SECHS

Stel wanderte durch Blumen, die er nicht kannte. Der leichte Wind war trocken und lind, aber ein wenig Tau hielt den Staub in den Grasbüscheln fest. Zum zehntausendsten Mal suchte er den Horizont nach einem Zeichen menschlicher Siedlungen oder vorbeiziehender Menschen ab. Hier gab es keine Spuren.

Während des ausgehenden Winters war er auf Ruinen gestoßen und hatte drei Nächte lang, krank und schwach, unter einer gewaltigen Platte aus künstlichem grauen Stein gelegen, die von einem einzelnen, hohen Pfeiler aus künstlichem Stein schräg herunterführte. Drei andere in der Nähe, die noch in verschiedenen Winkeln und Höhen aufrecht standen, brachten Stel auf den Gedanken, daß es sich hier um so etwas wie eine Brücke handeln könnte. Aber es gab nichts zu überbrücken, und unter der Konstruktion lagen Stücke zertrümmerten, künstlichen Steins.

Er verstand den Sinn des Ganzen nicht, bekam aber endlich eine Vorstellung von der Kraft und den Fä-

higkeiten der Alten und von der gewaltigen Katastrophe der Zeit des Feuers. Jestak hatte ihnen nach seiner Rückkehr aus dem Osten davon erzählt, aber niemand glaubte seinen Geschichten so ganz, und selbst nach seiner Reise nach Westen und seiner Rückkehr nach Nordwall begriffen die meisten nicht, was das bedeutete.

Hier, an diesem verlassenen Ort, in diesem Winter voller Wind, trockenem Gras, weißen Kaninchen und weißen Eulen hatten sich Menschen abgemüht, um diese gewaltigen Türme aufzustellen. Es mußten viele Arbeiter gewesen sein. Stel hatte darüber nachgedacht, bis er das Geräusch des Windes, der sich unter der großen Platte fing, nicht mehr aushielt, und dann war er weitergegangen, war wie betäubt nach Westen gewandert, hatte sich eine Zeitlang nach Süden gewandt, dann wieder nach Westen und schließlich nach Norden, ohne einen wirklichen Zweck oder ein Ziel.

Hätte er Ahroe rufen sollen? Hätte er es riskieren sollen, daß eine Begegnung günstig verlaufen würde?

Ahroe. Der Winter hatte nichts von ihrer Weichheit, er zeigte nur die Kälte der Dahmens. Wie oft war er im Wind zusammengeschaudert, war in seiner Phantasie der Fluß wieder rings um ihn aufgestiegen, war das Eis wieder und immer wieder gebrochen, während er verzweifelt versuchte, sich darauf zuwälzen.

Der Matsch des Tauwetters, der ihm die Jagd er-schwerte, erschien ihm noch schlimmer, und als hoch oben die Gänseschwärme über ihn hinzogen, weiße, blaue, die großen dunklen, die in ihrer Freiheit und ihrer Sehnsucht nach dem Norden schrien, krampfte sich Stel das Herz zusammen, und er dachte an Pelbarigan und die großen, vorbeiziehenden Vogellini-en. Was da, zu Hause, so seltsam die Stimmung hob, bedeutete hier eine so starke Einsamkeit, daß er manchmal seine Ohren vor dem Laut bedeckte und die Augen fest zukniff, bis ihn die Lider schmerzten.

Vielleicht war es seine Flöte, die ihm das Leben er-träglich machte. Besonders am Abend fingerte sich Stel durch alle Lieder an Aven, an die er sich erinnern konnte, bis die Musik selbst die Dunkelheit bevöl-kerte, die großen Bedeutungen und Hoffnungen hoben ihn über sich hinaus, und er dachte über die all-umfassenden Themen des universellen Schicksals nach. Trotzdem war er immer müde, wenn er erwachte, und das harte Sonnenlicht brachte die Tatsache seines Alleinseins wieder mit.

Jetzt, da er durch die fremden, gelben Blumen wanderte, ging er langsam, den Bauch voll Fisch, den er in einem trägen Präriebach in einer Falle gefangen hatte. Während er ging, spielte er nebenbei auf der Röte, mit Unterbrechungen, er war mit dem Beginn des Frühlings wieder auf seinen unbestimmten Plan zurückgekommen, das große Meer des Westens aufzusuchen, falls es so etwas gab. Damit hatte er etwas zu tun.

