen zur Quelle.

Der Dampf strömte in eine Öffnung im unteren Teil des Leinens, das sich langsam füllte und zum oberen Seil hinaufstieg.

Tor ließ einige Leute aus der ständig wachsenden Menge Seile halten, die um das Gebilde geschlungen waren und den Druck gegen das obere Seil milderten.

Er grinste. »Ich glaube, es wird funktionieren«, sagte er zu Tristal. »Weißt du noch? Eolyn hat es Ballon genannt. Ich habe oben im Wald daran gearbeitet.«

»Ich verstehe es nicht«, sagte Tristal.

Tor drehte sich um, befestigte eine riesige Fackel unter dem untersten Reifen des großen Leinensacks, zündete sie an und setzte sich dann mit drei Krügen Schafsfett im Arm in eine doppelte Seilschlinge darunter. Durch die von der prasselnden Fackel aus-strahlende Hitze begann der Ballon alsbald an den Haltetauen zu zerren. »Kapp das Seil!« rief er einem der Männer im Baum zu. »Ihr da unten! Macht euch fertig zum Loslassen. Nicht festhalten. Tristal, du wartest an der Eiswand. Es kann eine Weile dauern.

Bleib nur in der Nähe. Vielleicht brauche ich Hilfe.

Und jetzt laßt los!«

Der Leinensack schwebte ein paar Augenblicke lang an derselben Stelle, dann begann er langsam aufzusteigen. Die Menge jubelte, als Tor über den langen Schatten der Eiswand hinaufschwebte, die letzten Sonnenstrahlen auf ihn fielen und er nach Südwesten davontrieb.

»Ich würde das niemals glauben, wenn ich es nicht selbst sähe«, murmelte der Sheriff. »Was fällt diesem Mann wohl als nächstes ein?«

»Na ja«, sagte Smythe, der den Arm in einer Schlinge trug. »Als nächstes wird er Renee Blake diesem mörderischen Gesindel aus den Händen reißen.«

Tor stieg noch höher und wurde viel weiter nach Sü-

den abgetrieben, als er eigentlich wollte. Er war beunruhigt über die Geschwindigkeit, mit der die Fackel ihren Brennstoff verbrauchte, den er in eine Holzschale unter dem dicken Lumpendocht schüttete. Er hoffte, er würde es bis zur Eiswand schaffen. Aber als er näher an die Wand herankam, stieg er schneller in der kühlen Luft. Immer noch steigend passierte er den vorderen Eisrand und bemerkte die Gruppe von etwa hundertfünfzig Gegnern weit entfernt im Nordwesten als dunkle Flecken, dann sah er zu seiner Überraschung weit im Westen ein dunkles Band, das er als Wald erkannte. Darüber war er sehr erleichtert, aber allmählich fror er auch. Er goß nun keinen Brennstoff mehr nach und versuchte dann, die Fackel zu ersticken, um zu sinken. Er sah, wie über ihm im Leinen ein Riß entstand und sich verlängerte. Bald sank er viel schneller, als er es wollte. Glücklicherweise war auf das Eis frischer Schnee gefallen – und es schien viel weniger Spalten zu haben als die Eiswand im Osten.

Als er sich der Oberfläche näherte, befreite er sich aus seinem Geschirr, hing mit schleifenden Füßen am Ballon und ließ sich schließlich fallen. Der Ballon sank zusammen wie sich auflösender Rauch. Tor merkte, daß ihm die Beine eingeschlafen waren, als er zuerst gehend, dann trabend auf die Gegner zueilte. Er begriff nun, weshalb sie ihre Überfälle so legten, daß sie bei Vollmond den Rückzug antreten konnten – der aufgehende Mond tauchte das Eis in unheimliches Licht und hob die Senken stärker hervor. Tor unterdrückte seine Angst vor Spalten und trabte durch den knöcheltiefen Schnee.

