ACHTZEHN
Stel blieb mit den Leuten mehr als drei Wochen lang im Zentrum des Wissens. Mit dem Papiermachen hatte es nicht besonders geklappt, weil nicht das richtige Material vorhanden war. Aber mit Pappel-holz waren sie vorangekommen, sobald sie gemerkt hatten, daß sie dünne Späne machen und die Fasern weichschlagen mußten. Das Hauptproblem war Wasser. Bei dem Verfahren brauchte man es massenweise, und es gab kaum welches.
Endlich gelang es ihnen, einen Ledereimer voll wäßrigen Papierbreis auf ein Tuch zu gießen, das man auf einem flachen Felsen ausgebreitet hatte, ihn mit einer Rolle auszuwalzen, wobei das Wasser größtenteils herausgedrückt wurde, und ihn in der Sonne trocknen zu lassen. Das Papier war ungleichmäßig dick und ein bißchen klumpig, aber es war un-bestreitbar Papier. Besonders Howarth war entzückt.
Die anderen Leute im Zentrum des Wissens ließen Stel mit Fragen keine Ruhe. Er war eine neue Dimen-sion für sie. Sie lachten oft über ihn, wenn er von Dingen aus der Zeit des Feuers nichts wußte, Dinge, die sie wiederum gut kannten. Bei ihnen war das Wissen nicht ganz so völlig ausgelöscht worden wie bei den frühen Pelbar. Aber er klärte sie über vieles auf, nicht nur in bezug auf Geographie, die Völker, die gegenwärtig das Land bewohnten und ihre Kul-turen, sondern auch über die praktischen Dinge, von denen sie anscheinend immer noch so wenig wußten.
Es war für Stel nicht schwer zu begreifen, warum Elseth in ihrem Tal Felsen bearbeitete. Künstlerisches Ausdrucksbedürfnis war im Übermaß vorhanden.
Sogar Holzschüsseln und Löffelgriffe wurden indivi-duell mit eigenwilligen Schnitzereien versehen.
Gelegentlich überraschten Stel und die Pendler einander mit einem Stück erhalten gebliebenen Wissens, das sie teilten – am erstaunlichsten, als Otta, ein dünner, alter Mann, der das Vieh des Zentrums hü-
tete, eine Melodie auf einem Saiteninstrument mit Schallkörper spielte und Stel ihn sofort auf seiner Flöte begleiten konnte. Es war das ›Lied an Aven, den Quell der Freude‹. Die Pendler nannten es ›Die Freude des menschlichen Strebens‹, hatten aber keinen Text dazu. Dieses Erlebnis ließ sie alle verstummen, während sie in der Sonne saßen und darüber nach-sannen, wie sonderbar die Vergangenheit doch war.
Ein Reiter kam langsam in die geschlossene Schlucht. Es war Shay. Er stieg steif ab. »Diese ver-dammten Steinstapler sind auf uns vorbereitet. Sie haben Mauern gebaut, hohe Mauern, und andere Verteidigungsanlagen. Pross ist schon in der Nähe von Cull. Alle Brunnen im Norden sind versiegt. Ich habe Tad und seine Brüder getroffen, mit zweiundzwanzig Stück Vieh, sie wollten auch zum Fluß.«
Howarth seufzte. »Sie müssen ihr Wasser und ihr Gras mit uns teilen. Wir können nicht zugrunde gehen, nur weil sie den Weg zum einzigen Wasser ver-sperren. Es wird wieder zum Kampf kommen.«
»Vielleicht könnt ihr zu einer Verständigung mit ihnen gelangen«, sagte Stel.
»Das haben wir versucht. In guten Jahren treiben sie manchmal Handel mit uns, aber bei Dürre tun sie das nicht. Vielleicht haben wir uns falsch verhalten.
Wir haben in unserer Verzweiflung ihre Gärten zerstört. Aber sie haben längst nicht soviel gelitten wie wir.«
»Ihr habt fast keine Waffen. Sie werden euch ab-schlachten.«
»Sie haben auch fast keine. Keine von unseren Gesellschaften kämpft. Wir haben unsere Studien, sie haben ihre Zeremonien. Wir beschäftigen uns und gehen einander aus dem Weg.«
»Außer, wenn Dürre herrscht«, sagte Shay.
»Ja. Die Dürre fördert das Schlimmste im Menschen zutage, da hilft keine Hoffnung jeder Plan steht in Frage.«
Stel lächelte. »Aber nach der Dürre kommt wieder Regen, dann schießt das Gras der Sonne entgegen.«
»Wenn ihr beide fertig seid mit euren Reimereien, sollten wir vielleicht etwas unternehmen.«
Howarth stand auf und klopfte seine zerlumpten Shorts ab. »Debba wird das gar nicht gefallen. Es ist eine schlimme Zeit.«
Debba, Howarths Frau, gefiel es tatsächlich nicht.
Aber sie machte den Vorschlag, daß Stel ihnen helfen könnte. Er wußte viel über Kriegführung, woran weder die Pendler noch die Steinstapler jemals auch nur im Traum gedacht hätten. Stel wunderte sich darüber.
Die Lage wurde ständig verzweifelter. Bald darauf kam Eis von irgendeinem Ort hergeritten, der das nördliche Navajo-Becken hieß. Auch dort wurden Wasser und Futter knapp.
Bald zogen Gruppen von Pendlern einzeln auf den Fluß zu. Die Trockenheit ihrer Weidegebiete hatte zur Folge, daß sie weit auseinander lebten, in kleinen Gruppen, und die ganze Pendlergesellschaft bestand insgesamt aus nicht mehr als vierhundert Menschen mit etwa sechzehnhundert Rindern und Pferden. Als Stel in dem sich sammelnden Zug zum Wasser gefangen wurde, stellte er fest, wie arm diese Leute waren und wie mager das Vieh. In dieser Hitze und Dürre wollten die Pendler nichts anderes als überleben. Als er sie befragte, stellte er fest, daß sie allgemein wenig organisiert waren, ausgenommen im Bil-dungsbereich, hauptsächlich in Geschichte und Gei-steswissenschaften, und daß sie zu einem gemeinsa-men, militärischen Vorgehen kaum fähig waren.
Als Howarths Familie auf den Flußklippen erschien, waren schon viele andere da. Ketten von Menschen reichten in rollendem Einsatz Eimer und Schläuche voll Wasser vom Ufer herauf, aber das war viel Arbeit mit wenig Erfolg, und das Vieh fand auf den Klippen nicht viel zu fressen.