Nachdem Stel das Lied ›Aven meine Mauer, mein unerreichbarer Turm‹ gespielt hatte, glaubte er, ein oder zwei Zeilen davon zurückschallen zu hören, verändert, in einer anderen Klangfärbung. Er blieb stehen. Nein, da war nichts. Er wiederholte die Phra-se langsam und deutlich. Ja, da hörte er es wieder. Er setzte sich in Trab, lief nach Nordwesten, einen Hügel hinauf auf das Geräusch zu. Er glaubte es zu verlieren. Wieder blieb er stehen und fingerte die Tonfolge herunter. Ganz nahe erklang die zittrige Wiederho-lung. Stel hörte ein Kratzen, einen langen Augenblick sah er das grinsende Gesicht eines dunkelhäutigen Knaben, dessen Kopf kahlgeschoren war bis auf eine Haarsträhne ganz oben auf seinem Schädel, die geflochten war. Der Gesichtsausdruck des Jungen wurde feierlich; dann wechselte, wie beim Sturz eines Baumes, seine ganze Miene zu Überraschung, und er verschwand kreischend hinter der anderen Seite des Felsens und floh den Hügel hinauf. Stel sah ihm nach, dann folgte er ihm langsam. Nach einem halben Ayas traf er auf einen offenbar viel benützten Pfad, kam zwischen zwei großen Felsen durch, wobei er sich beobachtet fühlte, und hörte in der Ferne schwach viele Stimmen singen. Allmählich wurde der Gesang verständlich. »Diu heer es nu may nezumi iro. Diu heer es nu may nezumi iro. Diu heer es nu may nezumi iro.« Der Gesang wurde lauter, und Stel, der ängstlich und nervös weiterging, aber doch begierig auf Menschen, sah eine Reihe von jungen Männern, alle kahlgeschoren, nackt bis zur Taille, dunkelhäutig und ölglänzend im Gänsemarsch den Pfad entlang auf sich zumarschieren, mit ihrem Gesang bestimmten sie den Takt ihrer Schritte. Sie kamen auf ihn zu, scheinbar fast ohne ihn zu bemerken, obwohl sie ihn eindeutig sahen.

Endlich setzte sich der vorderste Mann einen hohen Kopfschmuck aus Holz und gefärbten Federn auf, hob die Arme und blieb stehen, die Reihe teilte sich, die Leute gingen an beiden Seiten dicht an Stel vorbei und um ihn herum, er blieb verwirrt stehen, da drehten sie sich um und blieben ebenfalls stehen, aber der Gesang ging weiter, leise und hartnäckig, immer noch im Takt: »Diu heer es nu may nezumi iro.« Der Mann mit dem Kopfputz ließ die Arme sinken, und die Männer, die Stel am nächsten waren, schoben ihn, immer noch singend, sanft an den Ell-bogen vorwärts. Die ganze Prozession bewegte sich gemeinsam den Pfad hinunter und erreichte schließ-

lich den Spalt eines kleinen Tales.

Viele Menschen säumten den Pfad, vielleicht achtzig oder neunzig, dachte Stel, die Männer waren alle kahlgeschoren, die Frauen hatten sehr langes Haar.

Alle waren dunkel, und alle schauten Stel fasziniert an. Als die Prozession näher kam, stimmten alle in den Gesang ein. Stel und sein Zug wurden zu einem Mittelplatz von vielleicht sechzig Armlängen Umfang aus flachen, im Kreis ausgelegten Steinen gedrängt.

An einer Seite des Platzes stand ein erhöhtes Podest und darauf ein Stuhl, auf dem ein sehr alter Mann saß, gebückt, der sich aber eifrig Stel und seinen Be-gleitern entgegenneigte, als sie näher kamen.

Die zwei Reihen von Männern führten Stel vor den Alten, dann ließen sie ihn unvermittelt stehen, rückten ab und postierten sich zu beiden Seiten von ihm.

Der Mann mit dem Kopfputz hüpfte weiter hinten herum. So aus der Nähe konnte Stel den Alten gut sehen, der ihn aus dunklen, aber trüben Augen an-blinzelte, mit verschobenem Kopf, die Falten in seinem Hals legten die Haut in dicke Wülste, die sich unter der Kehle wie eine Lederhalskette trafen. Bis auf ein Tuch um die Hüften war der Mann nackt, und er trug keinerlei Schmuck. Da sein Mund offenhing, konnte Stel sehen, daß er nur einen Zahn vorne unten hatte, der wie eine kleine Schneewehe am Eingang einer Höhle aufragte.

