DREIZEHN

Stel hatte die fünf Roti getötet. Als er durch die Bäu-me und das Gestrüpp aufstieg, hörte er den vertrau-ten Singsang. Er war zornig und durcheinander wegen der vorangegangenen Ereignisse und hatte den Geruch des ›Eintopfs‹ noch immer in der Nase. Er war müde. Ja, da kamen sie, plappernd rutschten sie den Hang hinunter, sangen blöde vor sich hin und entrollten die aufgewickelten Stricke, die sie an der Taille trugen. Sehr überlegt, obwohl Zorn in ihm aufwallte, spannte Stel seinen Langbogen und legte einen Pfeil auf die Sehne. Er zog die Sehne zurück und zielte sorgfältig. Der Pfeil flitzte los, durchbohrte die ersten beiden Männer vollständig und drang in den dritten ein. Der vierte und fünfte blieben einfach stehen und starrten ihn ungläubig an. Stel schoß noch einmal und tötete einen weiteren Roti. Der fünfte schaute ihn an, schrie und kam, ein Seil schwingend, auf ihn zu. Stel wartete, bis er sicher war, dann jagte er seinen dritten Pfeil dem Mann in die Brust. Der Roti kippte mit einem Grunzen nach vorne und lag zuckend auf dem Boden.

Stel sank ins Gras nieder. Er streckte seinen Fuß aus und entspannte den Bogen. Dann rollte er sich herum und drückte sein Gesicht gegen den steinigen Boden. Was sollte er als nächstes erleben? Einige Zeit lag er völlig apathisch da. Als er sich aufsetzte, versuchte er, sich zu erinnern, wo er war und was er hier suchte. Er vermied es sorgfältig, die Toten anzu-schauen und holte auch seine Pfeile nicht zurück, obwohl es soviel Arbeit machte, sie herzustellen. Er konnte sich neue machen. In den Bergen. Allein. Er würde weit oben im kalten Wind, dann im Schnee ein Lager aufschlagen und ganz systematisch neue Pfeile anfertigen. Warum? Er wußte es nicht. Menschen brauchten Pfeile.

Er war sich bewußt, daß er lustlos einen Fuß vor den anderen setzte, während er langsam den Berg hinaufstieg. Irgendwann würde er ein Lager aufschlagen, aber erst nach Einbruch der Dunkelheit, erst, wenn er beim Zurückschauen die Roti nicht mehr sehen konnte. Aber was waren sie gewesen?

Nichts. Schon jetzt wurden sie wieder zu Gras, verschwanden im Boden genau wie trockenes Gras.

Auch er war nichts anderes. Er hatte keine Festigkeit, keine Richtung, keine Zukunft. Warum stieg er auf diesen Berg? Er wußte es nicht. Er war wie der Wind, bewegte sich wie der Wind, hierhin, dorthin. Er war in zielloser Bewegung. Als er den Sattel des westlichen Berges erreichte, sank die Sonne in rotem Schein, lange Fahnen aus blutrotem Licht streckten sich fließend über den Himmel hin. Stel hielt die Augen nach unten gerichtet, betrachtete das rosige Leuchten auf seinen Beinen und Stiefeln.

In dieser Nacht lagerte er unter einem massigen rötlichen Felsen und machte ein großes Feuer, das seinen Schatten auf den Berg und die zerzausten Kiefern dahinter warf. Gab es hier Roti, die es sehen und kommen würden? Es war ihm egal. Was war nur los?

Irgendwie war er auf rätselhafte Weise unfähig, sich in eine menschliche Gesellschaft einzufügen. War er das? In Pelbarigan war er vor seiner Heirat sehr gut zurechtgekommen. Was hatte die Ehe dann in ihm wachgerufen, was alles verbogen und verzerrt hatte?

Oder lag es gar nicht an ihm? Er versuchte, alles noch einmal zu überdenken, aber in seinem Geist schien sich alles zu drehen wie die aufsteigenden Flammen.

Es kamen keine Roti. Stel war fast enttäuscht. Er schlief nicht, ließ aber das Feuer gegen Morgen doch niederbrennen. Als die Sonne aufging, stiegen nur noch leichte Rauchschwaden hoch. Er stand auf und streckte sich, fühlte sich jetzt, wo jede Kiefernadel, jedes Felskorn deutlich sichtbar im klaren Sonnenlicht an seinem Platz lag, irgendwie besser. Er hatte Durst, fand aber in seiner ausgepichten Flasche kein Wasser.

Er würde alles hinter sich lassen und weiterziehen, immer weiter nach Westen, auf das höhere Gelände zu, das sich durch die Klarheit der Luft in seinen Di-mensionen auszudehnen schien, und zu den aufragenden Bergen, die man schon so lange sehen konnte, ehe man sie erreichte.

Stel fand einen Bach, der durch die roten Felsen purzelte, er trank und badete gründlich. Dann kochte er sich einen Getreidebrei, süßte ihn mit dem Honig, den Fitzhugh ihm gegeben hatte, und aß ihn. Er fühlte sich immer noch leer, wußte aber nicht, ob das eine körperliche oder eine geistige Empfindung war.

Wenn er je einen Grund für seine Reise gehabt hatte oder den Wunsch, zu sehen, was noch kein Pelbar, nicht einmal Jestak, je gesehen hatte, dann gab es dieses Motiv nicht mehr. Wenn nur Ahroe hier wäre.

Was dann? Er wußte es nicht. Nun, er würde weitergehen.

Ein paar Tage lang zog Stel weiter nach Westen durch hochgelegenes Gebiet, wo es kleine Kiefern und vereinzelte Espen und Pappeln in Schluchten gab, und offene Wiesen und Grasbüscheln, die jetzt im Herbst trocken wurden. Hohe Gipfel mit Schnee darauf erschienen erst nördlich, dann weit vor ihm.

Schließlich stieg er hinab in ein großes, trockenes Becken, wo eine Rinderherde, offenbar von niemandem gestört, weidete. Auf der Westseite des Tals sah er eine lange Kette schneebedeckter Berge, deren Hänge dicht mit Kiefern bestanden waren. Es schien eine Barriere zu sein. Er würde versuchen, diese Berge zu überwinden, ehe der Winter einsetzte, obwohl er sah, daß es auf den Rändern und Kämmen schon Winter war. Gleichgültig. Er würde trotzdem versuchen, sie zu überqueren. Stel durchwanderte langsam das Becken, tötete unterwegs eine Jungkuh, räucherte Trockenfleisch und bearbeitete die Haut für einen Wintermantel. Er wünschte, mehr vom Gerben zu verstehen, denn das schwarze Haar ging büschelwei-se aus, als er die Haut präparierte. Gab es keine Möglichkeit, es zu erhalten? Schließlich beschloß er, den Mantel in zwei Schichten zu arbeiten und ihn dazwischen mit Gras auszustopfen. Eines Morgens stellte er überrascht fest, daß der Schnee von den Gipfeln um mindestens fünfhundert Armlängen weiter herunter-gewandert war. Es war Zeit zum Aufbruch.

Als Stel den Aufstieg begann, fand er Bruchstücke alter Straßen, dazwischen große Strecken, auf denen herabstürzendes Gestein alles weggerissen hatte. Hier war vielleicht ein Weg, der sich durch die Berge schlängelte. An den gelegentlichen Kerben in den Bergwänden sah er, daß die Straße der scharfen Bergschulter stetig ansteigend folgte, nicht zu steil, manchmal führte sie auch an der Wand zurück. Die Alten hatten mit ihrem für sie typischen, unglaublich massiven Energieeinsatz irgendwie große Steinplatten weggemeißelt, tiefe Schrammen in die Bergwände geschnitten und Felsbrocken weggeschafft, die so hoch waren wie die Mauer von Pelbarigan. Und der Berg hatte mit seiner zeitlosen Passivität ebenso typisch all diese Arbeit mit seinen großen Steinschlägen beiseite geschoben. Aber vielleicht gab es hier eine Richtung, die er einschlagen konnte. Während Stel sich untertags einen Weg durch das immer kälter werdende Berglabyrinth suchte, arbeitete er abends an einem neuen Paar Schneegleitern. Er schoß und aß eine unbekannte Art von Nagetier, nicht die Waldmurmeltiere von zu Hause und auch nicht die kleineren der Ebenen, sondern einen kürzeren, dickeren Felsbewohner, ein freundliches Tier, das pfiff und sich versteckte, wenn er sich näherte. Er brauchte zwei für ein Abendessen und hätte, wäre sein Hunger nicht gewesen, lieber über ihr neugieriges Hervorlu-gen und ihr Versteckspiel gelacht.

Schließlich, nach neun Tagen, verschwand die Straße nach oben im Schnee, und Stel schnallte sich seine Schneegleiter an und setzte den Aufstieg fort.

Als er sich hinunterbeugte, um sie zu befestigen, glaubte er einen Augenblick lang, wieder auf der anderen Seite des Flusses gegenüber von Pelbarigan zu sein, und als er dann leicht schwindlig aufstand und ihm das Blut in den Ohren dröhnte, erwartete er fast, über den Fluß zu der hochragenden Stadt zurückzuschauen in dem Wissen, daß Ahroe dort war. Was er sah, erschreckte ihn beinahe – ein kaltes, leeres, schö-

nes Land, die Heimat von Riesenkrähen, herabstür-zendem Wasser, gigantischen Felsen und den großen, dünnen, hoch aufragenden Koniferen. Einen Augenblick lang verwirrte ihn seine eigene Anwesenheit.

Dann, als hätte die fremde, passive Feindseligkeit des Landes plötzlich Gestalt angenommen, erhob sich ein Tier, dunkel, zottig, gewaltig, erschreckend, vor ihm auf die Hinterbeine. Er war viel größer als Stel, seine massiven Vorderbeine hingen herab und hatten vorne lange, gekrümmte Klauen, die Augen waren in dem großen, mit dichtem Pelz bedeckten Kopf fast vergraben. Stel hielt sich völlig still. Was war das? Das Tier prüfte den Wind, der quer zwischen ihnen durch-blies. Stel machte kein Geräusch. Das Tier schien erstaunt, war sich nicht ganz sicher, was für ein unbestimmter, fremder Reiz es veranlaßt hatte, sich zu er-heben. Schließlich ließ es sich wieder auf alle Viere hinab und verschwand zwischen den Bäumen nach unten.

