19
Eva ist nicht gestorben. Jedenfalls ist nicht alles weiß, als sie das nächste Mal aufwacht. Sie liegt noch immer in Tobias’ und ihrem Bett im Schlafzimmer, allerdings ist es draußen vor den Fenstern mittlerweile dunkel geworden. Ist inzwischen nur ein Tag vergangen? Oder mehrere?
Sie setzt sich mühsam auf, erst jetzt bemerkt sie das leise Murmeln im Raum. Tobias und sein Vater sind ebenfalls noch da, haben die zwei Korbsessel, die sonst in jeweils einer Ecke des Zimmers stehen, zusammengerückt, sitzen darin und unterhalten sich.
»Eva.« Tobias bemerkt als Erster, dass sie wach ist, steht auf, setzt sich zu ihr und nimmt ihre Hand. Warm fühlt sich das an, ganz warm. So wie auch in Eva alles ganz warm ist. Warm und weich, sie ist völlig entspannt, irgendwie wattig und ein bisschen müde vielleicht, aber gar nicht schlecht, wie sich das anfühlt. Ruhig. Egal. Gleichgültig und leicht. Sie ist ein leichtes Mädchen geworden. »Wie geht es dir?«, will ihr Mann wissen.
»Etwas müde«, erwidert Eva.
»Soll sie noch ein bisschen schlafen?« Tobias richtet diese Frage an seinen Vater. Der nickt.
»Ja«, sagt er, »sie braucht jetzt so viel Ruhe wie möglich. Du übrigens auch.«
»Ich schlafe hier bei ihr.« Sein Vater nickt, macht dann Anstalten, aufzustehen. »Wenn du mich brauchst, bin ich ja im Gästezimmer. Und ansonsten hoffe ich«, ein abschätzender Blick auf seine Schwiegertochter, »dass wir morgen in Ruhe mit ihr reden können.« Tobias sagt noch etwas, aber Eva kann nicht mehr verstehen, was es ist, schon gleitet sie wieder in den Schlaf, die Augen fallen ihr von ganz allein zu.
Tobias sitzt bereits wieder angezogen in einem der Korbsessel, als Eva das nächste Mal erwacht. Er trägt Poloshirt und Jeans, kein Büro-Outfit, wie sie registriert. Heute wohl keine Agentur, aber natürlich nicht, nicht nach dem, was geschehen ist, jetzt ist er hier an der häuslichen Front gefordert. Noch immer hat Eva dieses Wattegefühl, als läge ein Weichzeichner auf allem, auf ihr, auf Tobias, auf dem gesamten Zimmer, die Konturen sind nicht richtig scharf.
»Guten Morgen«, er beugt sich zu ihr und gibt ihr einen Kuss auf die Wange. »Hast du gut geschlafen?« Eva nickt. Sie glaubt, dass sie gut geschlafen hat, jedenfalls kann sie sich an nichts Gegenteiliges erinnern. »Hier, mein Schatz.« Er reicht ihr wieder eine der blauen Tabletten, die sie diesmal sofort nimmt. Warum auch nicht? Bisher ist sie ja offenbar nicht gestorben, und sie mag dieses Gefühl, als würde alles in ihrem Innern plötzlich abgefedert, als würde sie nichts mehr richtig treffen können. »Soll ich dir beim Anziehen helfen?«, will Tobias wissen und deutet auf einen leichten Hausanzug, den er schon am Fußende des Bettes bereitgelegt hat. Eva schüttelt den Kopf.
»Ich will gar nicht aufstehen«, sagt sie. Lieber wartet sie darauf, dass die nächste Pille wirkt und sie wieder einschläft, sehr angenehm, einfach diese Tablette schlucken und sonst nichts tun außer schlafen.
»Vielleicht nur ein kleines bisschen aus dem Bett, ein oder zwei Stunden?«, schlägt Tobias vor. »Wir könnten raus in den Garten gehen, das Wetter ist schön, und es ist richtig warm.« Sie willigt ein, auch hier wieder: Warum nicht? Ja, können sie doch machen, ist vielleicht gar keine schlechte Idee. Zehn Minuten später führt Tobias sie an einer Hand hinaus auf die Terrasse.
Schwiegervater Rolf sitzt am gedeckten Frühstückstisch, trinkt eine Tasse Kaffee. Und nicht nur er. Auch seine Frau ist da. Und Evas Eltern. Angeregt unterhält man sich miteinander, bis Eva und Tobias aus der Terrassentür treten. Sofort stellt Evas Mutter ihre Tasse ab, springt auf, kommt auf ihre Tochter zugelaufen, umarmt sie stürmisch.
»Liebling!«, ruft sie aus. »Wir haben uns ja solche Sorgen um dich gemacht!« Dann lässt sie ihre Tochter los, bedenkt sie mit einem angemessen sorgenvollen Blick. »Gott sei Dank waren Tobias und Rolf hier, um sich um dich zu kümmern!« Sie schiebt ihrer Tochter einen Stuhl hin, Eva nimmt Platz. Als alle sitzen, ergreift Schwiegervater Rolf das Wort.
