DREI
Ahroe hatte zugesehen, als die Gardisten und die drei Shumai wieder über die Eisbrücke zurückkamen und in flottem Tempo das Ufer hinauf auf Pelbarigan zu-gingen, um Bericht zu erstatten. Hagen und seine beiden Männer betraten die Stadt nicht, weil sie ihnen mit ihrer Größe und Eingeschlossenheit deutlich Unbehagen verursachte, aber die Gruppe unterhielt sich leise am Tor. Die Gardisten brachten ihnen Getränke und ein Geschenk von ausgepichten Körben, die das Wasser halten konnten und doch Reisen gut über-standen – besser als Keramik, die die üblichen, harten Wanderungen der Shumai nicht, lange vertrug.
Ahroe hüpfte und sank gleichzeitig das Herz, als sie hörte, daß Stel am Leben war. Vielleicht konnte sie ihn zurückholen. Sie hatte immer noch die Leidenschaft der Braut, obwohl ihr deren Erfüllung in letzter Zeit verwehrt worden war. Sie sehnte sich nach seinen geistreichen Bemerkungen, seinem schrulligen Lächeln und seinen weichen, grauen Augen. Und doch bedeutete seine Flucht, daß er nicht nur sie be-wußt zurückgewiesen, sondern auch noch alle ge-täuscht hatte. Kurz stieg Zorn in ihr auf und löschte ihre Hoffnungen aus. Stel hatte ein anderes Motiv, die Vision eines Lebens, das über ihr gemeinsames Leben hinausging, über Pelbarigan, ein Aspekt seiner selbst, den er nie angedeutet hatte.
Bei diesem Gedanken krampfte sich ihr ganzes Pelbar-und Dahmen-Gefühl für weiblichen Stolz zusammen. Einen Augenblick lang brachte sie ein schwindelerregender Zorn beinahe ins Taumeln. Sie würde ihn verfolgen und ihn zurückbringen, vielleicht sogar nur, damit sie ihn dann vor allen zu-rückweisen konnte. War sie nicht beim Kampf in Nordwall dabeigewesen? War sie nicht selbst dorthin gelaufen und hatte in der Linie der Gardisten gestanden, die die geschlagenen Tantal an der Flucht hin-derten? Stel hatte nichts dergleichen getan. Er war Bauhandwerker, Steinmetz, ein Stadtmensch.
Andererseits, was würde sie zu ihm sagen, wenn sie ihn eingeholt hatte? Und was, wenn sie es nie konnte – da draußen auf der riesigen, schneebedeck-ten Prärie, in den kahlen Wäldern? Sie wußte eigentlich wenig von der Wildnis, die am westlichen Flußufer begann. Wenn Stel sich weigerte, mit ihr zu gehen, was würde sie tun? Würde sie ihr Kurzschwert herausholen und ihn zwingen mitzukommen? Wenn er sich dann immer noch weigerte, wie wollte sie ihn zwingen? Würde sie ihn verletzen? Und wenn er mitkam, was dann? Was war mit der Familie?
Nach Nordwall war er sicher nicht gegangen. Das wäre einfach gewesen. Sie begann zu vermuten, daß er in Richtung Westen aufgebrochen war. Er hatte Jestaks Erzählung begierig und gespannt gelauscht. Er hatte den Shumai offensichtlich fasziniert zugehört und war mit einer Bande nach der anderen am Flußufer gesessen, hatte sie ausgefragt, mit seinen geschickten Händen ihre Ausrüstung repariert und ihnen dabei ihre Lebensgeschichten entlockt. Vieles davon hatte er sogar Sease für ihre Aufzeichnungen berichtet. Ein leichtes Angstgefühl überkam Ahroe.
Vielleicht wußte er mehr vom Leben im Westen, als ihr klar gewesen war. Sie erinnerte sich, daß er ihr von Gerüchten über ein riesiges Meer jenseits endloser Gebirge im Westen erzählt hatte, obwohl dort keiner der Shumai jemals gewesen war. Wer hatte ihm das gesagt? Sie erinnerte sich, wie seine grauen Augen ihren warmen, blauen Schimmer bekamen, wenn er über all dies Spekulationen anstellte. Er hatte sogar vorgeschlagen, daß sie einmal eine Reise dorthin machen könnten.