»Wir werden die Steinstapler bitten, uns so viel Futter und Wasser zu geben, wie wir für einen Zug nach Norden brauchen. Aber es sind gut sechzig Meilen bis zur Furt, dann müssen wir über den Fluß und versuchen, die Berge zu erreichen – wenn wir das überhaupt schaffen. Dann sind da noch die Ziegenhirten, aber mit denen werden wir nicht so viele Schwierigkeiten haben.«
»Vielleicht könnt ihr mit den Steinstaplern verhandeln. Bietet ihnen doch ein paar von euren Rindern als Gegenleistung für das an, was ihr braucht.«
»Ich zweifle daran, aber versuchen können wir es.
Mach dir aber keine falschen Vorstellungen, Stel. Wir sind entschlossen zu überleben, selbst wenn das bedeutet, daß wir kämpfen und ihre kostbaren Gärten verwüsten müssen. Wir tun das nicht gerne, aber niemand wird hier einfach aus dem Leben scheiden, nur weil sie den einzigen Zugang zum Wasser ver-sperrt haben.«
Howarths Einstellung gab Stel Stoff zum Nachdenken. Der Alte war normalerweise ruhig und nicht kampflustig. Die Steinstapler hatten sich, wie es schien, eine funktionsfähige Lebensweise geschaffen und verweigerten sie anderen, während die weniger vorausschauenden, aber interessanteren Pendler das nicht getan hatten. Es lag eine gewisse Gerechtigkeit in dem, was Howarth sagte. Aber Stel hatte als Pelbar lange Zeit zu den Verteidigern gehört und wußte, was die anderen empfanden. Er berichtete Howarth kurz von seinen eigenen Erfahrungen mit den Au-
ßenstämmen vor dem Frieden.
»Der Unterschied«, sagte Howarth nachdenklich, »ist, daß sie euch brauchen und ihr sie. Die Steinstapler brauchen uns aber nicht. Wir haben ihnen Bildung angeboten, wovon wir weit mehr haben, aber sie halten wenig davon. Einige von ihnen glauben allen Ernstes daran, daß die Sonne nicht aufgehen würde, wenn sie sie nicht mit ihrem Gesang in den Himmel schöben. Komm! Reite mit mir nach Cull und schau es dir an. Mal sehen, was du davon hältst.«
Die beiden ritten im Schritt mit Shay zum Kamm des Hügels über der Trichteröffnung, die zum Tal der Steinstapler hinunterführte. Stel zügelte plötzlich sein Tier und hielt auch Howarths Zügel fest. Der Alte runzelte die Stirn.
»Schau«, sagte Stel, »eine Bodenfalle. Noch drei Schritte, und du wärst dringelegen.«
»Ich sehe nichts.«
»Hier«, sagte Stel und reichte dem Alten seine Zü-
gel. Er stieg ab, duckte sich unter den Köpfen der Pferde hindurch und scharrte mit den Händen Staub weg. Dann hob er ein Gitter aus leichten Zweigen hoch. Darunter war eine Grube, vielleicht eine Armlänge tief, mit spitzen Pfählen, die man in den Boden getrieben hatte. Stel stand auf, dann baute er alles wieder zusammen, bis es aussah wie vorher. »Wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich sagen, daß das Pelbararbeit ist«, meinte er.
»Das haben sie noch nie gemacht«, sagte Shay irri-tiert. »Und sieh dir diese Mauern an! Sie haben in letzter Zeit eine Menge daran getan.«
»Siehst du die Wachtposten? Ich glaube, ich sehe Männer darin. Nun. Schau hinunter! Ich glaube, sie haben auch Grabenfallen, nicht nur diese Gruben.
Das wird nicht einfach werden. Aber die Mauern sind nicht sehr solide. Es wird nicht viel Mühe kosten, sie zu durchbrechen, wenn es soweit kommt. Leitern wä-
ren das einfachste, hinter einer Deckung aus Rindern.
Ihr werdet Schleudern und Stöcke brauchen. Wenigstens kann ich euch allen Unterricht im Umgang mit dem Kurzstock erteilen. Was wird passieren, wenn eine Bresche in der Mauer ist, durch die die Rinder zum Fluß strömen? Das könnte lebensgefährlich werden.«
»Sie werden davonlaufen.«
»Seid ihr sicher? Zahlenmäßig sind sie euch überlegen. Keine Seite scheint schwere Waffen zu haben.
Es könnte sein, daß viel geschlagen und getötet wird.«
»Stel, dir gefällt das alles nicht. Mir auch nicht. Was habe ich für eine andere Wahl? Sie sind immer da-vongelaufen. Ich habe in den Aufzeichnungen nach-gesehen. So etwas ist bisher, soweit wir es festgehalten haben, viermal geschehen. Jedesmal kam es zu einem Kampf, dann liefen sie davon und versteckten sich. Wir tränkten die Tiere ausgiebig, fütterten sie, luden ihnen Wasser auf und zogen in die Berge. Jedesmal war es schwer. Es gab immer ein paar Tote, und einmal war es ganz schrecklich. Aber über diese Verteidigungsanlagen gibt es keinerlei Aufzeichnungen.«
»Mir sind sie alle vertraut. Vergeßt eines nie! Wenn ihr eine Falle umgangen habt, werdet ihr versucht sein zu glauben, ihr hättet es geschafft. Für die Un-achtsamen wird immer noch eine Falle da sein. Mir gefällt das nicht. Sie sind von irgendeiner Seite beraten worden. Schaut – sind das Speere, was ich da unten sehe? Da, bei der Mauer?«
»Speere? Meine alten Augen sehen nicht mehr so gut.«
»Ja«, sagte Shay. »Es sind Speere.«
»Wie sieht es beim Fluß aus? Könnten wir über die Klippe hinunterklettern und uns ihnen von hinten her nähern?«
»Da haben sie auch Mauern«, sagte Shay. »Das hat Dres gesagt. Sie haben flußaufwärts von Cull Gras gemäht.«
»Offenbar sind sie auf uns vorbereitet, Howarth.«
»Was empfiehlst du?«
»Sprecht mit ihnen! Wenn das nichts bringt, setzt die Fallen bei Nacht außer Betrieb, aber so, daß sie es nicht merken. Dann greift ihr im Schutz der Rinder mit Leitern und Krummstäben die Mauern an, um sie niederzureißen. Es ist eine miserable Mauer. Sie sollten sich schämen.«
»Gut, daß sie das nicht tun. Wir müssen jetzt alles vorbereiten. Stel, du solltest dabei sein, wenn wir mit ihnen sprechen, aber das Reden übernehmen wir. Es ist unser Problem. Dich kennen sie nicht.«
Bei Sonnenuntergang hatten sich die Familienoberhäupter versammelt und besprachen sich. Sie waren mit Stels Plan einverstanden, denn selbst hatten sie keinen. Er zeichnete ihn in Umrissen in den Staub.