Endlich erhob sich der alte Mann überraschend flink, kam zu Stel herunter und blinzelte ihn an. Stel lächelte. Als er dann aber einen Schwall vom feuchten Atem des alten Mannes erwischte, der wie faulender Fisch roch, legte er sein Gesicht in eine Maske unver-bindlicher Höflichkeit. Der Alte ging ganz um ihn herum, wobei er noch aufgeregter wurde, schob schließlich sein Gesicht nahe an das von Stel und blickte ihm scharf in die Augen. Dann nahm er eine von Stels Händen, die vom Winter und seinen Wanderungen hart und schmutzig waren. Der Alte blinzelte die Hand an, dann schleuderte er sie mit einem Murmeln des Abscheus von sich.

Nun kehrte er auf seinen Stuhl zurück und saß sehr lange still, inzwischen wurde sich Stel der Stille und des Vogelgekreischs im Hintergrund bewußt.

Schließlich stand der alte Mann unvermittelt wieder auf und sagte: »Ik dik sa. Diu heer es nu may nezumi iro. Ik da sa.«

Ein allgemeines Gebrüll der Zustimmung brandete auf. Stel wurde in einem Ansturm neben und hinter dem alten Mann vorbei eine lange, holprige Stein-treppe hinaufgedrängt, auf eine zweite, gepflasterte Fläche zu. In deren Mitte lag ein großer, quadratischer Stein, in den ein Trog gehauen war, aber ein flacher, von der Länge eines Menschen. Nahe an einem Ende steckte ein Speer mit kurzem Griff in einer Halterung, die in den Stein eingeschnitten war. Er stand aufrecht, an seiner Spitze saß ein großer Kopf aus glänzendem, schwarzem Stein, der sauber in Form eines großen, schmalen Blattes zugehauen war.

Hinter dem Pflaster erhoben sich zwei Steinhäuser wie auf den Kopf gestellte Schüsseln, jedes kreisrund, von vielleicht fünfzehn Armlängen im Durchmesser.

Sie waren mit Binsen gedeckt. Als Stel einen Blick auf sie warf, stellte er erschrocken fest, daß sie am Rand eines Felsvorsprungs standen, der dahinter vielleicht dreißig Armlängen weit in eine trockene Schlucht abfiel. Nach Westen zu konnte er in der Ferne im Dunst Bäume und aufragende Berge sehen.

Aber zum Schauen hatte er keine Zeit. Die singen-de, schwatzende Menge drängte ihn an die rechte Seite des quadratischen Steins, und dann kam eine große, junge Frau aus dem schüsselförmigen Haus auf dieser Seite. Sie war schlank, dunkelhaarig und von hellerer Hautfarbe als die anderen. Sie trug ein langes, braunes Gewand und eine schwere, goldene Halskette und ging in seltsamen Holzsandalen.

Plötzlich verstummte die Menge, und Stel konnte das Holz klappern hören, als sie langsam auf ihn zukam.

Er spürte, wie ihm ein Schauer nach dem anderen über den Rücken jagte.

Sie kam ganz nahe an ihn heran und sah ihn mit Augen an, die so blau waren wie Zichorienblüten.

Wie der Alte ging sie langsam um ihn herum, einen immer stärker werdenden Ausdruck der Verachtung auf dem Gesicht. Stel sagte nichts. Er fühlte sich wie ein Gegenstand, der bei der Handelswoche der Pelbar gekauft werden sollte. Als sie wieder vor ihm stand, nahm sie sein Gesicht in ihre Hände, öffnete seinen Mund und schaute hinein, um seine Zähne zu begut-achten, dann ließ sie ihn los, machte zwei schwung-volle Schritte nach rückwärts, blickte die Menge an und winkte mit der Hand. Sie rief aus: »Das corb furui? Das corb furui? Ah. Welve mo an das corb furui?«

Die Menge zog sich zurück, dann begann sie unbe-irrt wieder mit dem Gesang: »Diu heer es nu may nezumi iro«, aber plötzlich stieß die Frau einen Schrei aus, schleuderte die Arme in die Luft, drehte sich herum und sah sie alle an. Die Menge verstummte.