Es war Mitternacht, als er im Norden einige Nachzügler erblickte – Verwundete und Leute, die ihnen halfen, sie bewegten sich langsam, weit auseinandergezogen über das Eis.

Er entschied sich für die letzte Gruppe, vier Männer, nur einer davon unverletzt, stürmte hinter einer hoch aufragenden Eisfalte hervor und schlug sie mit schnellen Schwüngen seiner Axt nieder. Dann nahm er einem den langen Pelzmantel ab und legte dabei die schwarze Lederkleidung frei, die sie während des Kampfes alle trugen. Ein zottiger Hut half ihm, seinen hellen Zopf zu verbergen. Er trabte weiter und zog den Schlitten mit einer Leiche darauf hinter sich her.

Bald holte er, während er mit gesenktem Kopf aus-schritt und den Schlitten hinter sich her zog, eine zweite Gruppe aus drei Leuten ein.

Einer der Männer sprach ihn an. Er tat so, als hörte er es nicht, dann ließ er das Seil fallen, schwang die Axt und schlug die drei nieder. Aber so geht es nicht, dachte er. Früher oder später werden sie mich kriegen. Schließlich umfaßte die Streitmacht der Gegner, das hatte er vom Ballon aus geschätzt, mindestens hundertfünfzig Mann.

Tor schob den Schlitten hinter eine Auffaltung in der Gletscheroberfläche und ließ ihn dort stehen. Er trabte in südlicher Richtung weiter und hoffte, daß etwaige Gefangene bei den Nachzüglern sein würden. Nach einiger Zeit wurde er langsamer, denn er sah, daß er den langen Zug schon zum größten Teil überholt hatte. Er wählte sich eine schattige Senke im schneebedeckten Eis, kauerte sich nieder und wartete.

Sieben Gruppen waren vorbei, ehe er sie sah – ein Mädchen mit einem Baby im Arm, und ein kleiner Junge wurden von fünf Männern weitergetrieben. Die Männer schienen alle kräftig und unverletzt zu sein.

Tor merkte, wie sein Herz hämmerte, während er sich vorsichtig den Männern anschloß, gebückt, um seine Größe zu verbergen. Da sich die Abstände zwischen den Männern ständig veränderten, versuchte er, jenen genau passenden Augenblick zu finden, in dem er sie alle erwischen konnte. Von weit hinten kam schwach ein Schrei – Tor wußte, das bedeutete, daß man eine der Leichen entdeckt hatte. Zwei der Männer drehten sich um, dann die anderen. Tor stapfte noch drei Schritte weiter, dann schwang er seine Axt und machte die Männer nieder.

Das Mädchen schrie auf. Tor packte es und sagte: »Renee? Dein Vater hat mich geschickt. Komm!« Er hob den Jungen und das Baby auf und lief voraus nach Süden, immer um die Eiskämme herum. Trotz seiner Last war er ihr weit voraus und mußte auf sie warten.

Endlich holte sie ihn ein. Sie keuchte: »Ich kann nicht. Meine Füße. Meine Füße erfrieren mir.«

Er sah, daß sie nur dünne Sommerschuhe anhatte.

»Vorwärts!« sagte er. »Kannst du bis vierhundert zählen?«

»Ja.«

»Geh noch vierhundert Schritte weiter. Dann kann ich etwas für deine Füße tun.«

Tor blieb hinter ihr und schaute zurück. Niemand kam unmittelbar hinter ihnen her, aber bald, nachdem er angefangen hatte, den Mantel in Streifen zu reißen, um ihr damit die Füße einzubinden, hörte er den Schrei, als man sie entdeckte. Er bemühte sich, ruhig zu bleiben und umwickelte erst ihre Füße, dann die des Jungen. Schließlich reichte er ihr das Baby und sagte: »Siehst du die Eisspitze dort? Da unten?