»Wir sollten ein paar Leute auf dem Fluß hinschik-ken«, meinte ein Mann.
»Shay sagt, daß da auch Mauern sind. Mit so wenigen Leuten«, entgegnete Stel, »braucht ihr einen Mas-senansturm, um die Mauern zu durchbrechen. Die einzig reelle Chance ist, daß sie davonlaufen, wie sie es in der Vergangenheit getan haben, und euch das Feld überlassen. Sobald ihr einmal in der Stadt seid, werden sie nicht schlechter kämpfen als ihr, nehme ich an. Schließlich ist es ihre Heimat. Ich weiß, daß ich kämpfen würde. Vielleicht werdet ihr viel Vieh verlieren, aber das Vieh könnte sie auch in Verwirrung stürzen.
Sie haben einen sehr großen Fehler gemacht, als sie diese alberne Mauer im schmalen Teil vom höchsten Punkt nach unten bauten. Hier haben wir den Vorteil der höheren Position, und sie müssen zu uns hinauf-schauen. Besonders bei Wurfgeschossen ist das von Bedeutung. Wenn ihr eure Streitkräfte aufteilt und einige zum Fluß hinunterschickt, dann haben die Steinstapler den gleichen Höhenvorteil. Wir dürfen auch nichts überstürzen. Wenigstens einen Tag brauchen wir noch.«
»Den Tag haben sie auch.«
»Ja, aber diese Zeit ist erforderlich, um mit ihnen zu sprechen, Vorräte zu beschaffen, alles zu koordi-nieren und vor allem anderen, um die Fallensysteme zu studieren, so daß man sie bei Nacht außer Betrieb setzen kann. Wenn das lautlos geschieht, so, daß sie es nicht merken, sind sie verblüfft, wenn die ganze Streitmacht über ihre Verteidigungsanlagen hinweg zur Mauer zieht.«
»Ist das zu machen?«
»Ja, mit vielen Leuten und größter Vorsicht. Grabenfallen zerlegt man und füllt sie auf, dann deckt man sie wieder zu. Springfallen montiert man ab. Bei Stolperfallen löst man die Schnur, so daß sie unberührt aussehen. Und wir brauchen einige Stämme als Rammböcke. Seid ihr gewöhnt, euch leise zu bewegen?«
»Ich kann Kaninchen mit bloßen Händen fangen«, sagte eine Frau.
»Ist das eine allgemein verbreitete Fähigkeit?«
fragte Stel.
»Wir können uns ziemlich gut anschleichen, wie du dich vielleicht erinnerst«, sagte Shay.
Stel lachte, und als er aufblickte, sah er Elseth.
»Und du auch, Elseth. Hallo. Was machst du hier?«
»Ich wußte, daß es soweit kommen würde. Die Klippe kann warten, und wenn ich nicht zurückkomme, macht es auch nichts.«
Daraufhin schwiegen alle unbehaglich. »Redet unbedingt zuerst mit ihnen«, sagte Stel nach einer Pause. »An Elseths Klippe gibt es noch so viel zu mei-
ßeln.«
Zur selben Zeit gab auch Ahroe dem Kreis der Priester den Rat, Gespräche zu führen.
Teleg, der Oberpriester, ein beleibter, alter Mann, der sich für weise hielt, sagte mit aneinanderge-drückten Fingerspitzen: »Du hast uns erzählt, daß du aus einer ummauerten Stadt kommst. Angenommen, diese Leute kämen zu eurer Mauer, verlangten mehr Hilfe, als ihr geben könntet und bedrohten euch, wenn ihr sie ihnen nicht gäbt?«
»Das ist schon oft geschehen.«
»Und habt ihr dann mit ihnen gesprochen?«
»Immer. Jede Stadt hat einen Mitteilungsstein, an dem gefahrlos Gespräche geführt werden können.
Wir gaben, soviel wir konnten, und wenn weiteres Geben uns in Gefahr gebracht hätte, verteidigten wir uns.«
Teleg schürzte die Lippen. »Und wieviel müßten wir da geben?«
»Das könnte mehr als die Hälfte eurer Vorräte sein, wenn sie benötigt würden. Ihr habt genug. Wasser ist unbeschränkt vorhanden. Vergiß nicht, bei einem Kampf würden Menschen sterben.«
»Nicht bei unseren Mauern.«
»Diese Mauern? Die würden keinem wütenden Truthahn standhalten, geschweige denn einer Herde durstiger Rinder. Sie sind immer noch nicht richtig versteift, untereinander verbunden oder in irgendeiner Weise verzahnt.«
Teleg überlegte. »Wir haben die Mauern gemäß den Vorschriften der Gottheit gebaut, haben ausschließlich natürliche Materialien und natürliche Verfahren benutzt, genau wie bei diesen massiven Klippen. Wir vertrauen darauf, daß die Gottheit uns hilft.«
»Das haben wir auch immer getan. Aber wir waren der Ansicht, daß Aven oder die Gottheit es niemandem abnehmen zu versuchen, sich je nach seiner In-telligenz selbst zu helfen.«
»Ahroe, der Priester hat gesprochen«, flüsterte Ilage entsetzt.
»Ach so. Ja. Es tut mir leid«, sagte Ahroe. »Ich werde euch helfen, wenn ich kann. Aber die beste Möglichkeit, wenn es geht, ist, nicht zu kämpfen.«
Teleg klatschte in die Hände und beendete damit die Konferenz.
Der Wind stieg mit der Sonne auf und türmte Wolken übereinander. Als Stel sie bemerkte, fragte er, ob in ihnen vielleicht Regen sein könnte. »Ja, vielleicht für die Berge«, sagte Shay. »Hier nicht.«
Die Pendler schickten eine Delegation hinunter an den Rand des Fallenfelds – sechs Männer und sechs Frauen, alles Familienoberhäupter. Ihre Fahne, die das große Tier auf weißem Grund, auf rotem Sockel und mit einem Stern zeigte, flatterte steif im auffri-schenden Wind. Stel blieb auf einer Seite. Wenigstens fünf Priester der Gottheit, in Schilfgewändern, stiegen die Mauern herunter und gingen durch das Fallensystem den Pendlern entgegen.