»Wenn es dir nichts ausmacht«, sagte Stel ruhig, »wüßte ich wirklich gerne, was das alles soll. Ich glaube, ich bin während der Winterfestspiele auf eine Bühne gestolpert. Ich bin nur zu gerne bereit, mich umzudrehen und ...«

Die Frau wirbelte hastig zu ihm herum, hob die Arme und stieß wieder einen Schrei aus. Stel begriff, daß er still sein sollte. Dann packte sie überraschend eine Schnur, die um den Halsausschnitt ihres Kleides ging, und zog mit einer dramatischen Geste daran.

Das Gewand fiel ihr zu Füßen, und sie war völlig nackt. Ehe sie aus den Sandalen trat, murmelte die Menge im Chor und kniete nieder, die Köpfe zum Pflaster geneigt. Stel tat das nicht. Er schaute zum Himmel, dann zum fernen Horizont, dann auf seine Füße und schließlich auf die ihren vor den seinen.

Schließlich blickte er auf. Sie stand stolz und unange-nehm nahe vor ihm und blickte ihn zornig an. Stel hatte nicht einmal Ahroe jemals so gesehen, bestimmt nicht im hellen Sonnenschein. Er war zutiefst verlegen. Aber die Frau war wunderschön, so bizarr und anders sie auch sein mochte. Ihre Schönheit strahlte von ihr aus wie ein Duft. Seine Phantasie erkannte je-de Einzelheit ihres Körpers als vollkommen. Stel fühlte sich leicht schwindlig. Sie drehte sich um und ging langsam von ihm weg auf das Steinhaus zu, oh-ne auch nur einmal zurückzuschauen. Stel ertappte sich, daß er die Grübchen, eines auf jeder Seite, oben an ihren Hinterbacken betrachtete. Er hatte noch nie etwas dergleichen gesehen, und irgendwie schienen sie zu ihrer komischen Würde nicht zu passen. Er lachte laut. Sie fuhr an der Tür ihres Hauses herum, das Gesicht wutverzerrt, sie wirkte nicht mehr wie eine Göttin der körperlichen Schönheit, sondern einfach wie eine Frau, der ihre Kleider abhanden gekommen sind.

Stel lachte noch mehr, aber die Menge erhob sich offensichtlich zornig, und die Frau verschwand in ihrem Haus. »Nun, was jetzt?« fragte Stel. Er war verwirrt und müde, und jetzt hatte er auch Angst. Wo war er da nur hineingetappt?

Gemurmeltes »Nekko da« und »Slag da infed« kam von der Menge, aber schnell trat die gleiche Gruppe von Männern, die ihn auf so sonderbare Weise in diese Gesellschaft geführt hatte, wieder auf ihn zu. Der Mann im Kopfputz stellte sich vor ihn.

»Nu Roti«, sagte er. »Nu Roti. Vu ashi kisui da faimm. Bu nu klon vu maint.« Die Männer hüben wieder mit ihrem Singsang an und schubsten Stel vorwärts in das andere Haus. Das Innere war einfach und dunkel. Ein Bett war auf dem Boden, von einem dunklen Fell bedeckt. Ein ausgehöhlter Stein stand auf der rechten Seite. Sofort begannen einige der Männer, ihn mit warmem Wasser zu füllen, das in Ledereimern gebracht wurde, und der Anführer winkte Stel, er solle seine Kleider ablegen. Soweit er verstand, wollten sie, daß er badete. Er war nicht be-geistert davon, keinen Faden mehr auf dem Leibe zu haben, sah aber keine Möglichkeit, dem zu entgehen, also beschloß er, zu gehorchen. Keiner der Männer verließ das Haus. Als das Bad voll war, das Wasser dampfte leicht, wurde Stel hineingehoben. Vier der Männer gingen daran, ihn zu waschen, sie tauchten ihn ins Wasser und schrubbten ihn, besonders seine Hände, mit harten Bürsten ab. Stel sah bestürzt, daß seine zerfetzte Pelbarkleidung hinausgebracht wurde.

Sie erwarteten doch wohl nicht von ihm, daß er in aller Öffentlichkeit so herumlief wie die Frau. Er war jedoch sehr erleichtert, als man ihm eine kurze Le-dertunika gab und seine dicken Lederschuhe gesäubert und gefettet zurückgebracht wurden.