Geh dorthin! Versteck dich dahinter. Ich komme nach. Und jetzt lauf! Ich weiß, es ist schwer, aber es geht um dein Leben.« Er sah ihnen nach, folgte ihnen dann und zog den Rest des Mantels hinter sich her, um die Spuren im Mondlicht einigermaßen zu verwi-schen. Dann glättete er sie ein Stück weit völlig und legte eine Nebenspur, zog den Mantel aber immer noch hinter sich her. Die Nebenspur führte er um eine Senke im Eis herum, sprang von oben in die alten Spuren zurück und lief ungefähr zwanzig Armlängen weit rückwärts. Dann sprang er in eine andere Eisrinne hinunter und glättete den Schnee hinter sich, bis er um einen Eisvorsprung bog. Er drehte sich um, schaute und raste dann davon, während die Schreie der Verfolger hinter ihm lauter wurden.

Er fand die Kinder, die zitternd hinter der hohen Eisspitze kauerten. »Ich habe sie für kurze Zeit in die Irre geführt«, sagte er. »Kommt! Wir müssen weiter nach Süden.«

»Zu Hause liegt im Osten«, widersprach der Junge.

»Der Weg nach unten liegt im Südosten«, entgegnete Tor. Als sie gingen, zerteilte er den Mantel noch weiter und legte jedem Kind einen breiten Streifen davon um die Schultern. Dann nahm er das Baby und wickelte es in den Rest des Mantels. Trotz des ganzen Tumults ringsum wimmerte der Säugling nur gelegentlich im Schlaf. Aber als es im Osten hell wurde, waren die Kinder völlig erschöpft, und das Baby schrie aus voller Kehle. Tor schaute ständig nach hinten, hörte aber nur fernes Rufen. Er hoffte, den Ballon wiederzufinden.

Glücklicherweise hatten die jüngsten Niederlagen die Gegner Vorsicht gelehrt. Noch nie war ihnen jemand auf das Eis hinauf gefolgt, daher hatten sie vielleicht weiter vorne einen Hinterhalt befürchtet. Au-

ßerdem mußten sie zutiefst erschöpft gewesen sein.

Sie hatten ja nicht nur fast den ganzen Tag gekämpft und waren schwer geschlagen worden, sie waren auch die Eiswand wieder hochgeklettert und hatten ohne zu rasten den Rückzug angetreten. Tor hatte sich wenigstens am vorhergehenden Nachmittag ausgeruht und war den Gletscher hinaufgeschwebt.

Als die Sonne aufging, hielt Tor die Kinder so weit wie möglich in Eisrinnen, aber er trieb sie auch ohne Pause weiter. Dem Säugling band er einen kleinen Knebel über den Mund. Der versuchte entrüstet zu schreien, bis er am Schleim in seiner Nase beinahe er-stickte. Es war nicht der glücklichste Tag seiner Kindheit.

Endlich fanden sie den Ballon. Tor schickte die Kinder weiter voraus, während er ihn über das Eis schleppte und im Gehen versuchte, ihn in Stücke zu zerteilen. Hinter sich hörte er von ferne einen Schrei und drehte sich um. Weit entfernt sah er kleine, dunkle Flecken. Die Verfolger hatten ihn entdeckt. Er trieb die Kinder unerbittlich an und folgte ihnen, den Stoff hinter sich herzerrend.

Als sie nahe am Rand der Eiswand steiler abstie-gen, schien es für die Kinder leichter zu werden. Tor mußte schreien, um sie zu warnen, damit sie nicht zu schnell liefen und ausrutschten. Auch er kam auf dem Abhang schneller voran. Als er den Rand erreichte, sah er überrascht, wie schroff er war. Er ließ die Kinder im Schnee niederkauern und gab dem Jungen den Säugling, Renee mußte ihm helfen, den Stoff in lange Streifen zu reißen. Sie weinte vor Erschöpfung.

Er hörte in der Nähe einen Schrei. Schnell schnitt er die Halteseile los, begann, Ballonstreifen zusammen-zubinden und machte in das Ende zwei Schlingen.