»Eva«, beginnt er. »Ich weiß, im Moment muss das alles sehr verwirrend auf dich wirken, und ich kann mir vorstellen, dass du gerade nicht verstehst, was überhaupt los ist.« Alle Anwesenden nicken zustimmend, Eva bemüht sich, seine Worte durch den Wattebausch in ihrem Kopf hindurch zu verstehen. »Wir haben«, fährt er fort, unterbricht sich dann kurz, um sich zu räuspern, bevor er weiterspricht, »die Situation in den vergangenen Monaten wohl unterschätzt und die deutlichen Anzeichen übersehen. Umso unverzeihlicher, da ich Arzt bin und den Ernst der Lage nicht rechtzeitig erkannt habe.« Er legt die Stirn in Falten und rückt, ganz ernsthaft, seine Brille zurecht. »Wir sind der festen Überzeugung, dass du an einer schizophrenen Psychose erkrankt bist.«
»Schizophrene Psychose«, wiederholt Eva. Du Schizo, du Schizo, singt es durch ihren Kopf. Während ihrer Schulzeit ein beliebtes Schimpfwort auf dem Pausenhof, vor allem in den Ecken, in denen die Kids herumstanden, die heimlich rauchten. So wie Eva, lässig eine Kippe in der Hand, auf die anderen Schüler herabblickend. Ey, bist du schizo, oder was? Darüber muss sie lachen, ist sie jetzt schizo, oder was? Ihr Schwiegervater spricht weiter, aber Eva hört nicht mehr zu, ihre Gedanken kreisen immer noch um dieses Wort, schizo. Dann fällt ihr der Titel eines Buches ein: Ich habe dir nie einen Rosengarten versprochen. Als Teenager hat sie es mal gelesen, den Erfahrungsbericht eines schizophrenen Mädchens. Alle in ihrer Klasse lasen es, eine Art Kultbuch, kollektive Betroffenheitslektüre.
Eva erinnert sich an die Stelle, als die Hauptfigur der Geschichte sich mit den scharfen Kanten einer Blechdose die Arme aufschneidet. Nein, mit der hat sie nichts gemein, Eva hat sich noch nie die Haut aufgeschnitten. Tätowierungen sind etwas anderes. Der nächste Gedanke: Da gab es doch auch einmal dieses Lied! »I beg your pardon«, singt Eva leise, »I never promised you a rosegarden.« Ein Country-Song, glaubt sie, einfacher 4 /4-Takt, besonders geeignet für den Disco-Fox. Diesen Tanz hat sie immer gehasst, denn er stand für alles andere, was sie so hasste: Für Dorf-Scheunenfeste und Wolfgang-Petry-Imitatoren, Cola-Rum bis zum Abwinken, rausgewachsene Blondierungen und Dauerwellen, für Männer mit Schnurrbärten und in Hochwasserhosen, für …
»Sie hört dir nicht mehr zu.« Tobias. Sie betrachtet ihn. Er würde nie Hosen tragen, die zu kurz sind. Und er würde sie nie irgendwohin ausführen, wo Disco-Fox getanzt wird. Was will sie eigentlich mehr?
»Du hast noch nie Disco-Fox getanzt, oder?«, fragt sie ihn. Ihr Mann nimmt ihre Hand, drückt sie und lächelt.
»Nein, Schatz, das ist nichts für mich.« Dann wieder zum Vater: »Ich sage dir doch, sie ist mit ihren Gedanken ganz woanders.« Wieder an Eva gerichtet: »Hör uns bitte zu, es ist wichtig.« Ach so, wichtig ist es, dann will sie sich Mühe geben.
»Eva«, erklärt ihr Schwiegervater weiter, »die Geburt von Lukas hat bei dir eine postpartale Störung ausgelöst.«
»Postpartal?«, fragt sie. Aber dann der viel wichtigere Gedanke. »Geburt?« Das war keine Geburt, nein, das war es nicht. Es war eine Folter, das tote Kind zur Welt zu bringen, das war es.
»Da spielen viele Aspekte zusammen, die veränderten Hormone, Veranlagung, dann natürlich der Schock, dass du das Kind verloren hast.« Du, hallt es in ihren Ohren wider, du hast es verloren. Nicht ihr, nicht Tobias und du, du allein bist es gewesen, niemand sonst. Sie betrachtet das ernste Gesicht ihres Schwiegervaters, lässt ihren Blick dann zu Tobias, ihrer Mutter und ihrem Vater wandern, dann zur Schwiegermutter, alle blicken sie ähnlich ernst drein, der Familienrat hat sich versammelt, die Krisensitzung wurde einberufen. »Du musst dir keine Sorgen machen«, spricht Rolf weiter, als hätte sie, Eva, sich Sorgen gemacht, »denn so eine Erkrankung kann ich gut mit Medikamenten behandeln. Dafür musst du auch nicht ins Krankenhaus, du kannst dich hier zu Hause in Ruhe erholen, bis es dir wieder besser geht.«
Wieder besser geht. Sie fragt sich, ob »zu Hause« und das Versprechen einer Besserung sich nicht widersprechen. Aber auch dieser Gedanke verfliegt, kaum dass sie ihn gefasst hat, lässt sich nicht festhalten in ihrem Wattekopf. Tobias tätschelt ihre Hand, lächelt sie an. Fast kommt es ihr vor, als sei er froh darüber, dass sie krank ist, dass es endlich eine Diagnose gibt, das Kind einen Namen hat. Dass sie, Eva, eine Behandlung braucht, eine Behandlung, die vom Schwiegervater höchstselbst durchgeführt werden wird. Und dann ist irgendwann alles wieder so, wie es sein soll.