»Seid gegrüßt«, sagte Howarth. »Wir sind gekommen, weil wir Wasser und Weidemöglichkeiten am Flußufer brauchen. Wir wollen Zugang zum Fluß.
Wir sehen, daß ihr das Tal völlig zugemauert habt.
Wir bieten euch an, gegen das, was wir brauchen, Vieh zu tauschen. Oder dafür zu arbeiten. Wir sind übereingekommen, daß wir als Gegenleistung sogar für euch arbeiten würden.«
Ilage war beleidigt durch diese schroffe Erklärung.
Gab es ein Volk, das noch weniger Sinn für Manieren hatte? Und man brauchte sie ja nur anzusehen, in Lumpen und Fellen gingen sie gekleidet. Ein Seiten-blick zeigte ihm, daß die anderen ähnlich empfanden.
Er richtete sich auf. »Wir leben hier seit Anbeginn der Zeiten. Wir haben dieses Tal kultiviert und fruchtbar gemacht gemäß den Wünschen der Gottheit. Ihr habt es schon früher zerstört. Wir haben nicht genug für euch, und für euer Vieh haben wir keinen Bedarf. Wir haben so viele Tiere, wie wir brauchen.«
»Das ist also eine klare Weigerung?«
»Eine Weigerung? Nein. Es ist eine Erklärung. Ihr müßt uns Zeit geben, uns zu beraten. Wir werden nach dem Aufruf zum Vortrag am späten Vormittag zurückkommen. Dann geben wir euch Antwort. Bis dahin grüßen wir euch und wünschen euch eine ge-deihliche Zukunft unter unserem Vater, der Sonne, der uns von der Gottheit gegeben wurde, und den die Priester von Cull täglich preisen.«
»Beraten? Du in Gras gewickelte Ziege, du weißt genau, daß ihr euch schon entschieden habt. Das ist also eine Weigerung, ja? Darf ich euch daran erinnern, daß wir uns schon früher Essen und Wasser genommen haben, und das werden wir wieder tun, wenn wir müssen. Wir wollen keine Gewalt, sind aber notgedrungen dazu gezwungen.«
Stel zuckte zusammen. »Howarth, vielleicht gibt es irgendeinen Gegenstand, den sie zum Tausch in Betracht ziehen würden.«
Ilage wollte sich schon abwenden, aber das war ei-ne neue Stimme in einem fremden Tonfall. Wer war das? Ein kleiner junger Mann, dünn, aber kräftig gebaut, mit mächtigen Schultern, einem Bart und durchdringenden, grauen Augen.
»Was für einen Tausch schlägst du vor?« fragte Ilage mißtrauisch.
»Ich weiß es nicht genau. Was braucht ihr denn?
Welche Fähigkeiten fehlen euch? Vielleicht Bildung.
Ich bin kein Pendler, aber ich habe gesehen, daß sie kluge Leute sind. Ich habe viel von ihnen gelernt.
Vielleicht könntet ihr das auch. Oder es gibt auch Fertigkeiten im Bauhandwerk. Eure Bauwerke sind, verglichen mit vielen anderen Gruppen, ein klein wenig ... nun, veraltet, um es freundlich auszudrük-ken. Ich will euch nicht kränken.«
Shay, der die Pferde hielt, lachte. »Letzte Nacht sagte er, ein wütender Truthahn könne diese Mauer einreißen.«
Ilage keuchte und wurde blaß. Das waren Ahroes Worte! Sie war also doch so etwas wie eine Spionin.
Er wußte auch nicht, was ein Truthahn war. Vielleicht eine Art Stier. Ilage verneigte sich. »Wir müssen uns beraten und werden, wie gesagt, zurückkommen und euch mitteilen, ob wir etwas brauchen, was ihr uns geben könnt.«
»Da stimmt etwas nicht«, sagte Howarth.
»Du warst ungefähr so diplomatisch wie eine Axt«, sagte Stel. »Als du wissen wolltest, wie man Papier macht, konntest du deine Bitte sehr viel geschickter vorbringen.«
»Wir hatten dir Unrecht getan. Außerdem war das wichtig, eine Sache, die wir erfahren mußten. Die hier hätten uns schließlich doch abgewiesen. Das hat nicht viel zu bedeuten. Hast du gesehen, wie dieser Gnom gesprochen hat?«
Als Ilage in der allgemeinen Ratsversammlung der Priester von der Begegnung berichtete, stand Ahroe draußen und sprach mit Boldar. »Sie sind überhaupt nicht wild und ungestüm. Ich habe sie von der Mauer aus gesehen. Sie sind dünn und zerlumpt. Nur einer hatte einen Bart und sah anders aus. Es wäre falsch, nicht zu verhandeln.«
Boldar lächelte und sagte: »Das werden die Priester entscheiden.« Er war überrascht, als Ren den Vorhang teilte und ihn hereinrief. Er blieb nicht lange fort. Ahroe machte sich Sorgen. Hatte sie diese Leute, die vergleichsweise reich und gut situiert waren, dabei unterstützt, die Notleidenden abzuweisen? Das war nicht nur unbarmherzig. Es war auch unklug.
Verzweifelte Menschen tun verzweifelte Dinge.
Boldar blieb nicht lange fort. Er kam langsam heraus; dann, noch ehe Ahroe sich fragen konnte, was man von ihm gewollt hatte, fesselte er ihr die Arme.
Sie trat und schlug um sich, aber er hielt sie fest, während drei weitere Männer Schnüre um ihre um sich schlagenden Beine wickelten, Schlingen um ihre Handgelenke legten und sie fesselten.
Ilage kam heraus und blickte auf sie herab, die keuchend vor seinen Füßen lag. »Schon als ich dich zum erstenmal sah, wußte ich, daß du eine Spionin bist. Ich habe es ihnen gesagt.«
»Eine Spionin?«
»Eine Spionin. Aber der Bärtige hat dich verraten.«
»Der Bärtige? Wer?«
»Er sagte, ein wütender Truthahn könne die Mauer niederreißen. Genau wie du es gesagt hast. Das war unklug. Aber die Gottheit schützt ihr Volk, und so wurde es uns noch rechtzeitig enthüllt.«
»Was ist ein Truthahn?« fragte Boldar.
»Das ist es ja. Niemand weiß es. Aber sie wissen es beide. Das ist der Beweis. Und du hast unsere Gast-freundschaft in Anspruch genommen, während du nichts anderes warst als eine Schlange im Garten.« Er schauderte, dann spuckte er sie an.