Stel regte sich nicht, bis er das Tier weit unten auf einem Felsvorsprung auftauchen sah. Er merkte, daß er geschwitzt hatte. Da wurde ihm bewußt, daß er aus den Bergen hinauswollte, aber der Weg war immer noch weit, ein Aufstieg lag vor ihm, dann ein Abstieg. Er ging weiter.

Spät an diesem Nachmittag kam er an den Schei-telpunkt eines Passes. Es war ihm, als stünde er am Rande der Welt. Weit im Osten konnte er die abfallenden Felsen sehen, die sich windenden Täler, den schwachen Umriß des westlichen Beckenrandes mit seinen braunen Hügeln in weiter Ferne. Nach Westen hin setzte sich die wilde Großartigkeit vor dem Dunst der verblassenden Sonne fort. Stel verspürte ein seltsames Hochgefühl. Er stand allein auf dem Gipfel der Welt. Aus eigener Kraft war er hierher gekommen.

Das ging über alles hinaus, was Jestak gefunden hatte. Und doch, warum war er hier? Er wußte es immer noch nicht sicher. Vorsichtig machte er sich an den Abstieg. Auch hier waren Reste der gewundenen Straße der Alten zu sehen, eingekerbt in die felsigen Bergwände.

Zwei Tage lang strebte Stel abwärts, kam unter die Schneegrenze, wieder umgaben ihn hohe Koniferen.

Er hielt sich weiter auf oder nahe der uralten Straße.

Als er eine ebene, grasbewachsene Fläche erreichte, traf er plötzlich auf einen Steinmann. Das war sonderbar. Es war sicherlich ein Pelbar-Wegweiser. Ja.

Wie war das möglich? Er wies unmißverständlich von ihm weg, die Straße entlang. Ja, hier waren die Entfernungsmarkierungen. Vierzehn Stück. Vierzehn Ayas nach Westen, eindeutig gekennzeichnet – und dann das Zeichen Pells. Stel setzte sich und rieb sich die Augen, streckte die Hände aus und strich über die Schnitte im Felsen. Es war kein Irrtum. Das waren nicht nur von Menschenhand gemachte, sondern Pelbar-Zeichen. War er wahnsinnig? Jestak war hier nicht gewesen. Wer dann? Er würde weitergehen.

Wenn das ein Wegweiser war, dann mußte in vier Ayas ein zweiter kommen und dann zwei Ayas spä-

ter noch einer.

Stel eilte weiter, kletterte die felsigen Abhänge hinunter, trabte über Wiesen, zwängte sich durch Unterholz. Er schätzte den ersten Abschnitt ab und fand den nächsten Wegweiser auf einem offenen Seiten-streifen der uralten Straße, deutlich markiert. Wieder blieb Stel stehen und studierte den Steinmann. Wie es bei den Pelbar Brauch war, enthielt er überhaupt keine Markierungen. Nun war Stel sicher. Irgendwo vor ihm waren Pelbar – wenigstens einer. Oder es waren in letzter Zeit welche hier gewesen. Vor Einbruch der Nacht konnte er noch den dritten Steinmann erreichen. Der müßte ebenfalls unmarkiert sein.

Eben als die Sonne unterging, fand Stel den Steinmann, nicht nur auf einer freien, grasbewachsenen Fläche, er war auch eindeutig sichtbar gehalten worden, indem man das ihn überwuchernde Gestrüpp abgeschnitten hatte. Irgendwo acht Ayas weiter vorne gab es also ein Pelbargebäude. Stel konnte sich kaum überwinden, stehen zu bleiben, aber er tat es doch.

Am nächsten Morgen war auch noch Zeit. In der Nacht konnte er leicht den Weg verfehlen. Und da er die Gewohnheiten der Pelbar in bezug auf Heimlichkeit und Selbstverteidigung kannte, wollte er offen kommen. Aber er mußte alle seine Sturheit und Selbstbeherrschung zusammennehmen, um bei seinem Feuer sitzen zu bleiben, an seinem Mantel zu arbeiten, die gedrehte Sehne durch die Löcherreihe zu führen, die er mit der Ahle in das Leder gestochen hatte, Gras für das Futter zu klopfen, es zu zerklei-nern und in den Doppelbeutel eines Ärmels zu füllen, sich in der Kälte auf die Finger zu blasen und gelegentlich von seinem schwach brodelnden Eintopf zu nippen. Beim ersten Morgenlicht wollte er aufbruch-bereit sein.

Fast fürchtete er sich ein bißchen vor einer weiteren Begegnung mit Menschen. Seine letzten waren so schlecht ausgefallen, daß sein Selbstvertrauen schwankte wie die letzten, noch nicht abgefallenen Espenblätter. Als er in dieser Nacht in seinem Schlafsack lag und zuschaute, wie die Sterne langsam von Zweig zu Zweig über ihm hinzogen, dachte er dar-

über nach, wie seltsam all seine Erlebnisse gewesen waren, er dachte an die unermeßliche Leere dieses weiten Landes, an sein intensives Alleinsein, an die Gleichgültigkeit des Landes und seine Kälte, sogar an die Ferne der Sterne. Welches Muster hatte Aven in Ihrem großen Denken? Ahroe, wo war sie? Wohnte sie immer noch in ihrem kleinen Zimmer in Pelbarigan? Überwachte sie das Weben von Wintermatten aus Flußbinsen? Bei all den Anhaltspunkten für ein Muster, eine Ordnung, ein System der Gattungen, für menschliche Errungenschaften mußte es doch für jemanden wie ihn sicher eine Nische im System geben.

Er ertappte sich dabei, wie er überlegte, ob er vielleicht nur existierte, um Verbannung und Qual zu re-präsentieren.

Er hatte keinerlei Zweifel daran, daß vor ihm Pelbar waren – oder vor kurzem gewesen waren. Wie würden sie ihn aufnehmen? Was sollte er ihnen er-zählen? Konnte er ihre Verteidigungsanlagen richtig erkennen? Er hatte nie gehört, daß es im Westen Pelbar gab, aber vielleicht waren sie verlorengegangen, waren in einer düsteren Periode der Vergangenheit abgetrennt worden und so weit gezogen. Er hatte es auch getan. Vielleicht sollte das seine Aufgabe sein – die Pelbarkolonien wieder zu vereinen.

Es wurde hell, lange, ehe sich die Sonne über den Rand der hohen Berge im Osten schob, und Stel hatte sich den Weg fast über die ganzen, letzten acht Ayas gesucht, ehe ihre Strahlen zu den fast kahlen Espen zwischen den Kiefern herunterreichten und die hell-braunen Stämme mit ihrem Schein übergossen. Stel war in seltsamer Erregung.

Als er um eine Kurve in der Bergschulter bog, sah er vor sich eine dünne Rauchsäule, die senkrecht aufstieg und sich dann unbestimmt und stetig, wie ein Stück Tüll über das Tal ausbreitete. Als Stel ihr mit dem Blick nach unten folgte, sah er mit einem flauen Gefühl der Enttäuschung das vertraute Gebäude der Pelbar, ein Felsviereck, das an den Berg gestellt war.

Es war klein. Eine Stadt gab es hier also nicht. Wenn das kein Außenposten war, wohnten hier nur einige wenige – vielleicht sogar nur eine einzige Person.

Aber ein Pelbarhaus war es.

Stel trat ins freie Gelände und studierte die Lage.

Ja, da mußte die Fallgrube sein und hinter der nächsten Kurve die Rollfallen. Möglicherweise gab es auch eine Grabenfalle, aber die müßte näher am Gebäude sein. Vor dem Bauwerk, einen Kurzbogenschuß entfernt, befand sich der vertraute Mitteilungsstein, klein, aber unübersehbar. Stel würde sich über den Kreis der Verteidigungsanlagen dorthin vorarbeiten, sich bemerkbar machen und auf eine Antwort aus dem Gebäude warten.

Als Stel auf den Mitteilungsstein stieg, zog er seine Flöte heraus, und als er sich in der richtigen Position befand, spielte er langsam und laut eine Hymne an Aven, ein Lob für die Schönheit des Herbstes, für das reinigende Weiß des Winters, die Wiedergeburt des Frühlings. In dem quadratischen Steingebäude regte sich nichts. Er spielte die Hymne noch einmal ganz, dann bemerkte er ein Gesicht an einem der beiden hohen Fenster, das nur undeutlich zu erkennen war.

Es schien alt und hager zu sein.

Endlich öffnete sich die Tür, eine Drehtür, die großartig in der vorderen Fassade des Gebäudes, verborgen war. Ein kleiner, alter Mann trat heraus, in eine feierliche Pelbartunika gekleidet, die aber aus nicht sehr geschickt zusammengenähten kleinen Fellen gemacht war. Er blieb vor dem Eingang stehen und lehnte sich auf einen Stab.

»Stel Dahmen aus Pelbarigan entbietet dir seinen Gruß«, sagte Stel.

»Dahmen?« wiederholte der alte Mann mit hoher, zittriger Stimme.

»Dahmen durch Heirat, Sohn von Sagan, einer Steinmetzin, geborener Arden, Schreiner und Handwerker aus Pelbarigan, aus freiem Willen in der Verbannung und jetzt hier.«

»Verbannung?« Der alte Mann stieß ein seltsames Lachen aus, dann kam er langsam näher und stieg auf den Stein.

Sie legten sich gegenseitig die Hand auf die Schulter, und sie wiederholten gemeinsam: »Möge Aven dich schützen, führen, geleiten und lenken. Möge sie deine Wege mit Freundlichkeit bereichern und unserer Begegnung Ihre Liebe und Ihren Anstand gewähren. Mögen wir durch diese Begegnung zu besseren Menschen werden.«

Der alte Mann sah Stel lange Zeit schweigend an, seine Augen waren durch das Alter leicht eingesunken, blickten aber dunkel und durchdringend aus dem schmalen Gesicht, das eine sonderbare, widersprüchliche Kombination von Zerbrechlichkeit und Robustheit zeigte, von Pelbarzurückhaltung und Härte.