Zum Teufel mit ihm! Sie hatte einen Träumer geheiratet, der nicht fähig war, ein praktischer und nützlicher Gatte zu sein. Aber wenn sie nun wirklich schwanger war? Würde sie es wagen, mit diesem Argument an ihn zu appellieren? Sie wußte, daß er seiner Pflicht unverzüglich nachkommen würde. Aber das bedeutete, daß sie ihn anflehte, und das tat eine Dahmen niemals! Bei Männern war es angebracht, sie zu beherrschen. Und wenn sie zurückkehrten, wie konnten sie jemals in Pelbarigan leben? Es wäre unmöglich.
Vielleicht könnten sie nach Nordwall gehen oder in die andere Pelbarstadt, Threerivers, weit im Süden.
Während sie so dastand und nachdachte, tranken die Shumai ihren dampfenden Tee, aßen Kuchen mit Honigguß und unterhielten sich leise. Sie merkte, daß es einen Augenblick lang still wurde und blickte auf.
Die Shumai beobachteten sie, und einer grinste. Sein Blick war ihr zuwider, sie drehte sich auf dem Absatz um und hörte schwach hinter sich eine Shumaistim-me sagen: »Und warum sollte ein Mann so etwas verlassen?« Diesen Worten folgte ein häßliches Lachen, dann ein kurzes Murmeln von dem alten Mann, der Hagen hieß.
Etwa zur gleichen Zeit erwachte Stel. Er war ungefähr siebzehn Ayas weit nach Süden gezogen und hatte das Westufer nach einem einmündenden Bach abgesucht, der groß genug war, um schneefrei zu sein. Er wollte nach Westen. Aber er wollte keine Fährtensucher hinter sich – falls man ihn überhaupt verfolgte.
Er wußte, daß er müde war und nicht in der Lage, ei-ne längere Flucht durchzuhalten. Eine dumpfe Erschöpfung hatte sich seiner bemächtigt, und er bewegte sich betäubt und spielte seine jüngste Erfahrung durch, am Abend, nachdem er den ganzen Tag geschuftet hatte, die Aborte der Dahmens zu reinigen, Geräte zu polieren, die es nicht nötig hatten, zu waschen, zu kochen, zu putzen und zu backen, manchmal fast die ganze Nacht hindurch. Man hatte ihn ungerecht behandelt, mißbraucht. Er würde nicht zurückgehen. Niemals!
Aber wo wollte er hin? Das hatte er noch nicht durchdacht. Endlich hatte er einen Bach gefunden, stieg hinein und wanderte am Vormittag darin ein Stück hinauf, nur um zu sehen, daß das Bett schmal wurde und Schnee es zudeckte. Schwindlig vor Erschöpfung war er stehengeblieben, hatte sich an einen Ufereinschnitt gesetzt und getrocknetes Fleisch und Wegbrot aus der Tasche seiner Mutter gekaut. Dann hatte er sich in den Schnee am Ufer eingegraben und war in seinen mit Federn gefütterten Schlafsack ge-krochen. Der Tag war mattgrau, lautlos, bis auf das gelegentliche Pfeifen eines Kardinals. Einmal, als die Sonne ihren höchsten Stand überschritten hatte, blieben drei Tanwölfe, die oben auf dem Uferkamm da-hintrabten, stehen. Sie witterten in den leichten Hauch, der vom Ufer heraufstieg. Der Leitwolf knurrte tief in der Kehle, sein Rückenhaar stellte sich zu einem langen Grat auf. Dann drehten sich alle drei um und schnürten davon. Stel schlief nichtsahnend.
Als er dann erwachte, stellte er erschrocken fest, wieviel von diesem Tag schon vorbei war. Er war hungrig, schmutzig und unrasiert, und vor Erschöpfung schmerzte ihn noch immer jeder Knochen im Leibe. Aber geistig war er hellwach. Was hatte er getan? Jetzt war er ganz allein. Warum hatte er das getan? Er fühlte sich leer, ohne Ziel. Es war, als wäre ihm schlecht geworden und er hätte sich übergeben und schließlich sein ganzes Leben ausgespien. Er fühlte sich wie eine Haut, die nichts als Leere um-schloß. Was würde Ahroe tun? Nun, das mußte wohl ihre eigene Sorge sein. Aber die Schande. Er hörte gelegentlich von Ausgestoßenen bei den Pelbar, Männern, die sich aus irgendeinem Grund auch nicht in deren Kultur und Gesellschaft einfügen konnten.