Ahroe war verwirrt. Sie wehrte sich und flehte, aber erfolglos. Man steckte sie in einen großen Rü-
benkeller und postierte eine Wache an der Tür. Der Posten war jung und hatte Pickel. Er grinste sie höhnisch an und bohrte in der Nase. Sie brauchte sich keine Sorgen zu machen. Man würde ihre Freunde besiegen, sagte er. Dann würden sie alleine sein, sie solle einmal raten, was er dann mit ihr machen würde.
»Frag Ilage, wer ihm bei seinem Verteidigungssy-stem geholfen hat«, sagte sie, ohne die Drohung zu beachten. »Würde das ein Spion tun?«
Der Jüngling lachte. »Da war doch auch ein Trick dabei. Ilage sagt, du hättest ein gutes System entworfen, um uns in dem Glauben zu wiegen, wir seien in Sicherheit. Dann hättest du deinen Freunden genau mitgeteilt, wie die Verteidigung angelegt war, so daß sie sie umgehen konnten. Sie studieren jetzt das System genau, um zu sehen, welche Schwächen du eingebaut hast.«
»Dann solltet ihr lieber das ganze System aufgeben.
Schließlich und endlich war das die Idee eines Spions.«
»Es ist zu gut.«
»Das ist völliger Unsinn.« Während Ahroe redete, glaubte sie, endlich ein wenig mit den Fesseln an ihren Handgelenken voranzukommen. Nein. Es war unmöglich.
Auf dem Berg über Cull trafen sich die Pendler zur vereinbarten Zeit. Der Wind wurde immer noch stärker, blies um die Beine der wartenden Männer und Frauen. Von Cull kam niemand.
»Es ist genau, wie ich sagte. Wir sollten sie jetzt angreifen.«
»Da sind immer noch die Fallen. Es ist sonderbar.
Ich verstehe das überhaupt nicht. Vielleicht gab es außer Scule noch einen Pelbar im Westen. Es ist alles so vertraut.«
»Vielleicht ist es eine klassische Methode, wie bei der Gleichheit unserer Lieder«, sagte Howarth.
»Nein. Das ist zu typisch Pelbar.«
»Nun, was schlägst du vor?«
»Die Nacht abwarten und dann die Fallen außer Betrieb setzen. Inzwischen gehen wir weg, damit sie uns nicht sehen können. Hör mal, schreit uns dieser Mann auf der Mauer nicht etwas zu?«
»Ich kann es nicht verstehen. Ich glaube, er sagte, sie hätten unseren Spion erwischt. Cano, weißt du etwas von einem Spion?«
»Nein«, sagte sie schlicht. »Ich weiß von keinem.
Sonst jemand?«
Alle machten verständnislose Gesichter. Sie wendeten ihre Pferde und ritten über den Hügelkamm zu-rück, direkt in einen heißen Windstoß hinein, als sie den höchsten Punkt erreichten. Howarth schaute blinzelnd zum Himmel. »Wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich schwören, daß in diesen Wolken Regen ist.«
»Für die Berge«, sagte Shay.
Ahroe hörte in ihrem Gefängnis ein Geräusch an der Tür. Es war Mati, die ihr Garet zum Stillen brachte.
Die dicke Frau setzte sich vor Ahroe hin und hielt ihr das Baby an die Brust. Ilage kam nach ihr herein.
Ahroe errötete ob ihrer Blöße, aber der Priester hatte sich verändert, er und der Wächter schienen den Anblick zu genießen.
Ahroe senkte den Kopf und sagte: »Garet muß essen, aber sie sollen gehen.« Mati erwiderte nichts.
»Mati, ich bin keine Spionin. Ich verstehe es nicht. Ein Truthahn ist ein großer Vogel im Osten. Er lebt in den Wäldern. Jemand von denen muß dort gewesen sein.«
»Er hat sogar so gesprochen wie du«, sagte Ilage.
»Ein entarteter Akzent.«
Ahroe fuhr zusammen. »Welche Farbe hatten seine Augen?«
»Seine Augen? Ich kann mich nicht erinnern. Ich war beschäftigt. Ich brauchte nicht auf Einzelheiten zu achten, um zu sehen, wie fremd er war. Er sah seltsam aus mit seinem Bart, und das Haar hatte er wie eine Schüssel geschnitten.«
»Er wollte verhandeln, nicht wahr, nicht kämpfen?« fragte Ahroe, die sich einer Ohnmacht nahe fühlte.
»Ja, natürlich. Auch darin seid ihr euch einig, daß ihr glaubt, ihr könntet auf diese Weise das von uns bekommen, was ihr unserer Mauer wegen nicht erreicht habt. Siehst du? Du verrätst dich noch immer.«
Es war also Stel. Ihr Stel. Nach einer so langen Reise hatte sie ihn doch tatsächlich von der Mauer aus gesehen, ohne es zu wissen. Sie hatte geholfen, gegen Stel Verteidigungsanlagen zu errichten, und morgen würde er durch das Fallenfeld kommen, ohne im Traum zu ahnen, daß es da war, und in Speere laufen, die mit ihrer Hilfe gegen ihn geschärft worden waren.
Sie blickte mit Tränen in den Augen zu Mati auf.
»Mati, du mußt mich heute nacht vor ihm schützen«, sagte sie.
»Und wer schützt uns vor dir?«
»Bitte, laß Garet bei mir!«
»Er hat nichts getan. Wir werden ihn sogar behalten, wenn man dich hinrichtet. Diese letzte Freundlichkeit erweisen wir dir, aber nur um des Kindes willen. Er wird aufwachsen, wie es sich gehört.«
»Gütige Aven, Stels Kind soll dazu erzogen werden, Rüben auszugraben und zu glauben, daß Lieder die Sonne hochschieben. Er muß an den Heart-Fluß zurückgebracht werden.«
»Wenn es einen solchen Ort gibt. Ich bezweifle es.«
»Bitte laß mich heute nacht von Boldar bewachen!«
»Wozu? Damit du ihn überreden kannst, dich laufen zu lassen?«
»Ihm kann ich vertrauen. Der hier ist ein zweiter Dilm.« Der junge Mann stand auf und spuckte sie an, aber der Speichel traf Matis Ohr. Sie schrie auf und ging auf ihn los. Er duckte sich und lief zur Tür hinaus; sie warf ihm einen Stein nach. Garet lag stram-pelnd und schreiend auf dem Boden. Mati kam zu-rück und hob ihn auf. Sie war immer noch wütend.
Ihre Augen sprühten Blitze, als sie Ahroe ansah.
Dann nahm sie Garet und stapfte hinaus. Ilage stand da und schaute lächelnd auf sie herab.