»Komm ins Haus!« sagte er unvermittelt, wandte sich um und fügte über die Schulter hinzu: »Ich bin Scule, ebenfalls ein Dahmen durch Heirat, ausgeschickt, um einen westlichen Außenposten für uns zu errichten, Komm!«

Stel seufzte leise und folgte Scule durch die Drehtür hinein, die der Alte hinter ihnen schloß und ver-riegelte, wie es sich gehörte. Dann öffnete er eine hölzerne Rundbogentür auf der rechten Seite und winkte Stel, er solle den Raum als erster betreten. Stel sah vor sich eine zweite, hölzerne Rundbogentür und ein hohes Fenster, durch das ein dünner Lichtstrahl hereinfiel. Er verneigte sich vor Scule, dann betrat er den Raum. Scule blieb stehen, um etwas an seinem Gürtel zu befingern, und sagte dabei: »Geh nur weiter durch die nächste Tür! Ich komme gleich.«

Stel ging weiter, ergriff den Ring in der gegenüberliegenden Tür und zog sie auf. Einen Augenblick lang war er verwirrt. Hinter der Tür war eine nackte Mauer. Aber als ihm der erste Gedanke an einen Hinterhalt durch den Kopf raste, hörte er auch schon das vertraute Knirschen einer Mauerfalle, und als er her-umwirbelte, sah er die Tür, durch die er gerade ein-getreten war, verschwinden und eine Steinplatte her-unterdonnern und einrasten. Der Alte hatte ihn in der Falle. Wie hatte er so dumm, so unvorsichtig sein können? Aber warum sollte ihn ein alter Pelbar in die Falle locken wollen? Stel ließ sich gegen die Mauer sinken und blickte sich um.

Er befand sich in einem großen Gewölbe. Das Fenster war zu hoch, als daß er es hätte erreichen, und ohnehin zu schmal, als daß er sich hätte durchquet-schen können. Am höchsten Punkt des Gewölbes befand sich ein kleines, quadratisches Loch, wo man den letzten Schlüsselstein hätte einsetzen können. Es war dunkel, aber Stel wußte, daß der alte Mann bald durch diese Lücke zu ihm herunterschauen würde. Er studierte das ihn umgebende Mauerwerk. Die Schlüsselsteine auf beiden Seiten griffen über die an-grenzenden Steine im Gewölbe und verkeilten so wirkungsvoll die Reihe. Es war gut gemacht. Im Augenblick mußte er abwarten und mit dem Alten reden.

Bald rief die dünne Stimme von oben zu ihm herunter. »Ich habe fünfunddreißig harte Winter lang hier auf dich gewartet. Ich wußte, daß die Dahmens mich holen würden. Ich wußte, daß sie jemanden schicken würden. Ich habe mich auf dich vorbereitet.« Er lachte nervös.

»Was? Die Dahmens sollen mich geschickt haben?

Wozu?«

»Es ist sinnlos, mir etwas vorzumachen. Habe zu lange gewartet. Wußte, daß sie die Verbannung nicht für ausreichend halten würden, wenn sie erkannten, wie ich sie getäuscht hatte.«

Stel schüttelte den Kopf. »Niemand täuscht die Dahmens. Wovon sprichst du? Die Dahmens täuschen alle anderen. Sie sind das Geschwür im Magen von Pelbarigan.«

Der Alte lachte. »Solches Reden hat keinen Sinn.

Ich weiß Bescheid.«

Stel überlegte. Wovon sprach der Alte? Er hätte die Dahmens hinters Licht geführt? Und vor mehr als fünfunddreißig Jahren? Was meinte er? Ein Gedanke begann Stel zu dämmern. Er stand plötzlich auf und schaute hoch. »Du. Du bist nicht Scule. Du bist Soole, verbannt wegen des Unaussprechlichen, du bist ohne Widerstand gegangen und hast für Visib, deine Braut eine Falle aufgestellt, die sie tötete, als sie euren Raum wieder betrat. Ich habe deine Geschichte ge-hört. Wie man nach dir suchte und dich niemals fand.

Hier bist du also? Ich kann es nicht glauben. Und ich bin durch die gleiche, weglose Wildnis hierhergekommen und ebenfalls in die Falle gegangen. Ich dachte, du kämst aus der finsteren, verlorenen Vergangenheit.«

Nach kurzem Schweigen gluckste der Alte wieder.

»Für Visib? Sie wurde also getötet. Ich war des Unaussprechlichen nicht schuldig. Visib selbst war es.

Ich habe es entdeckt. Als sie das erfuhr, fand sie Möglichkeiten, mich anzuklagen, mich nicht lange nach der Friedenswoche zu verbannen, überzeugt, daß ich den Tod finden würde. Ich lenkte dieses Schicksal auf sie, und jetzt lenke ich es auf dich. Ich wußte, daß sie niemals aufgeben würden.«

Stel war ganz schwindlig. »Auf mich? Was habe ich getan?«

»Du bist ein Sucher der Dahmens. Ich wußte, daß sie irgendwann kommen würden. Jeder, der nach Westen reist, kommt zu den zwei großen Brandflä-

chen, den leeren Stellen, die sich überlappen. Wenn er sie südlich umgeht, erreicht er das große Becken, das nach Westen führt. Von da aus kann er die Berge südlich umgehen, oder die alte Straße nimmt ihn dort auf, und er kommt auf ihr über den Paß. Du warst geschickt, aber nicht geschickt genug, um mich zu täuschen.«

Stel ließ sich wieder zu Boden sinken. »Ich will niemanden täuschen, höchstens mich selbst. Ich bin auch verbannt. Laß mich gehen, und ich kehre nie mehr zurück. Ich habe deine Zeichen erst gestern gesehen. Ich will vor dem Winter aus diesen Bergen heraus. Mach jetzt die Tür auf. Ich werde dich nicht belästigen. Du solltest von deinen eigenen Schwierigkeiten her wissen, wie groß die meinen sind – hoch wie ein Wipfel, größer als diese Gipfel. Mehr als nur ein Zipfel. Ich bin ohne Hilf, wie Schilf. Ich fühl' mich wie Unkraut in meiner Haut. Laß mich zieh'n. Ohne Gewinn. Nie wieder komm ich hierhin.«

Scule lachte wieder. »Schön, noch einmal ein Pel-barwortspiel zu hören. Aber mich kannst du nicht täuschen. Es ist keine Freundlichkeit darin. Sieh dir doch deinen Langbogen an. Jetzt lasse ich dich nachdenken. Schicke dir ein bißchen Essen und Wasser hinunter und komme morgen wieder. Bis dahin kannst du in Ruhe nachdenken. Mach dir keine Sorgen. Habe genug zu essen. Wie ich schon sagte, habe ich dich erwartet, Dahmen, und jeden Winter zusätzlich Nahrung für dich vorbereitet. Erwarte, daß du mir von Pelbarigan erzählst und schließlich gestehst.«

»Was gestehen?« Aber es kam keine Antwort mehr.

Nach einiger Zeit wurde eine dünne Getreidebrühe und eine Flasche Wasser an einer dünnen Schnur durch das Loch heruntergelassen. Stel band die Sachen los. Wieder sagte er: »Was gestehen? Was willst du, daß ich gestehe? Daß ich deinetwegen hergekommen bin, um dich zurückzuholen? Das ist nicht wahr. Wie kann ich das gestehen? Es wäre nur eine Lüge. Bin ich hier, um zu lügen? Verwesen sollst du mit deinem Unsinn. Wenn ich gestehe? Wirst du mich dann töten? Wird Scule ein Skelett aus mir machen?

Wahrscheinlich. Du ermutigst mich auf jede Weise, nicht zu gestehen – ich weiß ja nicht einmal, was ich gestehen soll. Du verwirrst mich.«

Von oben flüsterte die Stimme des alten Mannes.

»Wir haben viel Zeit«, dann schwieg sie.

Sie hatten Zeit. Gelegentlich sprach Stel zu dem Loch im Dach hinauf, aber da keine Antwort kam, hörte er schließlich damit auf. Er spürte, daß der Alte nie weit weg war, daß er ihn vielleicht da oben aus der Dunkelheit beobachtete. Was war er für ein Narr gewesen. Sein Vertrauen auf eine Pelbarbegrüßung und der Anblick der gegenüberliegenden Tür hatten ihn vielleicht in die Falle gelockt. Scule war eindeutig wahnsinnig. Stel hatte als Kind von ihm gehört, eine Legende, hinter vorgehaltener Hand erzählt, als Warnung vor den Gefahren, die entstanden, wenn sich Männer von der Herrschaft der Frauen befreiten.

Scule behauptete also, Visib habe das Unaussprechliche begangen. Stel glaubte es ihm fast. Aber dafür war keine Zeit. Er mußte unbedingt einen Weg nach draußen finden.

Er machte sich daran, den steinernen Raum zu untersuchen. Scule mußte ein meisterhafter Steinmetz sein. Die Arbeit war großartig und sorgfältig ausgeführt. Jeder Steinwürfel war ohne Mörtel eingefügt und so genau angeschlossen, daß man nicht einmal eine Messerklinge in die Spalten schieben konnte. Stel wußte, daß die Verzahnung jedes Rutschen verhindern würde. Nach einiger Zeit fand er den Schwingstein im Boden, der als Toilette gedacht war und sich in einen Raum weiter unten entleerte, aber selbst da waren die umliegenden Steine so fest und genau aneinandergefügt, daß Stel sie nicht herauslö-

sen konnte.

Er war noch mehr beunruhigt, als er die Mauerfalle untersuchte und sie so fest eingerastet fand, daß Scule sie wahrscheinlich gar nicht herausnehmen konnte, selbst wenn er gewollt hätte. Man mußte sie Stein für Stein von außen auseinandernehmen, falls Scule dazu noch genügend Kraft hatte. Es war eine Einbahnfalle, eine Sackgasse. Stel wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Fenster zu. Dort schien es auch wenig Hoffnung zu geben. Der obere Teil des Gewölbes machte den vielversprechendsten Eindruck. Als Stel ihn studierte, glaubte er zu sehen, daß die beiden Steine, die an Scules Sichtloch angrenzten, nur hin-eingeschoben waren. Wenn man sie durch einen sehr festen Stoß von unten lösen konnte, würde ein Teil des Gewölbes einstürzen.