Er hatte sie immer für Eigenbrötler oder Irre gehalten.
Jetzt war er selbst einer davon. Hatten sie das alle durchgemacht? Hatten sie alle außerhalb ihrer ganzen Erfahrung gestanden, ganz plötzlich, und nach einem anderen Leben gesucht?
Stel wußte, daß er dazu gezwungen sein würde.
Man findet nicht so ohne weiteres ein ganz neues Ich.
Aber es gab noch mehr zu tun. Um das neue Leben würde er sich Sorgen machen, wenn er wußte, daß er das alte abgelegt hatte. Er wollte so lange nach Westen ziehen, bis er sicher war, daß ihm niemand folgte. Er würde so lange weitergehen, bis seine Lebensmittel zu Ende waren, und dann versuchen, bis zum Frühjahr zu überleben. Er wußte, daß das ein sehr unbestimmter Plan war. Er würde darüber jedoch noch nachdenken müssen, während er weiterzog. Er band sich die primitiven Schneegleiter an die Füße, die er sich aus den Brettern des Fischschuppens gemacht hatte, und brach auf. Die Spitzen hatte er zu-rückgebogen, indem er sie dünn hobelte, sie in ko-chendem Wasser erhitzte und mit Riemen festband.
Die Bindungen waren noch primitiver, aber stabil. Er brach sich einige Stecken als Stöcke ab, um sich damit vorwärts zu schieben und brach auf. Augenblicklich fiel er hin. Er hatte gesehen, wie sich andere in dieser Disziplin hervortaten, aber er selbst hatte es noch nie versucht. Nun, er würde es lernen müssen. Als sich der Nachmittag zum Abend verdunkelte, bewegte sich Stel zügig weiter nach Westen in das gewaltige, weiße Gebiet, seines Wissens ohne jedes menschliche Leben zwischen sich und der Black Bull-Insel, die, das wußte er, ein Lager für die alten Leute der Shumai am Issoufluß war, irgendwo weit da draußen in dem gefrorenen Land. Wo, das wußte er nicht. Es war, als schritte man zielbewußt ins Nichts. Aber da ihm nichts anderes übrigblieb, tat er eben das.
Vor der abendlichen Ratssitzung hatte Ahroe beschlossen, Stel zurückzuholen. Sie hatte ihre Ausrü-
stung und ihre Vorräte sorgfältig und in aller Stille vorbereitet und alles in dem Raum gelagert, den sie mit Stel geteilt hatte. Sie würde bis zur Dunkelheit warten müssen, und es war wichtig zu wissen, wie die Protektorin und der Rat reagierten. Aber ihre Beschämung wurde so stark, daß sie es kaum ertragen konnte, und als dann der ganze Nordrat in einem Tumult des Protestes aufstand, schlüpfte sie hinaus.
Es war dunkel. Sie konnte gehen.
Als sie ihr Zimmer betrat, um in aller Eile aufzu-brechen, überfiel sie ein sonderbares Gefühl der Fremdheit. Wie herrlich war ihr gemeinsames Leben gewesen, wenn auch nur für so kurze Zeit. Stels Kleider lagen noch immer auf seinen Regalen. Die Truhe, die er gebaut und so kunstvoll geschnitzt hatte, war im Licht der Fischöllampe schwach sichtbar. Wieviel er dem Raum doch hinzugefügt hatte – gebogene Holzhaken an der Wand; einen neu gekrümmten Bogen, den er für sie gemacht, gebunden und eingelegt hatte; Matten aus Flußbinsen, in Diamantmuster gewebt. Kein Raum hatte je so leer gewirkt. Ahroe nahm Stels Rasiermesser. Wenn sie ihn einholte, konnte sie ihn wenigstens dazu bringen, daß er sich rasierte. Und als sie ging, hob sie eine Handangelleine und eine kleine Holzschachtel auf, bei der er anscheinend mit dem Einlegen nie fertig wurde. Sie würden sich ausruhen und miteinander reden, und die Schachtel gab ihm etwas zu tun, während sie Frieden schlossen. Er mußte sie nicht anschauen, und sie ihn auch nicht.