»Wie dein Komplott, so bist auch du bloßgestellt.«
Ahroe beugte sich vor. »Was kann ich dagegen tun?«
»Offensichtlich nichts.« Er drehte sich um und ging.
Bald darauf kam Boldar mit finsterer Miene. »Jetzt muß ich also hierbleiben. Keine Angst. Entkommen wirst du mir nicht.«
»Boldar, bedecke mich!«
Er schaute sie an und wandte den Kopf ab.
»Ich kann nicht so hier sitzen bleiben.« Sie lachte beinahe hysterisch. »Jetzt habe ich wohl meinen ganzen Dahmenstolz verloren, nicht wahr? Aber du bist wenigstens anständig, Boldar. Bedecke mich! Du siehst doch sicher ein, daß das unmoralisch ist.«
Der große Mann drehte sich schweigend um, hockte sich auf die Fersen nieder, zog ihr mit unge-schickten Händen das Hemd und die tief ausge-schnittene Tunika über und band die Schnur zu. Beide waren sie verlegen.
»Boldar, weißt du, daß Menschen sterben werden?
Können die Priester nicht irgendeine Vereinbarung treffen?«
»Sei still!« sagte er und setzte sich in die Tür. »Ich habe dir nichts zu sagen.« Als der Jüngling zurückkam, warf ihm Boldar einen Blick zu, und er ging wieder.
Die Nacht kam über die Schluchten und wurde tiefer. Ahroe bat um etwas zu trinken. Ohne ein Wort gab ihr Boldar Wasser und kehrte dann an seinen Platz zurück. Schlief er? Nein. Jedesmal, wenn sie sich regte, schaute er zu ihr hin. Sie hatte schon eine Weile langsam und leise an den Fesseln gescheuert, ehe sie spürte, wie die erste Schnur nachgab. Glückli-cherweise war es dunkel. Boldar saß immer noch teilnahmslos in der Tür. Selbst hier unten im Tal wurde der Wind jetzt böig und blies ihm gelegentlich Staub ins Gesicht.
Zur gleichen Zeit zogen Stel und eine Gruppe von etwa dreißig Mann durch das Fallenfeld und entschärften es. Man verständigte sich nur mit Handzei-chen und Berührungen, wie Stel es vorgesehen hatte.
Hinter ihnen brachte eine noch größere Gruppe Sand herbei, schüttete ihn in die Gräben und glättete sie wieder, bis sie aussahen wie vorher. Stel schien genau zu wissen, wo er suchen mußte. Shay wurde miß-
trauisch. Das war zu gut gemacht. Er beobachtete Stel genauer.
Endlich waren sie direkt unter der Mauer und konnten die Steinstapler sprechen hören. Sie redeten von dem Spion, von der Ernte und von den Schwierigkeiten mit der Bewässerung. Mindestens vierzig Mann waren da, aber die meisten schliefen.
Shay berührte Stel an der Schulter und flüsterte: »Jetzt könnten wir sie überfallen.«
»Sie sind mehr als wir. Wir brauchen die Stoßkraft der Rinder. Wir müssen in voller Stärke anrücken und tief in das Tal hinein vordringen, ehe sie sich sammeln können. Sonnenaufgang.«
Das schien recht vernünftig. Als sie wieder am Feuer waren, war Stel genauso unverhohlen verblüfft wie die anderen. Das Fallenfeld war wunderbar angelegt. »Es ist, als hätte Oet es entworfen. Sie leitet die Garde von Pelbarigan. Das ist völlig unbegreiflich.«
»Nun, die Fallen sind jetzt alle weg, nicht wahr?«
»Ich glaube schon. Wir haben den Hügel wirklich ganz abgesucht. Und wir haben Wachen postiert, um dafür zu sorgen, daß sie nichts Neues mehr machen.«
»Dann laß es auf sich beruhen. Mit der Zeit werden wir es schon erfahren. Macht ein wenig Musik!«
»Leise. Wir wollen nicht, daß sie uns hören.«
»Bei diesem Wind hört niemand etwas.«
Sie spielten eine Reihe von Liedern mit einer Gruppe von Saiteninstrumenten und Stels Flöte. Dann steckte er sie in seinen Gürtel und sagte: »Falls ich morgen früh getötet werden sollte, möchte ich jetzt doch noch ein wenig schlafen. Schlaft auch ein bißchen und springt dann viel.« Er ging in den Schatten zu seinem Schlafsack, entrollte ihn und kroch hinein.
Shay stand neben Elseth und beobachtete ihn. »Ich traue ihm nicht. Das mit den Fallen ist irgendwie seltsam.«
»Du traust keinem meiner Freunde, Shay.«
»Dein Freund?«
Elseth legte den Arm um ihn. »Bruder, er hat etwas für mich getan – einfach dadurch, daß er mit mir gesprochen hat. Er wollte nichts von mir, nur Gedanken austauschen, nur Gesellschaft.«
»Mach dich nicht noch einmal zum Narren, Schwester.«
»Oh, ich weiß, er ist ein normaler Mann, aber so völlig frei. Er kam daher und sagte: ›Hier bin ich. Ich will dir helfen. Komm herunter, dann richte ich dir dein Gerüst.‹ Es war in ziemlich schlechtem Zustand, weißt du.«
»Viel hat er nicht getan.«
»Er hat mir ein anderes Verhaltensmuster gezeigt.
Mit ihm ist alles in Ordnung. Er hat eine Menge durchgemacht. Er hat sich in sich selbst zurückgezo-gen. Er ist so unabhängig wie ein Kaktus und braucht nur ganz gelegentlich ein bißchen Wasser.«
»Aber das mit den Fallen verstehe ich nicht.«
»Ich auch nicht. Vielleicht erfahren wir es noch.«
Im pechschwarzen Keller in Cull hörte Ahroe endlich Boldars gleichmäßiges Schnarchen, leise, aber zuver-lässig. Sie riskierte es, die Schnüre fest an der Felswand zu reiben. Nach einer, wie ihr vorkam, schrecklich langen Zeit gaben sie endlich nach. Sie arbeitete zum Wahnsinnigwerden lange an den Fuß-
fesseln. Als sie aufstand, wäre sie fast wieder hinge-fallen, so steif war sie. Sie trat vorsichtig und lautlos über Boldar hinweg und tastete sich in Richtung auf den Kinderhort an der Mauer entlang.
Als sie durch die Tür ins Haus schlüpfte, sah sie undeutlich Reihen von Betten. Sie griff vorsichtig mit der Hand hinein und stellte fest, daß sie alle leer waren, auch das von Garet. Sie mußte es bei Mati zu Hause versuchen.