»Renee!« rief er. »Du nimmst das Baby!« Er legte die Schlinge um sie, band den Jungen in die zweite und ließ das Seil mit den Worten über den Rand laufen: »Wenn ihr das Ende erreicht, müßt ihr euch eine Stelle suchen, an der ihr euch festhalten könnt. Es gibt keine andere Wahl. Dann zieht ihr das Seil herunter, macht es fest und laßt euch eine halbe Länge weiter hinunter. Schafft ihr das?«

»Ich ... ich glaube schon«, rief Renee.

Sie verschwanden über die Kante. Tor rief ihnen nach: »Renee, ich lasse los, sobald ich alles ausgege-ben und eine Zeitlang gewartet habe. Von da an seid ihr auf euch selbst gestellt.«

»Was ist mit dir?« rief sie zurück. Ja, was war mit ihm? Tor wußte es nicht. Er schwieg.

Der Stoffstreifen war zu Ende, und er hielt ihn noch eine Zeitlang fest. Dann warf er das Ende hinaus und schloß einen Augenblick die Augen, ihm war ganz schlecht vor Angst um die Kinder. Schließlich drehte er sich um. Sechs Gegner waren über ihm und rückten heran.

Er rappelte sich auf, rannte an der Eiskante entlang nach Norden und sprang dabei über breite Spalten.

Der erste Angreifer sauste an ihm vorbei. Er wußte, daß bald ein zweiter folgen würde. Dann lief er in ei-ne Spalte hinein, bis er außer Sicht war, kletterte nach oben und sprang über den Rand – direkt einem der Männer vor die Füße.

Der Mann schrie auf, als Tor mit der Schulter gegen ihn prallte, seine Axt herausriß und ihn erledigte.

Dann rannte Tor die Spalte entlang, weg von der Eiswand, flankte über den Rand, als die Spalte flacher wurde, und spürte erst jetzt den Schmerz von einem Pfeil, der in Taillenhöhe an seiner Seite entlangge-schrammt war. Er kletterte über zwei weitere Spalten und sah dann über sich drei Gegner mit einem Seil.

Sie hatten ihn noch nicht entdeckt.

Einen Augenblick lang schloß er die Augen und überlegte, ob er sie schaffen könnte, dann biß er sich auf die Lippen, rannte die Spalte hinauf, schätzte ab, wo sie sein könnten, kletterte seitlich hinauf und sprang. Die Männer schrien auf, aber ehe sie reagieren konnten, war Tor mit einem Axtstreich für den ersten und einem Schwung für den zweiten und dritten über ihnen. Weiter unten hatten ihn weitere gesehen. Er riß das Seil hoch und rannte, suchte sich eine Spalte, lief in ihr hinunter auf die Eiswand zu und rechnete ständig damit, daß einer der Gegner über die Kante käme.

Er erreichte die Kante, kniete nieder, machte eine Schlinge ins Seil, schob sie über einen breiten Eis-knopf und ließ sich über die Kante hinunter. Er hatte sich das Seil um seinen rechten Arm gewickelt, hielt sich mit der Linken fest und rutschte hinunter, so schnell er nur konnte. Als er ein schroffes Sims erblickte, hielt er an, stemmte sich ein und hielt das Seil straff. Wie er vermutet hatte, ließ die Spannung nach und das Seil schlängelte sich an ihm vorbei, zuletzt die abgeschnittene Schlinge. Er stieß einen wilden Schrei aus und brach unvermittelt ab. Als er sich umschaute, sah er keine Stelle, wo er das Seilende hätte befestigen können. Er nahm seine Axt und hackte einen Absatz in die Eiswand. In dieser Höhe bröckelte das Eis nicht so wie weiter unten, aber er wußte, daß er in der Klamme saß. Was war mit den Kindern?

Jetzt konnte er sich deutlicher vorstellen, in welcher Lage er sie ausgesetzt hatte.