Endlich durfte er die Wanne verlassen, dann wurde durch einen Stöpsel im Boden das Wasser abgelassen.

Während zwei Männer die Wanne mit roten Tüchern putzten, wurde Stel angekleidet und aus dem Haus geführt. Er sah, daß inzwischen noch mehr Leute um den gepflasterten Platz herumstanden, ihn anstarrten, besonders nahe herankamen, um sich seine Augen anzusehen und dann schwatzend davonliefen. Er konnte das ›may nezumi iro‹ des Gesangs heraushö-

ren. Hier war also ein Volk, dessen Sprache allen Völkern des Heart-Flusses völlig fremd und sogar anders war als die der anderen Gruppen, die Jestak kennengelernt hatte. Stel konnte sich auf all das keinen Reim machen.

Eine Gruppe sammelte sich vor dem zweiten Haus und sang: »Ven maint, ven maint, vu das Diu.« Sie wollten offenbar, daß die Frau herauskam und den neuen, gesäuberten Stel begutachtete. Aber sie erschien nicht. Die Menge wurde zornig und gestikulierte zur Tür hin. Endlich kam sie an die Tür, zu Stels Erleichterung wieder in ihrem braunen Gewand. Sie sah ihn milde an, schnüffelte vor sich hin und ging wieder hinein. Die Menge verstummte. Alle wandten sich Stel zu. Er breitete nur die Arme aus, die Geste, mit der die Pelbar Unverständnis ausdrückten.

Über sich selbst belustigt beschloß er dann, ihnen Befehle zu erteilen, wenn sie unbedingt welche haben wollten. »Nun gut«, verkündete er mit vorgetäuschter Strenge, »wenn ihr Grasfresser, ihr Kahlköpfe nichts dagegen habt, dann verschwindet jetzt! Los, packt euch die Treppe hinunter! Höchste Zeit, Wurzeln auszugraben und Ameisen zu zählen. Raus mit euch!« Er packte einige der Nächststehenden und schob sie sanft auf die Treppe zu. Sie gingen ziemlich fügsam. Stel schwatzte weiter auf sie ein, bis alle Leute, bis auf die jungen Männer, die ihn hergebracht hatten, verschwunden waren. Die standen um den Rand des gepflasterten Platzes herum. Sie hatten offenbar nicht die Absicht zu gehen. Stel drängte sie auch nicht. Statt dessen ging er zu dem Mann mit dem Kopfputz und machte ihm mit Handbewegun-gen klar, daß er etwas zu essen wollte. Sofort trabten zwei der anderen Männer die Treppe hinunter – um Essen zu holen, wie Stel annahm.

Einen Augenblick lang schaute er zu dem anderen Haus hinüber, aber vor der Tür hing ein Vorhang, und die Frau war nirgends zu sehen. Er beschloß, wieder in ›sein‹ Haus zu gehen. Man brachte ihm zu essen, und er setzte sich auf den Boden und aß mit soviel Würde und Anstand, wie er ohne Eßbesteck aufbringen konnte. Mit Gesten brachte er schließlich einen der Diener dazu, ihm seinen Rucksack zu bringen, aus ihm holte er sein kleines Messer und schnitt damit den trockenen Kuchen auf seinem Essensbrett, er aß nur sehr kleine Stücke davon, zusammen mit dem Wurzelgemüse und einem ihm unbekannten Fleisch, und ließ sich soviel Zeit wie möglich, um sich umsehen und seine Situation genau abschätzen zu können.

Er hatte schon beschlossen, daß er fort mußte. Die Leute hier hielten ihn eindeutig nicht für ein ge-wöhnliches menschliches Wesen. Offenbar hatte das etwas mit seinen Augen zu tun. Sie waren alle dunkeläugig, bis auf das alte Blauauge im Nebenhaus.

Als sich der Tag seinem Ende zuneigte, hörte Stel, wie sich draußen etwas regte, und alle jungen Männer kamen herein, um ihn hinauszuführen. Als er aus dem Haus trat, fand er wieder den alten Mann vor, der in einem Tragstuhl saß. Er musterte Stel erneut von oben bis unten, und als er sich diesmal seine Hände anschaute, murmelte er etwas offensichtlich Billigendes. Dann verneigte sich der Alte tief vor Stel, spreizte die Hände weit und sagte mit lauter Stimme: »Nu heer lang fo vu. Maint vu kaag atla. Nu paah, voor paah.«

Dann verneigte er sich wieder, warf Stel einen irgendwie gehässigen Blick zu und ging dann mit seiner Begleitung weg, gefolgt von seinen Stuhlträgern schritt er langsam die lange Treppe hinunter. Als Stel sich umdrehte, sah er die Frau in ihrer Tür, sie lä-

chelte ein wenig und hielt sich am Türrahmen fest.