Wahrscheinlich lag obendrauf irgendein Gewicht, um das zu verhindern. Aber Scule wollte ja herunterschauen, also war das Gewicht wahrscheinlich nicht allzu groß. Das Gewölbe war jedoch ohnehin zu hoch.

Stel hätte die Steine mit einer Stange wegschieben müssen, und er hatte keine. Was war mit der falschen Tür? Als Stel sie untersuchte, entdeckte er, daß nur eine dünne Lasur auf dem Holz war, und daß Scule quer zur Faser tief hineingeschnitten hatte. An diese Möglichkeit hatte er also auch gedacht.

Stel ging im Geiste durch, was er bei sich hatte. Er holte nichts aus seinem Rucksack, denn je weniger Scule wußte, desto besser. Er hatte seine Flöte in einer Seitentasche stecken, eine kurze Auswahl aus den Worten Avens, seine Kleidung, einen beträchtlichen Vorrat an Trockenfleisch, einige gemahlene Samen, seinen kleinen Eisentopf, sein kurzes Messer, seinen Kurzbogen und sieben Pfeile, seinen Schlafsack, der oben draufgeschnallt war, eine Rolle Rohlederschnur, fünf Nagetierfelle, einen kleinen Beutel mit verschiedenen Fellen, sein Feuerzeug, seine Nadeln und Seife.

Außerhalb des Rucksacks trug er noch seinen Langbogen und neun Pfeile, sein Kurzschwert, den halb-fertigen Mantel, seine Schneegleiter, die Wasserflasche und einen Zunderbeutel. All diese offen getra-genen Dinge konnte Scule sehen.

Als nach – wie es Stel vorkam – einer Ewigkeit die Sonne unterging und das Licht, das durch das hohe Fenster hereinfiel, erlosch, bekam er Angst. Dunkelheit sammelte sich hier so in Pfützen wie in den Höhlen unter Pelbarigan, wo man das Eis lagerte.

Nicht einmal ein Stern war durch das Fensterloch zu sehen. Kälte schien auf ihn niederzuströmen. Nirgends überlebte ein Lichtschein.

Lange Zeit saß Stel schweigend da. Dann tastete er im Dunkeln die Mauern ab, Stein für Stein, um zu sehen, ob Scule irgendwo einen Schlüssel hinterlassen hatte, einen einzelnen Stein, den man hinausschieben konnte, um eine an Angeln befestigte Steinkonstruk-tion zu bewegen. Als er sicher war, daß er alles untersucht hatte, fing er noch einmal von vorne an und klopfte mit dem Ende seines Kurzschwerts dagegen.

Alles war massiv. Er merkte, daß hinter drei Seiten des Raumes Fels war, nur die Wand mit dem hohen Fenster war eine Außenwand.

Schließlich setzte er sich wieder. Er würde Scules Entscheidungen abwarten müssen, würde sehen müssen, was ihm beliebte. Er nahm seine Flöte heraus und beruhigte sich, indem er lange Zeit langsam und würdevoll fast alle Hymnen an Aven spielte, mindestens drei Dutzend, er spielte die Melodie so oft, wie es Strophen gab und dachte sich den Text dazu. Die Musik erfüllte ihn mit Erleichterung, aber als er aufhörte, schien ihm die Stille nur um so bedrückender.

Nach langer Zeit wurde er schläfrig, kroch schließlich in seinen Schlafsack und nickte ein.

Es war heller Tag, als er erwachte. Ein frischer Wasservorrat stand auf dem Boden und Eintopf, der Fleisch und Gemüse enthielt. Stel starrte beides lange Zeit an, ehe er aß und trank. Dann benützte er den Rest des Wassers dazu, sich zu waschen, schliff sein Kurzschwert auf den Fußbodensteinen und rasierte sich, so gut er es ohne Spiegel oder Wasserfläche konnte. Als er fertig war, lehnte er sich wieder gegen die Mauer. Das Schweigen hielt an.

Endlich fragte die Stimme von oben: »Bist du bereit zu gestehen?«

»Ich habe nichts zu gestehen. Ich bin ein Verbannter wie du. Ich habe ein Dahmenmädchen geheiratet, aber ich konnte mich nicht so völlig unterwerfen, wie die Dahmens es wollten. Bei meiner Frau war das ei-ne Sache, bei ihrer Familie eine andere. Ich mußte fliehen, als die Sippschaft versuchte, mich um die Ek-ke zu bringen. Nun wandere ich seit letzten Winter herum. Fast ein ganzes Jahr ist es jetzt. Du irrst dich.

Laß mich heraus, damit ich über diese Berge komme, ehe der Winter hereinbricht.«

»Was liegt denn jenseits der Berge?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe gehört, daß es im Westen, weit entfernt, ein großes Meer gibt. Man sagte mir, daß die Pendler jenseits der Berge leben. Sie sind Hirten.«

»Hinter den Bergen ist Trockenheit, Flüsse, die in Schluchten gefangen sind, und dann noch mehr Trockenheit, die kein Mensch durchqueren kann. Ein großes Meer gibt es nicht.«

»Bist du dort gewesen?«

»Weit draußen in der Trockenheit. Bin dann in die Berge zurückgekehrt, wo ich allein sein und auf die Dahmens warten konnte. Auf dich.«

»Allein sein? Wer war denn dort? Die Pendler?«

»Ja, die Hirten. Sie haben mich weggejagt.«

»Warum?«

Von oben kam nur Schweigen. Endlich sagte Scule.

»Ich stelle die Fragen. Du beantwortest sie.«

»Nein. Ich werde einige beantworten, und du wirst auch einige beantworten.«

»Du vergißt etwas. Du bist der Gefangene.«

»Nur mein Körper. Nicht mein Geist oder mein Wille. Ich kann immer noch entscheiden, ob ich antworten will oder nicht.«

»Und ich kann dir Essen und Wasser vorenthalten.

Ich kann zusehen, wie du stirbst. Du kannst nichts tun.«

»Das würdest du einem Pelbar antun, der dir nichts zuleide getan hat? Dann hast du Visib also doch er-mordet, genau, wie man es in Pelbarigan erzählt. Und ohne Grund. Ich glaube, sie hat dir nichts getan, ge-nausowenig wie ich. Ich glaube, du bist wahnsinnig.

Du warst immer wahnsinnig. Und ich glaube, daß du das Unaussprechliche durchaus begangen haben könntest.«

Von oben kam wieder nur Schweigen. Es dauerte den ganzen Tag. Stel ging auf und ab, untersuchte alles und dachte nach, bis er fast den Verstand verlor.

Am Abend spielte er wieder auf seiner Flöte. Dann schlief er. Am Morgen wurde kein Essen heruntergelassen und auch kein Wasser. Bis zum Mittag war Stels Durst aufs Äußerste gestiegen. Bei Sonnenuntergang lag er einfach mit matten Augen da, die Zunge schwoll ihm im Munde an, als die Abendkälte wieder durch das Fenster hereinströmte.

Als es schließlich völlig dunkel war, sagte eine Stimme von oben: »Spiel auf deiner Flöte!«

»Zu trocken«, krächzte Stel.

Von oben sah er ein Licht. Eine Wasserflasche sank an einer Schnur herunter und blieb gerade außerhalb seiner Reichweite hängen. »Wirst du spielen?«

Stel brachte heraus: »Ja, wenn genug Wasser da ist.« Die Flasche kam herunter, und Stel trank sie leer.

Die Flasche wurde wieder hochgezogen.

»Jetzt spiele!«

»Nicht genug Wasser. Ich brauche mehr.«

Nach erneutem Schweigen kam die Flasche gefüllt wieder herunter, und Stel trank in tiefen Zügen, dabei gelang es ihm, ein wenig Wasser in seine eigene, ausgepichte Flasche zu gießen, die er unter dem Mantel hatte.

»Jetzt spiele!«

Stel setzte sich an die Mauer und spielte die lange Hymne an Aven, die Quelle des Flusses, die den Regen brachte, die Knospen schwellen ließ, Binsen streckte, die Menschheit segnete.

Die Stimme sagte von oben: »Nicht Aven hat dir das Wasser gegeben. Das war ich.«

Stel spielte wieder, einen Psalm auf die Güte, die Aven den Frauen ins Herz gelegt hatte, damit sie so gerecht regierten, wie Sie selbst es tat.

Wieder sagte die Stimme: »Bin meiner selbst wegen gütig, nicht Avens wegen.«

Stel antwortete nicht. Er spielte wieder, nun die uralte Hymne auf die Freundlichkeit, auf die Sorge um die Kinder, auf die Nachsicht mit der Torheit der Menschen, auf das strenge Festhalten an den Gesetzen Avens.

»Spiel etwas anderes, keine Hymne! Du bist schlimmer als das Winterfest.«

Stel spielte ein Liebeslied, das Lied von Iri, deren Augen so tief schienen wie die alten Opferteiche.

Dann spielte er das Lied der Verteidigung, den Chor der Gardisten, das Gebet ›Um Waffen so stark wie Flußgestein/sie verteidigen die Stadt, sie ganz allein.‹

Wieder gackerte Scule leise. »Die Pelbar glauben, daß diese Flußklippen hoch sind. Sie haben noch kein Gebirge gesehen. Jetzt ist es Zeit, daß du dich ent-schuldigst.«

»Entschuldigen?«

»Für das, was du gesagt hast.«

»Wann? Ach so. Nun, vielleicht hast du das Unaussprechliche nicht begangen. Ich weiß es wirklich nicht. Es ist mir auch gleichgültig.«

»›Vielleicht‹ reicht nicht.«

»Ich weiß es doch wirklich nicht. Von klein auf ha-be ich gehört, daß du es getan hast. Du bist eine Legende, eine Warnung vor den Männern, die nicht gehorchen. Aber viele von uns freuten sich darüber, daß du den Dahmens eins ausgewischt hast.«

»›Vielleicht‹ reicht nicht.«

»Willst du von mir hören, daß du es nie getan hast?«

»Das ist die Wahrheit.«

»Wie soll ich das wissen?«

»Bist du gerne durstig?«

»Nein. Es ist schrecklich. Durst ist das Schlimmste.