War das er erste Lichtschein des Tages im Osten?
Ahroe schlüpfte durch die Straße und in Matis Hin-terhof. Hinter der Tür erkannte sie den schwachen Umriß der älteren Frau in einem Nebenzimmer. Zwei Babies schliefen in einem großen Korb neben ihr.
Schnell fuhr Ahroe mit einem Finger über die Gesichter, tastete nach dem Kinn. Garets war gespalten – wie das von Stel. Sie hob ihn auf und stahl sich in die Nacht hinaus. Ja, es begann wirklich zu dämmern.
Sobald sie die Felder erreicht hatte, ging sie eilends auf die obere Mauer zu. Die vier Wachstationen, die sie selbst aufgestellt hatte – zu gut, dachte sie jetzt –, ragten vor ihr auf. Es wurde heller. Auch der Wind verstärkte sich. Dieser Wind brachte sicher Regen.
Garet begann zu weinen. Ahroe stopfte ihm die Ecke seiner Decke in den Mund und zuckte bei dieser Un-annehmlichkeit für ihr Kind zusammen. Besser ge-knebelt als ein Ursprünglicher, dachte sie.
Hinter ihr verrieten Lichter und Rufe, daß ihre Flucht entdeckt worden war. Sie mußte schnell sein.
Bald würde man sie sehen können. War das ein Re-gentropfen? Nein. Es war nicht möglich.
Der einfachste Aussichtspunkt wäre für sie die Südstation beim Felsvorsprung. Mindestens zehn Wachen sollten sich dort befinden. Die Rufe hinter ihr wurden lauter. Jetzt war sie sicher zu sehen. Es dämmerte. Aber sie mußte erst einmal stehenbleiben und sich auf den steinigen Boden knien. Waren die Wächter wach? Nein. Getreu ihrer behäbigen Natur lagen sie alle im Schlaf. Die Gottheit würde sie schützen. Sie würden ja schließlich gebraucht werden, um die Sonne hochzuschieben.
Ahroe hörte Schritte hinter sich. Es war Boldar, der schnell näherkam. Sie kletterte die Mauer hinauf und wollte über das Fallenfeld. Eine Bö blies die Decke weg, und Garet fing an zu schreien.
»Kehrt um!« schrie Ahroe. »Es ist eine Falle. Kehrt um!« Auf der Kammlinie erschien eine Reihe von Gestalten. Ahroe schrie wieder, ihre Beine arbeiteten mit aller Kraft. Über ihr löste sich eine Gestalt aus der Reihe.
Boldar hatte sie fast erreicht. Ahroe kämpfte sich weiter, und währenddessen flitzte die Gestalt von oben an ihr vorbei. Sie sah, wie sie nach einem Stock im Gürtel griff. Einem Stock? Der andere stieß mit einem dumpfen Krach mit Boldar zusammen. Der Hü-
ne ging mit einem Schrei zu Boden.
Ahroe schrie wieder: »Kehrt um! Zurück! Sie warten auf euch. Da sind Fallen.« Sie keuchte. Eine Frau kam auf sie zu, und Ahroe warf ihr spontan Garet in die Arme, damit sie weiterlaufen konnte. Die Rinder drängten nervös durcheinander und muhten. Wieder schrie sie der vorrückenden Reihe von Tieren und Menschen zu: »Kehrt um!« und schwenkte die Arme.
Eine Bö warf sie beinahe um, und mit dem Wind kam ein Regenschauer, dann ein Guß. Ein Mann packte sie bei den Schultern. »Was ist los?« schrie er gegen den prasselnden Regen an. »Wer bist du? Du gehörst nicht zu denen.«
»Bleibt stehen! Das ganze Feld ist voller Fallen. Ihr kommt nicht bis zur Mauer.«
»Stel hat uns gestern nacht gesagt, wie man sie ab-baut.«
»Stel? Stel? Wo?« Sie wirbelte herum und schaute zu Boldar hin, über den sich, jetzt weit unten am Abhang, ein Mann beugte. Regenschauer machten die beiden fast unsichtbar.
Der Hüne saß im Regen und schrie: »Du hast mich ins Auge gestochen. Du hast mein Auge zerstört.«
Stel sah sich seine Flöte an, die er aus dem Gürtel gerissen hatte, weil er momentan dachte, es sei sein Kurzschwert, als er sie dem Mann, der diese Frau jagte, hineinstieß.
Elseth trat heran und gab Garet an Stel weiter.
»Steh nicht herum, Stel! Er ist verletzt.« Sie ging zu Boldar und kniete neben ihm nieder. »Bleib sitzen! Es war nur seine Flöte. Die Wucht seiner Kunst hat dich geblendet. Leg dich hin, damit ich es mir ansehen kann.«
Stel hatte völlig verblüfft das Baby genommen und schaute ihm nun ins Gesicht, das vom Weinen ganz verquollen war. Garet öffnete die Augen, um von neuem Atem zu holen. Grau. Ein Regenguß klatschte dem Kleinen ins Gesicht, und Stel drückte ihn gegen seine Schulter. Dann runzelte er die Stirn, überlegte, schaute das Kind wieder an. Überall auf dem Hang waren Rinder, sie irrten umher und muhten ängstlich.
Etwas in diesem Gesicht war ihm vertraut.
Der Regen prasselte mit voller Wucht auf sie nieder, und die erschreckten Rinder konnten nicht getrieben werden, sondern drehten sich um und rannten davon, während Männer und Frauen hinter ihnen herjagten.
»Mein Auge. Er hat es mir ausgestoßen«, schrie Boldar.
»Leg dich hin und mach es auf! Es ist nicht so schlimm. Laß sehen!«
»Hier ist alles voll Matsch.«
Shay rannte den Abhang hinunter. »Elseth, komm weg hier! Du wirst zertrampelt. Er wird dir weh tun.«
»Er ist ein Kind. Er hat sich das Auge verletzt.« Sie nahm den Kopf des großen Mannes in ihre Arme und hielt ihn so, daß sie die Verletzung sehen konnte.
Eine kleine Gruppe von Männern mit Speeren kam von der Mauer her, um Boldar zu retten, aber Stel ging, den Langbogen schußbereit – so schußbereit es mit diesem unerklärlichen Baby auf dem Arm möglich war – auf sie zu. Jemand war neben ihm.
»Geh weg! Wir wollen nur Boldar.«
»Mein Auge«, schrie Boldar.