Wieder griff sie nach der Schnur an ihrem Gewand, aber Stel drehte sich auf dem Absatz herum und ging in sein Haus zurück.

Nach Einbruch der Dunkelheit hörte er, daß in der Ferne so etwas wie ein Fest stattfand, mit dem un-deutlichen Gesang: »Diu heer es nu may nezumi iro.«

Er trat aus seinem Haus. Auf jeder Seite seiner Tür saß einer der jungen Männer. Sie sahen ihn nicht an.

Stel konnte unten auf der gepflasterten Fläche den Schein eines Feuers sehen, Tänzer bewegten sich ringsherum, wechselweise geschorene und dunkel-haarige Köpfe. Zwischen ihm und dem Feuerschein ragte der quadratische Stein in der Mitte mit seiner Vertiefung auf, der kurze Speer steckte darin und hob sich schwarz gegen den Feuerschein ab.

Als Stel ins Haus zurückkehrte, nahm er sein Kurzschwert aus dem Rucksack, legte sich auf das Bett und begann, den Mörtel in den Steinen dahinter zu untersuchen. Er war leicht herauszulösen. Stel arbeitete ohne Pause, er lockerte zwei nebeneinanderliegende Steine und schaffte sich damit soviel Platz, daß er sich, wie er sah, hindurchwinden konnte. Dann schnitt er seine Bettlaken in Streifen für ein Seil. Seine alte Kleidung hatte man ihm gewaschen und getrocknet zurückgebracht, und er nahm die Tunika ab, die man ihm gegeben hatte, und zog die eigenen Sachen an. Er machte alles bereit, dann trat er kurz wieder nach draußen. Es hatte den Anschein, als kämen die Tänzer näher. Seine Wachen bewegten sich nicht.

Er kehrte ins Haus zurück, aber da hörte er ein Ge-räusch hinter sich, drehte sich um und sah die blau-

äugige Frau mit einer Lampe eintreten. Sie lächelte ihn mit glitzernden Augen an, löste wieder ihr Gewand, stand im schwachen Licht bezaubernd schön vor ihm, streckte die Hand nach ihm aus und sagte: »Vu kowabadda por nu, takai, takai.«

Von draußen hörte Stel, wie die Menge leise »Vu kowabadda por nu, takai, takai« murmelte und das jetzt als Gesang aufnahm. Stel spürte, wie seine Hän-de zitterten. Er ging auf die Frau zu, nahm sie in seine Arme, und als sie triumphierend aufseufzte, stopfte er ihr ein Stück Bettzeug in den Mund, riß ihr die Arme nach hinten, wand einen zweiten Streifen darum, fesselte dann der um sich Tretenden die Knöchel und vervollständigte den Knebel. Als sie auf den Boden hämmerte, hob er sie auf und setzte sie in die Steinwanne. Draußen ging der Gesang: »Vu kowabadda por nu, takai, takai« weiter, immer lauter.

Stel beugte sich in die Wanne, kniff das Mädchen in die Backe, flüsterte: »Leb wohl, allerliebstes Blauauge«, und küßte sie auf die Stirn. Dann schob er die Steine weg und schlüpfte aus dem Loch, seinen Rucksack zog er hinter sich her. Er ließ sich am Bettzeug-seil hinuntergleiten, und als er den steinigen Boden der Schlucht erreichte, hielt er einen Augenblick inne, um auf den Gesang über sich zu lauschen. Niemand schien etwas gemerkt zu haben. Es schien kein Mond, aber Stel erkannte die Sterne des gebogenen Drachen, die nach Westen hinuntersanken, und stolperte in die Dunkelheit hinein. Als er ungefähr einen halben Ayas weit gekommen war, löste sich der schwächer werdende Gesang hinter ihm in Schreie und Rufe auf.

Stel fiel in Trab und taumelte in der Dunkelheit unsicher weiter.