Ich werde es sagen, weil du es so willst. Nein, Scule, der du die Unschuldigen einsperrst. Du hast das Unaussprechliche nicht begangen. Nun, fühlst du dich jetzt besser? Wieviel bedeutet das denn? Ein erzwun-genes Eingeständnis einer Sache, die niemand wissen kann.«

Oben wieder langes Schweigen. Endlich sagte Scule: »Das redet man also in Pelbarigan von mir. Und was glaubst du, sagt man von dir?«

»Darüber habe ich schon oft nachgedacht. Ich habe meine Familie. Meine eigene. Ich weiß, daß sie um meinetwillen Schande ertragen hat. Ich weiß aber auch, daß sie der Meinung ist, ich hätte getan, was ich tun mußte. Sagan riet mir, nach Nordwall zu gehen.

Nur an meine Frau muß ich denken.« Stel verstummte seinerseits und dachte an Ahroe.

»Du sollst nicht denken«, sagte Scule. »Deine Frau wird sich nicht an dich erinnern. Sie ist inzwischen entweder verheiratet oder begeht, wie bei den Dahmens so üblich, das Unaussprechliche. Sie ...«

»Hör auf, du verrückter, alter Kerl!« Stel war aufgesprungen und schrie zu dem Loch in der Decke hinauf. »Was weißt du denn? Du bist doch wahnsinnig. Du bist pervers. Du würdest die Anständigkeit nicht einmal erkennen, wenn du sie in der Falle hättest. Zum Teufel mit dir! Du weißt nichts von meiner Frau.« Stel hielt inne, um Atem zu holen, sein Geschrei schien in dem hohen, dunklen Raum vielfältig widerzuhallen.

Scule lachte. »Du weißt, daß ich recht habe. Sonst würdest du nicht so wütend werden. Außerdem hast du mich pervers genannt. Das werde ich mir nicht gefallen lassen. Jetzt sollst du erfahren, was Durst ist.«

Schweigen folgte, dann war aus der Ferne noch einmal Scules Gelächter zu hören. Also mußte Stel noch mehr Durst leiden. Zum Teufel mit Scule! Wenigstens hatte Stel ein bißchen Wasser, um auszuhalten.

Langsam schlug sein Zorn in Verzweiflung um. Er kroch in seinen Schlafsack und nahm einen kleinen Schluck aus seiner ausgepichten Flasche. Draußen hörte er undeutlich den Wind und spürte, daß er kälter geworden war. Und wenn Scule nun recht hatte? Wenn Ahroe wieder geheiratet hatte – nein.

Noch nicht. Die vorgeschriebene Wartezeit war noch nicht vorüber. Aber wenn sie ihn vergessen hatte?

Wenn man über ihn in Pelbarigan so redete, wie man über Scule geredet hatte, der eine Legende des Bösen geworden war? Stel konnte lange nicht einschlafen.

Endlich nahm er seine Flöte heraus und spielte in seinem Schlafsack auf dem Steinboden liegend ein paar Hymnen. Er wurde ruhiger. Endlich hörte er mitten in einer Hymne auf, weil ihn die Schläfrigkeit über-mannte, und zog seine Arme in den Schlafsack, um sie zu wärmen.

Oben schaute, wenn Stel es auch nicht sehen konnte, Scule in den Raum hinunter, beunruhigt, weil die Hymne nicht zu Ende gespielt wurde. Der Alte blickte lange Zeit finster durch das dunkle Loch. Er konnte Stels schweres Atmen hören.

Stel träumte von dem großen Tier in den Bergen.

Immer wieder erhob es sich auf die Hinterbeine und türmte sich vor ihm auf, sein Kopf suchte prüfend herum, die Nase schnüffelte die Luft. Es schien immer größer und breiter zu werden und hing über ihm. Langsam wurde das Tier zu Ahroe, dann wieder zum Tier. Schließlich wurde der Traum dunkler und ging in Tiefschlaf über.

Im grauen Licht des nächsten Morgens blies der Wind einen Wirbel von Schneeflocken in die Fensteröffnung und verstärkte die Kälte. Scule kam nicht.

Stel stand auf, absolvierte ein Übungsprogramm der Pelbar, kehrte dann, steif von der Härte des Steinbodens wieder in seinen Schlafsack zurück. Er steckte den Kopf in den Sack und nippte an seiner ausgepichten Flasche, aber sparsam. Wenn er Durst leiden mußte, wollte er wenigstens aushalten, solange er konnte.

Scule erschien den ganzen Tag nicht. Stel blieb meistens im Schlafsack, aber wenn ihm warm genug war, arbeitete er an seinem Wintermantel weiter. Die Nacht brach herein mit dem blauen Widerschein des Schnees. Wieder nippte Stel an der ausgepichten Flasche und stellte besorgt fest, daß er sich jetzt dem En-de seines Wasservorrats näherte. Hunger schnitt in seinen Magen. Die Nacht brachte noch mehr Verzweiflung. Schließlich und endlich hatte er sie verlassen. Er hatte das bei seiner Heirat gegebene Versprechen gebrochen. Hatte er Ähnlichkeit mit Scule? Und wenn Scule die Wahrheit sagte? Was war, wenn Ahroe – nein. Aber wenn sie ihn als Schwächling betrachtete, der es nicht wert war, daß man sich seiner erinnerte? Nun, was machte es aus? Er konnte nicht zurück. Andererseits war Ahroe nicht wie die anderen Dahmens. Sie war wie der Stahl eines Gardisten-schwerts. Sie hätte ihn verteidigt. Aber er war gegangen. Und sie hatte ihn nicht verteidigt. Aber sie war ihm gefolgt.

Stel schlief ein. Wieder kam der Traum, eine riesige, zottige Gestalt, die mit der Ahroes verschmolz. In dieser Nacht trank Stel den Rest des Wassers.

Auch am nächsten Tag erschien Scule nicht. Stel absolvierte wieder die Pelbarübungen, aber lustlos.

Wieder hatte er heftigen Durst. Verbissen arbeitete er an seinem Mantel und fütterte seine dicken Stiefel mit den weichen Sohlen mit vier seiner kleinen Felle aus.

Schließlich kehrte er in den Schlafsack zurück. Das Trockenfleisch hatte er nicht angerührt. Lieber Hun-gerqualen leiden als seinen Durst noch zu vergrö-

ßern.

In der nächsten Nacht kam der Traum wieder. Er schien noch größere Ausmaße anzunehmen. Das gro-

ße Tier erhob sich und schwebte direkt im Raum.

Dann schrumpfte es und wurde zu Ahroe. Sie nahm ihr Kurzschwert heraus, hielt es hoch, blies darauf und verwandelte es in eine Fackel, die den ganzen Raum erhellte. Anscheinend sah sie ihn nicht. Stel erhob sich auf die Knie und streckte die Hand nach ihr aus. »Ahroe«, krächzte er in seinem Durst. »Ahroe.

Hier. Hier. Hilf mir!«

»Ich hatte einen Gatten«, sagte die Vision Ahroes langsam und gemessen, mit ihrer Stimme, aber tonlos. »Er hieß Stel. Ich hielt ihn für stark. Er war schwach. Er verließ mich. Er wollte keine Disziplin akzeptieren. Einige sagen, er sei unaussprechlich gewesen. Ich weiß es nicht. Ich dachte, er liebe mich. Er ging fort. Ich folgte ihm, aber er entschlüpfte mir.

Nun werde ich mit meinem Flammenschwert sein Gedächtnis auslöschen.« Das Gesicht der Vision verzerrte sich plötzlich vor Haß, näherte sich dem knienden Stel und fuhr immer und immer wieder in weiten Bögen mit der Flamme durch ihn hindurch.

Der Schmerz schien ihn zu zerschneiden. Stel schrie immer wieder vor Schmerz auf. Die Vision lachte mit der Stimme Scules, blies das Schwert aus, steckte es in die Scheide und sagte leise: »Nun. Es ist vorbei. Es gibt keinen Stel mehr. Es gibt keinen ... wie hieß er doch? Er hatte keinen Namen. Es hat ihn nie gegeben.

Ich hatte ein namenloses Mißgeschick, aber jetzt ist es vorüber.«

Langsam verschwand die Vision. Stel krümmte sich auf dem Boden. Allmählich kamen Dunkelheit und Kälte zurück. Nein. Es war nicht geschehen. Er befand sich in Scules Gefängnis in den Bergen, es war Winter, er hatte nichts zu essen und kein Wasser, war Gefangener eines verbitterten, alten Wahnsinnigen.

Nun, es war nicht so wichtig. Vielleicht hatte die Vision recht.

Was sollte er tun? Er war durcheinander. Vielleicht würde er zum Buch Avens zurückkehren. Nichts war wichtig, sagte das Buch, außer, gerecht und gnädig zu sein und zu lieben. Was war mit der Wahrheit?

War er geschlagen? Und war es nicht doch wichtig, daß dieser elende, alte Mann ihn gefoltert hatte?

Würde er es so lange ertragen, wie er konnte, wie in Pelbarigan, und es dann fertigbringen, Scule im Dunkeln einen Pfeil in den Leib zu schießen, während er durch das Loch mit ihm sprach, obwohl er wußte, daß das seinen eigenen Tod bedeutete?

Nein, das würde er nicht tun. Mochte der Alte ihn töten, Stel würde ihn nicht töten. Zu allererst würde er damit seine eigene Hoffnung zunichte machen.

Zweitens hatte etwas Unbekanntes diesem alten Mann seine qualvollen Jahre eingebracht. Das hatte er alles in Stel hineinprojiziert mit seinem Mythos über die Sucher der Dahmens. Wenn er Stel tötete, konnte er vielleicht endlich Ruhe finden. Wenigstens blieb ein Menschenleben übrig, ganz gleich, wie verbogen, während es andernfalls in den ganzen Bergen keines mehr gab. Stel schlief wieder ein.

Am Morgen stand auf dem Boden ein Steinkrug mit Wasser und ein kräftiger Eintopf. Stel kroch hin und aß und trank sehr langsam. Es schmeckte gut. Er kehrte in den Schlafsack zurück und kroch in seinen Wintermantel hinein. An diesem Tag sprach Scule nicht mit ihm, und Stel schlief fast den ganzen Tag.

Die Nacht löste sich in Mattigkeit auf.

Am Morgen sagte die Stimme von oben: »Du mußt dich entschuldigen.«

»Ich entschuldige mich«, sagte Stel, immer noch im Schlafsack.