Ahroe benützte nicht den Haupteingang. Sie ließ sich an ihrem Gardistenseil über die Südmauer, glitt hinunter, schüttelte es dabei los und wickelte es gekonnt auf, während sie durch die Schatten schlich und sich zwischen den Bäumen hielt, damit die Gardisten auf dem Gagen-Turm sie nicht bemerkten. Sie war um die Flußbiegung herum und mehr als einen Ayas im Süden, ehe sie sich, um leichter laufen zu können, auf den Fluß hinauswagte.
Erst jetzt fiel ihr ein, daß sie ja das Eis der Fahrrinne überqueren mußte, um das Westufer zu erreichen.
Ahroe war wütend über ihre eigene Dummheit. Sie würde einen Teil der Nacht damit zubringen müssen, sich eine Eisbrücke zu machen. Aber das konnte warten, bis sie weiter entfernt war. Vielleicht wollte auch die Dahmena sie zurückholen. Gegen Mitternacht blieb sie an der Spitze einer Insel nahe am Ostufer stehen. Dichte Weiden drängten sich am Norden-de, und sie schnitt mit ihrem Kurzschwert schnell ei-ne Reihe von Schößlingen ab und flocht sie mit kleineren Ruten zu einer großen, lockeren Matte. Es war eine primitive Angelegenheit. Ihre Verbindungen brachen immer wieder. Schließlich benützte sie Stels Angelleine, um die Matte zusammenzuhalten, und schnitt sie wehmütig in kurze Stücke. Sie hatte zugesehen, als er sie mit aller Sorgfalt aus dünnen Streifen der inneren Rinde irgendeines Baumes geflochten hatte, den sie nicht kannte. Es war wirklich ein Jammer.
Sie hielt den Atem an, als sie die Brücke auf das dunkle Eis hinausschob. Risse liefen hindurch, mit scharfen, plötzlichen Geräuschen, aber sie schob sich schnell hinüber und grub, um sich vorwärtszustoßen, immer wieder ihr kleines Messer ins Eis. Es glückte.
Aber was sollte sie jetzt tun, nachdem sie auf der Westseite war? Nachts konnte sie nicht nach Spuren suchen. Wenn Stel sich nach Westen gewandt hatte, würde sie seine Spur übersehen. Nein. Da, in der leichten Schneedecke waren Fußabdrücke. Dann verlor sie sie auf dem glatten Eis wieder. Sie bewegte sich langsam, spürte allmählich, wie überanstrengt und müde sie war.
Aber sie wußte nicht, was sie sonst tun sollte, also ging sie weiter nach Süden, ohne Spuren zu finden.
Gegen Morgen schien die Nacht noch dunkler zu werden. Schließlich blieb sie völlig verdattert stehen, als ein Geräusch von hinten sie veranlaßte, mit der Reaktion des Gardisten in einer einzigen, schnellen Bewegung herumzuwirbeln und ihr Kurzschwert zu ziehen. Da auf dem Eis stand eine Gestalt.
»Bleib stehen!« sagte sie gelassen. »Stel?«
»Nein, mein Schätzchen. Ich bin Assek.«
»Der Shumai. Was willst du?«
»Dir helfen. Warum folgst du ihm? Ich kann dir alles sein, was er jemals war. Und noch mehr.«
Ahroes Kurzbogen war auf ihren Rucksack geschnallt. Zorn über ihre Unvorsichtigkeit stieg in ihr auf. Aber sie hatte immer noch das Kurzschwert und jahrelange Übung damit.
»Verschwinde! Ich brauche keine Hilfe. Am wenigstens von dir. Bleib weg! Sobald du mir zu nahe kommst, töte ich dich.«
»Wir haben Frieden, hast du das vergessen? Ist das die Begrüßung bei den Pelbar? Ihr, das friedliche Volk?«
»Ich brauche nichts von dir, will nichts und bestehe darauf, daß du gehst«, sagte sie, selbst überrascht, wie flach und gespannt ihre Stimme klang.