»Hör auf, du Baby! Es ist schon gut. Da, es blutet doch nur.«
»Elseth, komm weg hier. Du bist mitten im Matsch.«
»Bist du das, Ahroe?«
»Nein. Ich Elseth.«
»Gut, ihr vier. Den Hügel hinunter mit euch, ehe ich jedem einen Pfeil in den Leib jage«, schrie Stel.
»Will mir vielleicht endlich jemand dieses Baby abnehmen?«
»Es ist dein Baby, Stel.«
»Das ist der bärtige Mann. Und die Frau, Ahroe.«
Fünf magere Rinder stürzten quer über den Hang, und die vier Ursprünglichen wichen zurück.
»Siehst du? Deinem Auge fehlt nichts. Es wird nur schön blau werden.«
»Du bist nicht Ahroe. Wer bist du?«
»Elseth. Ich habe es dir doch gesagt.«
Eine Kuh stieß Stel an und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Was? ›Dein Baby, Stel‹? Hatte er jemanden ›Ahroe‹ sagen hören? Er wandte sich der Gestalt neben sich zu, das Wasser lief ihm in Strömen herunter. Sie lachte, das Haar klebte ihr an den Bak-ken, über ihr Gesicht rann der Regen. Sie behielt die Gestalten weiter unten am Abhang ständig im Auge.
Stel fühlte sich plötzlich wackelig auf den Beinen.
Ahroe? Seine Ahroe? Was? Wie war es möglich? Und das Kind? Sein Baby. Es war sein eigenes Gesicht, das er da sah. Er schaute wieder hin, hielt Garets Gesicht in den Regen. Hatte er je so geweint? Nun, ihn hatte man auch nicht so dem Regen ausgesetzt.
»Behalt das Kind! Gib mir den Langbogen!« Er reichte ihn ihr.
»Ahroe? Ich verstehe nicht. Aber die Fallen. Du hast sie aufgestellt?«
»Ja. Für die wilden, bestialischen Pendler, wie die mir sagten. Es war mein Fehler.«
»Was? Der Regen ist so laut.«
Ahroe schrie ihm ins Ohr. »Es ist nicht wichtig.
Nichts ist wichtig. Wir sind wieder beisammen. Schau!
Es ist dein Junge, Garet. Siehst du sein Gesicht?«
»Garet?«
Stel setzte sich den Kleinen mit einem Schwung auf die Schulter, legte den Arm um Ahroe und drückte sie im Regen an sich. Sie hielt seinen Langbogen immer noch gespannt, einen Pfeil auf der Sehne. Das Gewimmel von Menschen und Tieren hatte den Hü-
gel verlassen, bis auf Boldar und Elseth, und Shay, der in der Nähe stand. Boldars Auge klärte sich langsam. Er konnte nicht verstehen, warum die beiden stummen Gestalten in dem ganzen Wirbel von Regen und Wind beieinanderstanden.
»Es ist Stel mit einer Frau und einem Baby«, sagte Elseth mit feuchtglänzendem Gesicht. Sie blies sich einige Tropfen von der Nase. Weitere strömten herab.
»Wer bist du?«
»Ich bin Elseth. Ich gehöre zu den Pendlern. Hast du Angst?«
»Ach. Nein. Was ist eigentlich los?«
»Wir stehen draußen im Regen. Es ist erst Ende August, und es regnet. Hast du es bemerkt?«
»Mein Auge. Es tut so weh.«
»Ja. Möchtest du nach Hause? Dann mußt du in diese Richtung gehen.«
»Nein. Da komme ich bald genug hin. Wenn es regnet, gibt es nichts zu tun. Einen Kampf gibt es heute wohl nicht. Ich möchte nur wissen, was eigentlich los ist.«
»Als ob wir das nicht alle wollten. Shay, was ist los? Warum hilfst du nicht beim Vieh?«
»Ich beobachte diesen klotzigen Steinstapler. Ich traue ihm nicht.«
»Stel ist doch hier.«
»Er scheint beschäftigt zu sein. Irgendwie. Unerklärlich.«
Elseth lachte wieder. »Es muß Ahroe sein. Seine Frau. Ein Wunder. Er hat mir von ihr erzählt. Sie ist bis vom Heart hierhergekommen. Weißt du, sie sieht mir ein wenig ähnlich. Älter. Und vielleicht dünner.
Und längst nicht so schön. Aber das ist in diesem Regen schwer zu sagen.« Sie lachte wieder und lehnte sich gegen Boldar. Dann klopfte sie ihm auf die Schulter und sagte: »Wir haben eine Menge Rinder zusammenzutreiben. Du mußt wohl allein nach Hause gehen. Komm, Shay! Ich glaube, Stel hat kein Wort von dem gehört, was wir gesagt haben.« Sie gingen den Abhang hinauf, Shay schaute zurück.
»Zum Teufel mit ihm«, sagte Shay.
»Mit wem? Stel?«
»Mit wem sonst. Ich dachte, er liebt dich.«
Elseth lachte wieder. »Das hat er, glaube ich, auch getan. Ich dachte, du hättest etwas dagegen. Sieh ihn dir doch an! Siehst du, was er geliebt hat? Nein. Er hat mich auch wirklich geliebt, ein wenig. Aber ich nehme den klotzigen Steinstapler.«
»Du spinnst!« Shay blickte zu Boldar zurück, der immer noch dastand und Stel und Ahroe anschaute.
Die beiden beachteten ihn nicht, und schließlich ging er, immer noch sein Auge haltend, durch den Matsch den Hügel hinunter. Elseth zerrte Shay von Stel und Ahroe weg. Sie packte seinen Arm mit erstaunlicher Kraft.
»Wir sollten dieses Baby unter irgendein Dach bringen«, sagte Stel. »Ich weiß einen schönen Felsvorsprung. Meine Sachen sind inzwischen völlig durchnäßt.«
»Meine sind noch da hinten in Cull. Vermutlich bekomme ich sie irgendwann einmal wieder.«
»Das ist mir alles nicht so wichtig. Aber ich verstehe es nicht. Es ist ein Wunder. Du bist wirklich hier.«
Er grinste sie an und schüttelte den Kopf. »Mir ist ganz schwindlig. Und unser eigener Junge.«
»Wir werden darüber sprechen.« Sie machten sich auf den Weg den Hügel hinauf, rutschten auf dem nassen Gras jeden Schritt aus, und als der Regen weiter auf die verlassene Mauer herunterprasselte, zerbröckelte ein Abschnitt davon und rollte in eine immer größer werdende Rinne, die Umrisse des Fallensystems erschienen undeutlich als eingesunkene, mit Regenwasser gefüllte Erde.