»Du mußt auch gestehen.«

»Ich gestehe. Was soll ich gestehen?«

»Du mußt gestehen, daß du gekommen bist, um mich zu holen, geschickt von den Dahmens, den unversöhnlichen Verwandten Visibs.«

»Das ist nicht wahr. Aber ich gestehe es.«

»Wenn es nicht wahr ist, warum gestehst du dann?«

»Es bedeutet dir anscheinend sehr viel. Für mich ist es nicht wichtig.«

»Wer ist Ahroe?«

»Ahroe?«

»Du hast in der Nacht nach Ahroe gerufen. Sie ist also deine Frau, diese Ahroe.«

»Warum ist das denn wichtig?«

»Wenn ich dir sage, warum, wirst du mir dann von ihr erzählen?«

Stel antwortete nicht. Scule wiederholte die Frage.

Stel antwortete noch immer nicht.

»Du willst also wieder dürsten?«

»Alter Mann, du kannst mich verdursten lassen, wenn du das willst, aber ich wünsche es mir nicht.

Aber es gibt einige Dinge, über die ich mit dir nicht sprechen will.«

Scule dachte über diese Worte nach. Irgendwie wußte er, daß Stel es ernst meinte. Etwas rastete in ihm ein. Er wollte Stel nicht töten. Er selbst lag da unten auf dem Boden und wurde von sich selbst gefoltert. Nun, hatte er denn die Folter nicht verdient?

»Dann erzähl mir von Pelbarigan. Wie ist es da?

Hält man den Außenstämmen immer noch so gut stand wie früher?«

Stel richtete sich auf. Er erzählte Scule vom Kampf um Nordwall und wie die Pelbar sich mit den Shumai und Sentani verbündet hatten, um die Sklaven der Tantal zu befreien. Mit den Fragen des Alten redete er einen großen Teil des Tages über die Stadt.

Scule war blutsverwandt mit seinem Vetter Ruudi, wie Stel herausfand, wenn auch nicht mit ihm.

Endlich, gegen Abend, sagte Stel: »Alter Mann, ich habe in den Bergen ein riesiges Tier gesehen, dunkel und zottig. Es hat sich vor mir aufgestellt wie ein Mensch, aber größer, mit langen Klauen. Dann hat es sich wieder auf alle Viere niederfallen lassen und ist den Berg hinuntergegangen.«

Scule sagte eine Weile gar nichts. Schließlich meinte er: »Du lügst. So ein Tier gibt es nicht.«

»Ich habe es gesehen. Ich dachte, du kennst es vielleicht. Aber es ist nicht so wichtig, obwohl ich davon geträumt habe. Es könnte einen Menschen zer-drücken wie ein Ei.«

»So ein Tier gibt es nicht. Es ist die Teufelsbestien-fahne der Pendler. Du sagst, du kommst aus dem Osten. Wie bist du in den Westen gelangt?«

»Es war, wie ich dir gesagt habe.«

»Man muß dir beibringen, nicht zu lügen.«

»Wie du willst, aber bitte keinen Durst mehr. Versuche es auf eine andere Weise. Du wirst sehen. Ich habe nicht gelogen.«

Scule zögerte. »Ich werde deine Essensrationen ein-schränken.«

»Sie sind schon schmal genug.«

»Ich werde mich vor dir zurückziehen.«

»Wie du willst. Du bist ein empfindlicher Gesellschafter. Empfindlich und unglücklich. Ich wünschte, du würdest den Schlüsselstein berühren.«

Von oben kam wieder nur Schweigen. Stel seufzte vor sich hin. Wie lange hatten die Menschen jetzt in wie vielen Situationen versucht, ihn zu beherrschen?

Hier war es am schlimmsten. Dagegen erschienen die Dahmens noch gütig, McCarty vernünftig.

Am nächsten Morgen begannen die halben Rationen.

Stel hatte am Abend zuvor sorgfältig seine Streifen getrockneten Rindfleisches gezählt. Es waren sieben-undvierzig. Er wollte jede Nacht in der Dunkelheit einen halben Streifen kauen. Das würde seinen Hunger lindern.

Das Schweigen von oben hielt zweiundzwanzig Tage lang an. Stel wurde immer teilnahmsloser und in sich gekehrter. Das Einerlei von Leere und Kälte ließ ihn einfach auf den Stimmungswechsel warten, der, wie er wußte, mit der Zeit kommen würde. Inzwischen setzte der Winter stärker ein. Stel wurde nie richtig warm. Die betäubende Kälte schien ihn zu zwingen, sich noch tiefer in sich selbst zurückzuzie-hen.

Einige Zeit schien er der einzige Mensch auf der Welt, ein Hitzekörnchen in einem Wirbel von Kälte – einsam, fern, einmalig. Das bedeutete also Alleinsein.

Wirkliches Alleinsein. Abgeschnitten von Vergangenheit, Zukunft, Wärme, von jeder Beziehung. Er würde wie ein ersterbendes Feuer zusammen-schrumpfen zu einem Glutteilchen und dann erlö-

schen. Ein Rauchfaden würde ins Nichts aufsteigen und verschwinden. War das nun die Folge davon, daß er Pelbarigan verlassen hatte? Ins Chaos zu treten und dann ins Nichts? Nein. Aven gab es immer noch.

Und es gibt Konsequenzen von Aven im Verhalten der Menschen. Irgendwo. Konnte es hier sein? Wenn er ausbrennen mußte wie die Glut, dann wollte er beim Ausbrennen Licht, Wärme an die teilnahmslose Dunkelheit, sogar an den wahnsinnigen Scule abgeben.

Endlich meldete sich Scule wieder. »Ich werde deine Rationen noch mehr kürzen«, sagte er eines Morgens unvermittelt. Für Stel folgte eine Periode mit noch größerem Hunger und mehr Kälte. Er verlor schließlich den Überblick über die Tage, vergaß, mit der Spitze seines Kurzschwerts die Kerben in die Wand zu machen. Wieder träumte er von dem gro-

ßen Tier, aber es verwandelte sich nicht in Ahroe. Es schien immer höher aufzuragen, zu wachsen und zu verblassen. Schließlich kaute Stel einen ganzen Streifen Rindfleisch in der Nacht, aber die Dunkelheit brachte immer noch sich jagende Phantasien mit sich.

Stel hatte sogar aufgehört, Flöte zu spielen. Er versuchte sich die Lieder vorzudenken.

Als endlich sein Rindfleisch zu Ende ging, obwohl er es sich sorgfältig einteilte, sah er, in der pechschwarzen Dunkelheit, zusammengekauert und vor Kälte zitternd, ein, daß er sich irrte. Er mußte selbst von sich abgeben. Wenn der alte Mann zurückhielt, was er brauchte, war das nicht seine Sache. Er sollte also allein hier sterben. Er würde sterben und dabei er selbst bleiben, nicht nur er selbst, sondern der beste Stel, den er kannte. Er wollte spielen und setzte sich in den Schlafsack gewickelt auf. Seine Finger verweigerten ihm den Dienst, selbst bei langsamen Liedern.

Die Ergebnisse waren über alle Maßen schwerfällig.

Stel lachte im stillen, dann laut. Er versuchte es wieder, aber es wurde nicht besser. Er spielte die Hymne an die Frühjahrshochflut, die den Pelbar in Zeiten der Feindseligkeit soviel Holz gebracht hatte, daß sie wie ein Geschenk Avens erschien. Dann spielte er sie noch einmal.

Beim dritten Mal ertönte Scules Stimme von oben: »Hör auf! Wenn du spielen willst, dann spiele richtig, sonst laß es!«

»Meine Hände sind zu kalt.«

»Dann hör auf!«

»Und wenn ich es nicht tue? Wirst du mir dann die Rationen völlig vorenthalten?«

»Vielleicht.«

»Ich werde aufhören.«

»Du brauchst nicht aufzuhören. Spiel richtig!«

»Du verstehst mich anscheinend nicht. Ich würde ja, wenn ich könnte. Ich friere zu sehr, und ich bin zu hungrig. Weißt du, daß du mich langsam tötest? Aber da es dich stört, werde ich aufhören. Ich werde auf die Töne in mir lauschen, die nicht von meinen Fingern abhängig sind.«

Nach einem Schweigen sagte Scule von oben: »Ich habe sie gesehen.«

»Was?«

»Wie kannst du hungrig sein? Warum kommst du zurück? Ich habe die Spuren gesehen.«

»Was für Spuren?«

»Das Teufelstier. Du bist das Teufelstier. Du machst die Spuren, dann kehrst du zurück, um mich zu verspotten.«

»Nein, alter Mann. Du bist das Teufelstier. Es ist in dir. Es wird dich nie in Ruhe lassen, weil du es hegst und pflegst.« Stel war plötzlich in leichtsinniger und verspielter Stimmung. »Nachts, wenn der Mond zu-nimmt, wirst du zum Tier. Du atmest auf mich herunter, geifernd, und sagst zu dir selbst: ›Was kann ich diesem Stel jetzt antun, um ihn zu quälen? Ich bin ein Dahmen. Ich muß Menschen quälen. Ich kenne nichts anderes. Berühren bedeutet quälen. Meine Hände sind Klauen, ich muß reißen und zuschlagen. Ich war dumm genug, Stel hinter diese Steinmauern zu stek-ken, also muß ich die Klauen von Hunger und Kälte, von Schweigen und jeder anderen Grausamkeit einsetzen, um ihn damit zu erreichen.‹ Du bist das Tier.

Aber ich bin jetzt weiter gegangen als du. Ich bin im Nebel. Deine Klauen reißen an mir, können mich aber nicht verletzen. Nur der Körper blutet, nicht die Seele. Ich weiß jetzt, was du fürchtest und immer ge-fürchtet hast. Du fürchtest nicht die Dahmens. Du fürchtest nicht mich. Du fürchtest nicht einmal das große Tier. Du fürchtest dich selbst. Du bist hierher in die Berge gekommen in der Hoffnung, nie gefunden zu werden, und hast dich doch mit aller Raffinesse darauf vorbereitet, weil du Angst vor dem hast, was du tun könntest. Das hat Visib für dich – oder dir – getan. Vielleicht hast du geglaubt, du hättest sie ge-tötet. Aber du mußt sie jeden Tag in Gedanken, in deinem Abscheu vor alledem, immer und immer wieder töten. Ich sehe jetzt, daß du das Unaussprechliche nie getan hast. Du fürchtest nur die Möglichkeit, und das, was du in deiner Verzweiflung getan hast.