»Nun, seine Spur hast du schon verfehlt. Er ist mehr als einen Ayas weiter hinten in einen Bach ein-gebogen. Ist das kein Beweis für meine Hilfe?«
»Woher soll ich das wissen? Morgen früh hätte ich es ohnehin gemerkt. Geh jetzt!«
»Glaubst du, dieser Stecken, den du da in der Hand hast, könnte mich aufhalten, wenn ich ihn dir weg-nehmen wollte?«
»So nimm ihn doch!«
Assek lachte und tat, als zucke er die Achseln, machte dabei aber einen Ausfall nach ihrem Handgelenk. Ahroes schneller Streich mit ihrem Kurzschwert erwischte ihn am Unterarm und schnitt durch seinen dicken Lederärmel ins Fleisch. »Ahhh«, murmelte er, trabte zurück, bis er außer Reichweite war, kniete sich dann aufs Eis und hielt seinen Arm.
»Zum Teufel mit dir, du Pelbarhure«, sagte er und erwartete eine defensive Reaktion von ihr, aber als er sich hinkniete, war sie nähergekommen und hatte sich hinter ihn gestellt, nun packte sie seinen Zopf und hielt ihm das Schwert an den Hals.
»Nun«, sagte sie. »Wirst du jetzt gehen?«
Assek war gereizt und verwirrt, aber er hatte keine Wahl. »Ja, du fischbäuchiges, nutzloses Stück Flußk...« Er hielt inne und keuchte, als sie ihm den Kopf herumdrehte, sein Gesicht aufs Eis drosch und ihm das Knie in den Rücken rammte, dabei seinen Gürtel durchschnitt, sein Kurzmesser herausnahm und es zur Seite warf.
»Noch einmal«, sagte sie ihm in den Nacken hinein. »Wirst du gehen?«
Assek spürte, wie die Schwertspitze langsam ein-drang. In seine Wut mischte sich Angst. »Ja«, keuchte er schließlich. Ahroe trat zurück und stand auf, das Kurzschwert vor sich.
»Mach in Pelbarigan halt, dort wird man dir den Arm verbinden«, sagte sie.
»Das war doch kaum ein Kratzer, du Batzen Schlamm«, sagte er. Aber er hielt den Arm mit der anderen Hand fest, und zwischen seinen Fingern quoll Blut heraus.
»Trotzdem, mach dort halt. Und jetzt geh!«
»Ich gehe schon, du Stück Scheißdreck. Und du hältst dich jetzt weiter nach Süden, damit du deinen Kindmann auch fängst.« Assek stieß ein bitteres Lachen aus und ging auf dem Fluß langsam nach Norden. Ahroe bewegte sich nicht, sondern sah ihm nach, mit gezücktem Schwert, bis er in der Dunkelheit verschwunden war. Dann schob sie das Schwert in die Scheide, setzte sich auf das Eis und weinte, zitternd vor soviel Elend, wie sie es, soweit sie sich erinnern konnte, noch nie empfunden hatte.
Wenn nur Stel hier wäre. Selbst seine dumme, männliche Gegenwart hätte den Shumai daran ge-hindert, sie anzugreifen. Sie spürte Asseks schnelles, männliches Drängen immer noch, gefühllos wie ein Vieh, abstoßend, anders als Stels sanfte, spielerische Rippenstöße zur Liebe hin. Zur Hölle mit ihnen allen!
Pell hatte recht damit, daß es eine notwendige Kunst war, die Männer zu beherrschen. Ahroe wußte auch, daß sie mit Assek noch nicht fertig war. Er würde ihr folgen mit seinen Augen, die nachts auf dem Eis Spuren lesen konnten. Er würde seine Gelegenheit abpas-sen, jetzt nicht mehr nur wegen seines Verlangens, sondern weil es ihn drängte, sich selbst zu beweisen, weil er Rache wollte. Hatte sie noch nicht genügend Sorgen? O Aven, was sollte sie nur tun?
Plötzlich stand sie auf, klopfte sich geistesabwesend den Schnee ab und wandte sich nach Norden, um nach dem Bach zu suchen, von dem Assek gesprochen hatte. Es war eine Chance. Wenn Stel in der Nä-
he war, würde sie ihn finden, ehe Assek ihr Schwierigkeiten machen konnte. Während sie ging, schnallte sie ihren Rucksack ab, nahm den Pelbarkurzbogen herunter und hakte ihn an ihrem Schulterriemen ein, zusammen mit vier Pfeilen, von denen jeder eine Stahlspitze hatte und die zusammen in einer kleinen Holzspanscheide steckten – ein Geschenk von Stel.