Von oben polterte ein großer Eisbrocken herunter, prallte von der Wand ab und flog dicht an ihm vorbei. Seine Gegner wollten ganz sichergehen. Tor setzte sich, um zu warten und sich auszuruhen, er war so erschöpft, daß er sich nicht mehr vorstellen konnte, sich noch viel anzustrengen. Er sah, daß er nach unten noch etwa zweihundert Armlängen Eiswand vor sich hatte. So dicht am Eis konnte er nicht viel sehen, aber als er so dasaß und nicht wußte, was er tun sollte, roch er nach einiger Zeit Rauch. Tristal, dachte er. Er will mir mitteilen, daß sie wissen, wo wir sind.

Tor schob sich in seiner gefährlichen Stellung vorsichtig herum, nahm seine Axt heraus und begann weiter in das lose Eis hineinzuschlagen und den Absatz zu einer kleinen Höhle zu erweitern. Über sich hörte er es wieder poltern. Ein riesiger Brocken fiel an ihm vorbei, und mit ihm stürzte ein Mann schreiend ab. Tor hoffte, daß die Menschen unten weit genug von der Eiswand wegstanden. Während er sich in seiner Eishöhle ausruhte, sah er allmählich ein, daß er hier nicht bleiben konnte, weil es zu kalt war. Er nahm wieder seine Axt, hackte einen großen Knopf in das feste Eis weiter hinten in der Höhle, streifte dann die Seilmitte darüber und wagte sich wieder hinaus.

Diesmal hielt er das ganze Seil mit dem Knoten nach unten in einer Schlinge.

Er ließ sich bis ans Ende des Seils hinab, setzte sich in die Schlinge und hackte erneut eine kleine Höhle ins Eis hinein. Wieder machte er einen festen Knopf, löste den Seilknoten und zog das Seil von seinem Haltepunkt weiter oben herunter. Neunmal tat er das, jedesmal wurde er müder und fror mehr, und jedesmal fragte er sich, wie er die Kinder nur allein in der Eiswand hatte lassen können. Es war, als hätte er sie getötet.

Als Tor zum zehntenmal ins Eis hineinhackte, war es brüchig, ganz gleich, wie tief er schlug, und er fürchtete, die Decke seiner kleinen Höhle würde über ihm zusammenstürzen. Von unten hörte er Schreie, und als er hinaussah, bemerkte er eine wachsende Menschenmenge, aber dicht über sich konnte er nichts sehen.

Er drehte sich um und spreizte sich in die Spalte ein, in der er sich befand, um die Wand zu prüfen, aber da gab das Eis unter seinen Füßen nach und er stürzte, verkeilte sich einen Augenblick lang im Eis, brach noch mehr los, fiel rutschend und hüpfend die Eiswand hinunter und kam schließlich mit einem gräßlichen Schlag auf. Er merkte, daß ihn Hände be-rührten, daß er aufgehoben wurde, daß stechende Schmerzen durch seine Seite fuhren. »Die Kinder«, murmelte er. »Die Kinder.«

»Sie werden schon geholt. Schau!«

Tor bemühte sich, die Schwärze aus seinen Augen zu schütteln und sagte schließlich: »Dann legt mich nieder.«

Das taten sie. Allmählich wurde sein Blick wieder klar, und er sah, daß eine Kette von Leitern die Eiswand hinaufführte, eine Gruppe von Männern noch weitere daranband und sie seitlich mit Stangen und Haltetauen hochhob. Die Konstruktion wirkte sehr wackelig. Oben konnte er zwei Kinder erkennen, die sich an eine Spalte klammerten. Während er hinsah, begann ein Mann, die Leiter hinaufzusteigen. Dann verschwamm wieder alles vor seinen Augen.

Tristal kam und breitete eine Wolldecke über ihn.

»Da ist deine Axt«, sagte er. »Sie ist noch vor dir runtergekommen.«

»Tapferes Mädchen«, murmelte Tor. »Laß sie noch ein wenig größer werden, dann kann man überall mit ihr hingehen.«

»Du bist zu alt für sie.«

»Schade. Wirklich schade.«