Und dafür danke ich dir.«

»Du lügst schon wieder«, schrie Scule durch das Loch herunter. Dann: »Warum dankst du mir?«

»Es ist Schuld, Scule. Ich sehe es jetzt. Ich habe das Tier als Ahroe gesehen. Meine Frau Ahroe. Ich habe es als mich selbst gesehen. Aber so ist es nicht. Das Tier sind eigentlich die Umstände, und vielleicht die Schwäche in uns, deshalb ist es das, was wir tun, was in uns aufsteigt, wenn schlimme Zeiten kommen.

Aber wenn es Frühling wird, werfen wir unsere zot-tigen Mäntel ab. Wenn es Zeit ist, wieder zu essen, tun wir es, weil wir die letzte Mahlzeit verbraucht haben und damit fertig sind. Ich bin jetzt frei von dir, obwohl du mich noch immer eingesperrt hältst.« Stel lachte, obwohl er vor Kälte zitterte.

»Du bist verrückt.«

Wieder lachte Stel über diese Ironie. »Nein, alter Mann. Da war ein Tier. Ich habe es gesehen, du hast seine Spuren gesehen. Ich meine, ein wirkliches Tier.

Aber es ist nur ein Tier. Das, welches wir fürchten, ist das Tier, das wir selbst sind. Es ist das Tier, das unsere Mütter auslöschen, wenn sie uns als Kindern verzeihen und ihre Tränen auf uns fallen lassen. Und als Männer müssen wir uns selbst verzeihen. Verzeih dir selbst, Scule! – Und gib mir etwas zu essen.«

»Es ist mitten in der Nacht.«

»Trotzdem bin ich hungrig. Gib mir zu essen!«

»Du bist verrückt.«

»Und du bist unschuldig. Gib mir jetzt zu essen!«

Von oben war ein leises Rascheln zu hören, aber nach einiger Zeit erschien ein kleines Licht, und durch das Loch wurde ein Eintopf heruntergelassen, zusammen mit heißem Tee. Stel nahm alles in Emp-fang, dankte Scule und aß langsam und mit Genuß.

»Das war gut. Köstlich. Wie wäre es jetzt mit einer alten Decke? Du kannst doch sicher eine erübrigen.

Ich erfriere hier unten. Wenn meine Decke kommt, wird viel von dem Teufelstier von dir weichen.«

»Du bist verrückt«, sagte Scule noch einmal. Aber er zwängte einen Umhang aus kleinen, zusammengenähten Tierfellen durch das Loch.

»Ich danke dir noch einmal«, sagte Stel. »Und nun gute Nacht. Mögest du in Sicherheit und im Troste Avens ruhen.«

Stel legte sich nieder. Jetzt hatte er wenigstens ein Ziel. Er würde tun, was er konnte, um diesen alten Mann zu unterhalten, zu belustigen, zu erziehen und zu heilen. Vielleicht konnte er sich damit auch selbst retten. Aber er hatte sich, ohne es zu merken, von seinem eigenen Schuldgefühl befreit. Wenigstens größ-

tenteils. Schließlich war er in einer Pelbargesellschaft, so klein und sonderbar sie auch sein mochte. Er wollte sehen, ob er den Alten von der langen Erinnerung an die Grausamkeit der Dahmens und an seine eigene Schwäche befreien konnte.

In den folgenden Tagen und Wochen beschäftigte sich Stel nicht nur damit, Latten aus seinen Schneegleitern zu schneiden, um daraus Trommelstöcke zu machen, mit denen er Rhythmen auf den Steinboden schlug, er überredete Scule sogar, ihm Material für eine zweite Flöte herabzulassen. Da kein Bohrer und auch kein Markholz zur Verfügung stand, brachte Stel Scule dazu, mit heißem Metall ein Loch in den Flötenschaft zu brennen, dann formte er das Instrument, machte die Fingerlöcher hinein, schnitt es genau zurecht, prüfte es und gab schließlich dem alten Mann Unterricht.

Gelegentlich, wenn Scule verlangte, er solle zugeben, von den Dahmens beauftragt zu sein, wurde das Verhältnis wieder gespannt. Aber Stel wußte, daß das etwas Endgültiges war und daß Scule, wenn er jemals den Eindruck gewinnen sollte, daß seine Einbildung von Stel sich bewahrheitete, wahrscheinlich fortgehen und ihn verhungern lassen würde. Also brachte er sein Geständnis so bereitwillig an, daß Scule wußte, es war nur so dahingesagt. Mit der Zeit merkte Stel, daß der alte Einsiedler an seinen langgehegten Mythos, die Dahmens würden ihn erwischen, selbst nicht mehr glaubte.

Der Winter hielt an, aber Stel fror jetzt nicht mehr so. Er erklärte sich bereit, dem Alten ein Paar Pelzfäustlinge zu nähen, wenn Scule ihm das Material gab, sich selbst ein Paar zu machen. Mit der Zeit machte Stel auch Socken für beide mit Pelzfutter.

Aber er war nicht frei. Eines Nachts schnallte er die schmalen Überreste seiner Schneegleiter nahe an den Enden zusammen und versuchte, die Schlüsselsteine beim Deckenloch seines Zimmers zu erreichen. Aber die Stäbe waren nicht lang genug. Er konnte keinen Druck ausüben. Vorsichtig baute er die improvisierte Vorrichtung auseinander. Ihm fiel nichts anderes ein, obwohl er unaufhörlich über das Problem nachdachte.

Der Winter wurde strenger. Stel überredete Scule, das hohe Fenster mit einem Sack voller Blätter zuzu-stopfen, aber dadurch wurde der Raum so verdunkelt, daß er in ständige Nacht getaucht zu sein schien.

Scule sagte ihm, daß der Schnee wie gewöhnlich fast bis zur Höhe des Fensters angeweht sei. Der Alte war an solche Winter gewöhnt und verbrachte einen gro-

ßen Teil der warmen Jahreszeit damit, sich darauf vorzubereiten, aber die endlose Kälte, der Wind und der Schnee entsetzten Stel und vertieften seine Isolation.

Eines Tages, gegen Abend, während er gerade aus Langeweile seine Trommelstöcke im schwachen Licht mit feinen Schnitzereien verzierte, wobei er fast nur nach Gefühl arbeitete, hörte er ein Geräusch am Fenster. Der Sack wurde hereingeschoben, ihm folgte ein großer, pelziger, mit Klauen besetzter Arm. Es war das Tier aus den Bergen. Es hielt sich fest und grapschte nach Halt, als die Schneewehe draußen unter ihm nachgab. Schließlich rutschte die Pranke wieder nach draußen.

Stel schrie nach Scule, schrie immer wieder, bis der alte Pelbar endlich an das Loch an der Decke kam.

»Was ist los?«

»Es war da. Das Tier aus den Bergen. Es war am Fenster.«

Scule verschwand und blieb lange fort. Dann kehrte er zurück. »Ich sah es durch die Bäume gehen.

Du hast also die Wahrheit gesagt.«

»Ja. Ausnahmsweise bin ich einmal froh, daß die Mauern so stark sind.«

»Es wollte dich holen. Was hast du getan, daß das Teufelstier dich holen will?«

»Es ist nur ein Tier, groß und hungrig. Es hat wohl gerochen, was du kochst.«

»Ich glaube, es wollte dich.«

»Bist du da oben sicher? Hast du Fenster, durch die das Tier eindringen kann?«

»Sie liegen zu hoch, selbst bei diesen Verwehun-gen.«

»Kannst du sie verriegeln?«

»Warum machst du dir deshalb Sorgen?«

»Wenn du stirbst, sterbe ich auch.«

»Vergiß das nur nicht.«

»Ich vergesse es nie. Du bist mein Kerkermeister und mein Spötter, mein Koch und mein Schloß, mein Beobachter und mein Vernichter, meine Mutter und mein Henker.«

»Genug. Nach so vielen Jahren des Schweigens wird mir dein Geschwätz zuviel.«

Obwohl der Vorfall damit beendet war, machte Stel sich weiterhin Sorgen. Der große Arm des Tieres war das sichtbarste lebende Wesen, das Stel in jetzt fast vier Monaten zu sehen bekommen hatte. Scule blieb über seinem Loch undeutlich. Stel achtete darauf, daß er jeden Tag seine Übungen machte, besonders, nachdem er gemerkt hatte, daß er seinen Langbogen nicht mehr spannen konnte.

Winter und Eintönigkeit hielten an. Scule gab Stel weiterhin recht gut zu essen. Er bekam täglich seine Flötenstunde durch das Loch, obwohl er nur wenig Begabung für das Instrument zeigte. Seine alten Finger würden nie sehr gelenkig sein. Aber Stel konnte manchmal hören, wie er oben übte, sich durch langsame, gemessene Lieder arbeitete. Die beiden schienen allmählich zu einer sonderbaren Hausgemein-schaft zusammenzuwachsen, Kerkermeister und Gefangener, wie in manchen Ehen, dachte Stel ein wenig bitter.

Die Krise kam plötzlich. Ein Sturm von noch grö-

ßerer Heftigkeit als gewöhnlich wehte draußen Schnee an. Stel hatte seine Übungen gemacht, seine Zelle gesäubert, gebetet, seine Hymnen gespielt und gegessen. Irgendwie war er unruhig. Etwas war nicht in Ordnung. Er wußte nicht genau, warum, aber er spannte seinen Langbogen, den er jetzt wieder ziehen konnte. Von oben hörte er, wie die Lederfenster in Scules Zimmer plötzlich zerrissen wurden. Der alte Mann schrie. Die Holzrahmen knackten und splitter-ten. Auf einmal wehten Schnee und Rauch durch das Loch in der Decke herunter. Stel legte einen Pfeil auf.

Ein tiefes Knurren sagte ihm, daß das Tier sich Zugang zum Raum über ihm erzwang. Es mußte den Alten in der Falle haben, den Entsetzensschreien nach zu urteilen. Ein Geräusch von zerreißenden Rahmen verriet Stel, daß das Tier sich in den Raum gezwängt haben mußte und ihn in einem Sprung durchquerte.

Stel sah einen großen Fuß im Deckenloch erscheinen.

Sofort zog er, schoß und durchbohrte den Fuß, ehe das Tier ihn wieder hinaufziehen konnte. Er hörte ein Brüllen und ein Kreischen, als es an dem starken Pfeil zerrte. Der Fuß füllte das Loch, das Tier fand keinen Halt, um den Schaft abzubrechen.

Stel sah, daß dem Tier gelingen würde, wonach er so lange gestrebt hatte. Es riß die Schlüsselsteine heraus. Im schwachen Licht jagte Stel noch einen Pfeil durch den Fuß, zog sein Kurzschwert und stellte sich mit dem Rücken an die Mauer, als das Tier seinen Fuß freibekam und die Steine herausriß. Als das ganze Ende des Zimmers herunterkrachte, stürzte das Tier brüllend mit in das dunkle Loch herunter.

In einem einzigen Augenblick kletterte Stel über Tier und Steine, er gab dem Tier einen Hieb über den Schädel, dann warf er das Schwert hinauf in den oberen Raum, sprang hinterher, faßte den Rand des Fuß-

bodens, zog sich hinauf, drehte sich um und schob lo-se Randsteine hinab auf das Tier, das brüllend und ächzend die Steine unter ihm aufwühlte. Es nützte nichts. Das Tier war zu groß. Stel drehte sich um, packte sein Kurzschwert, und als das Tier eine Vor-derpranke auf den Rand des Lochs legte, schlug er mehrmals darauf ein. Das Tier sank zurück, versuchte es dann mit dem anderen Fuß. Stel hackte gnadenlos darauf los, und das verletzte Tier stürzte mit Gepolter in Stels Gefängnis zurück. Im schwachen Licht konnte er die große Gestalt sehen, die sich hob und senkte und sich jetzt mit unbrauchbaren Vorderpran-ken vor Schmerzen wand.

Stel wandte sich Scule zu. Der alte Mann lag in einer Ecke, wohin ihn die Bestie geschleudert hatte. Stel drehte den Verletzten herum. Blut quoll aus tiefen Krallenspuren in seiner Seite, ein wenig blutiger Schaum stand auf seinen Lippen. Er stöhnte. Stel achtete nicht weiter auf das Tier, verstopfte das Fensterloch, so gut er konnte, mit Bettzeug, während Schnee und Kälte in den Raum strömten. Dann schürte er das Feuer, legte den Alten auf seinen Strohsack, deckte ihn mit einem Mantel zu und wärmte Wasser auf dem Feuer. Er fand alten Stoff, den er in das heiße Wasser legte, dann einen Kurzbogen, alt und ohne Spannung, mit sieben Pfeilen.

Mit diesen schoß er, langsam und überlegt, auf das verletzte Tier, bis es in einer Ecke niedersank. Dann stieg er schaudernd noch einmal in sein Gefängnis hinunter, holte seine Sachen herauf und kehrte ein zweitesmal zurück, um das große Tier abzubalgen.

Den riesigen Pelz legte er mit der Haarseite nach unten über den Verletzten.

Scule hatte nichts gesagt. Er lag da, bewegte ein wenig den Arm und atmete mühsam. Stel wusch die Wunden in seiner Seite so sanft wie möglich aus, aber Scule zuckte und wand sich kraftlos. Stel konnte nur versuchen, es ihm bequem zu machen, indem er ihn wusch und verband. Dann kehrte er zu dem Tier zu-rück, schnitt Fleisch aus dem Kadaver, kochte es und flößte Scule die Brühe ein. Er selbst verzehrte die erste, freie, nicht portionierte Mahlzeit, die er in diesem ganzen Winter bekommen hatte. Das Fleisch schmeckte nach Wild und war ziemlich zäh, aber nahrhaft.

Endlich, spät in dieser Nacht, regte sich Scule und öffnete die Augen. Er schien Stel zu erkennen. »Das Tier«, murmelte er.

»Ich habe es getötet. Es ist in der Grube. Du liegst unter seinem Fell. Du hast Brühe von ihm gegessen.

Es war nur ein Tier, und jetzt ist es tot.«

»Jetzt hast du mich.«

»Was? Ach so. Was soll ich denn mit dir? Ich bin keiner von den Dahmens. Das weißt du doch jetzt, nicht wahr?«

»Ich hatte es so lange geglaubt. Wußte es wohl.

Dann ist es also nicht wahr?«

»Nein. Es ist alles so, wie ich es sagte. Jetzt lieg still!

Du wirst gesund werden. Aber es wird lange dauern.«

»Nein. Alles ist gebrochen. Kann es spüren. Macht auch nichts.« Er seufzte schwach. »Hinterlasse alles dir.«

»Was?«

»Alles, was ich habe. Mein Haus. Vorräte.«

»Warte. Du bist ...«

»Nein. Wir wollen jetzt beide nur noch die Wahrheit sagen. Ist nicht nötig, mir zu verheimlichen ...

daß ich sterbe. Ist nicht so wichtig. Bin froh, daß ich dich kennengelernt habe. Hätte mir nicht gefallen, nach so langem Warten einfach zu sterben.« Er schwieg einige Zeit. »Es gibt ein leuchtendes Meer«, sagte er dann. »Bin nicht über das trockene Land hi-nausgekommen. Aber es gibt das Meer. Einige haben es erreicht. Auch Pendler wissen davon. Du mußt an meiner Stelle dorthin gehen. Hätte selbst gehen sollen. Hatte Angst vor den Dahmens. Im trockenen Land war alles offen. Fühlte mich in den Bergen sicherer.«

»Still jetzt! Ich werde schon einmal gehen, wenn du gesund bist. Vielleicht kommst du auch mit. Aber noch nicht jetzt.«

Scule lächelte sonderbar. »Stel, kennst du Ahroe, die alte Frau, nach der deine Frau Ahroe benannt wurde?«

Stel war verblüfft. »Ja, eine verbitterte, alte Frau, die vor fünf oder sechs Wintern gestorben ist.«

»Sie ... sie war ... ich habe sie gekannt.«

»Sie muß jung gewesen sein.«

»Aber nicht weniger verbittert. Stel ...«

»Ja.«

»Sie wollte ich töten, nicht Visib. Wußte, daß ich jemanden erwischen würde. Du hast mir diese Tage schwer gemacht, weil du mir sagtest, daß es Visib war. Habe sie geliebt, Stel. Obwohl sie ...« Er hielt in-ne. Stel traten die Tränen in die Augen. Das war also das Ende einer Geschichte von schlechter Hand-werksarbeit im menschlichen Bereich. Scule war daran beteiligt gewesen, war zum Mörder geworden.

Aber er war auch das Opfer. Wie ermüdend und traurig das alles war.

»Du sagtest, Stel, daß die Tränen einer Mutter das Tier erlösen können. Für einen Pelbarmann sind es die Tränen eines Vaters. Es sind die Tränen, die du um mich weinst. Ich sehe sie. Hätte nie gedacht, daß ein Pelbar jemals um mich weinen würde.«

»Für jeden Menschen, Scule, ist es eine Mutter oder eine Gattin, jedenfalls eine Frau. Das ist etwas, was kein Mann, nicht einmal ein Pelbar, kann. Es ist das Spezialgebiet der Frauen, so sehr sie das auch ab-streiten mögen. Aber mach dir keine Sorgen. Deine Mutter hat oft genug um dich geweint.«

»Weißt du das?«

»Die Familie ist in Nordwall. Sie haben einen Ge-dichtstein aufgestellt. Es wurde viel darum gestritten, aber Nordwall war nicht bereit, ihn wegzunehmen.«

»Was stand darauf?«

»Ich weiß es nicht. Ich bin nie dort gewesen. Aber es muß etwas Gutes gewesen sein, weil es die Dahmens so wütend gemacht hat.«

Scule begann fröhlich zu lachen, mit seinem Alt-männergackern, aber am Ende hustete er Blut.

»Ich werde nach Pelbarigan zurückkehren, Scule, und ich werde ihnen die Geschichte so erzählen, wie du sie mir erzählt hast. Ich verspreche es.«

»Nein. Die Dahmens werden dir genug Schwierigkeiten machen.«

»Trotzdem, wenn ich am Leben bleibe, tue ich es.«

»Aber geh zuerst zum leuchtenden Meer.«

»Zum leuchtenden Meer? Ich werde nach Westen gehen und versuchen, das leuchtende Meer zu erreichen. Jetzt mußt du dich ausruhen. Ich muß dein Fenster besser abdichten. Es ist kalt hier drin. Schau, es kommt noch Schnee herein.«

Stel arbeitete einen großen Teil der Nacht, sowohl am Fenster, das er schließlich mit Steinen aus dem Gefängnisraum verschloß, wie an dem Tier, das er zerlegte, und von dessen dunklem, schwerem Fleisch er Streifen über Scules Feuer trocknete. Gegen Morgen sah er wieder nach dem alten Mann, merkte aber, daß er diesmal nicht schlief. Er war tot.

Stel war auf einmal sehr müde. Er trug die Leiche in die kalte Vorratskammer, wickelte sie ein und ließ sie dort liegen, dann kehrte er zurück, kuschelte sich neben dem Feuer in seinen Schlafsack, legte den Pelz des Tieres über sich und schlief bis Mittag.

Es war kein Wetter, um unterwegs zu sein. Stel ließ sich Zeit, untersuchte Scules Haus und seinen Besitz, brachte den Alten hinunter in den Gefängnisraum und bestattete ihn unter einer Pyramide aus den Steinen, die er selbst so sorgfältig behauen hatte. Der Sturm hatte sich gelegt, aber es war bitter kalt. Stel wagte sich durch das Fenster hinaus. Es war ein Ge-nuß, frei zu sein. Er würde Holz suchen, das sich für Schneegleiter eignete, dann zurückkehren und sich in Scules Heim häuslich niederlassen, bis das Wetter umschlug. Wie anders war doch die Stille draußen im Vergleich zur Stille seines Gefängnisses. Sie tönte von Wind und Zweigen, von grausamer Kälte und der stummen Musik freier Luft und eisiger Berge. Scule, beschloß Stel, mußte ein wenig davon gespürt haben.

Bestimmt.