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Eva ist nicht gestorben. Jedenfalls ist nicht
alles weiß, als sie das nächste Mal aufwacht. Sie liegt noch immer
in Tobias’ und ihrem Bett im Schlafzimmer, allerdings ist es
draußen vor den Fenstern mittlerweile dunkel geworden. Ist
inzwischen nur ein Tag vergangen? Oder mehrere?
Sie setzt sich mühsam auf, erst jetzt bemerkt sie
das leise Murmeln im Raum. Tobias und sein Vater sind ebenfalls
noch da, haben die zwei Korbsessel, die sonst in jeweils einer Ecke
des Zimmers stehen, zusammengerückt, sitzen darin und unterhalten
sich.
»Eva.« Tobias bemerkt als Erster, dass sie wach
ist, steht auf, setzt sich zu ihr und nimmt ihre Hand. Warm fühlt
sich das an, ganz warm. So wie auch in Eva alles ganz warm ist.
Warm und weich, sie ist völlig entspannt, irgendwie wattig und ein
bisschen müde vielleicht, aber gar nicht schlecht, wie sich das
anfühlt. Ruhig. Egal. Gleichgültig und leicht. Sie ist ein leichtes
Mädchen geworden. »Wie geht es dir?«, will ihr Mann wissen.
»Etwas müde«, erwidert Eva.
»Soll sie noch ein bisschen schlafen?« Tobias
richtet diese Frage an seinen Vater. Der nickt.
»Ja«, sagt er, »sie braucht jetzt so viel Ruhe wie
möglich. Du übrigens auch.«
»Ich schlafe hier bei ihr.« Sein Vater nickt, macht
dann Anstalten, aufzustehen. »Wenn du mich brauchst, bin ich ja im
Gästezimmer. Und ansonsten hoffe ich«, ein abschätzender Blick auf
seine Schwiegertochter, »dass wir morgen in Ruhe mit ihr reden
können.« Tobias sagt noch etwas, aber Eva kann nicht mehr
verstehen, was es ist, schon gleitet sie wieder in den Schlaf, die
Augen fallen ihr von ganz allein zu.
Tobias sitzt bereits wieder angezogen in einem der
Korbsessel, als Eva das nächste Mal erwacht. Er trägt Poloshirt und
Jeans, kein Büro-Outfit, wie sie registriert. Heute wohl keine
Agentur, aber natürlich nicht, nicht nach dem, was geschehen ist,
jetzt ist er hier an der häuslichen Front gefordert. Noch immer hat
Eva dieses Wattegefühl, als läge ein Weichzeichner auf allem, auf
ihr, auf Tobias, auf dem gesamten Zimmer, die Konturen sind nicht
richtig scharf.
»Guten Morgen«, er beugt sich zu ihr und gibt ihr
einen Kuss auf die Wange. »Hast du gut geschlafen?« Eva nickt. Sie
glaubt, dass sie gut geschlafen hat, jedenfalls kann sie sich an
nichts Gegenteiliges erinnern. »Hier, mein Schatz.« Er reicht ihr
wieder eine der blauen Tabletten, die sie diesmal sofort nimmt.
Warum auch nicht? Bisher ist sie ja offenbar nicht gestorben, und
sie mag dieses Gefühl, als würde alles in ihrem Innern plötzlich
abgefedert, als würde sie nichts mehr
richtig treffen können. »Soll ich dir beim Anziehen helfen?«, will
Tobias wissen und deutet auf einen leichten Hausanzug, den er schon
am Fußende des Bettes bereitgelegt hat. Eva schüttelt den
Kopf.
»Ich will gar nicht aufstehen«, sagt sie. Lieber
wartet sie darauf, dass die nächste Pille wirkt und sie wieder
einschläft, sehr angenehm, einfach diese Tablette schlucken und
sonst nichts tun außer schlafen.
»Vielleicht nur ein kleines bisschen aus dem Bett,
ein oder zwei Stunden?«, schlägt Tobias vor. »Wir könnten raus in
den Garten gehen, das Wetter ist schön, und es ist richtig warm.«
Sie willigt ein, auch hier wieder: Warum nicht? Ja, können sie doch
machen, ist vielleicht gar keine schlechte Idee. Zehn Minuten
später führt Tobias sie an einer Hand hinaus auf die
Terrasse.
Schwiegervater Rolf sitzt am gedeckten
Frühstückstisch, trinkt eine Tasse Kaffee. Und nicht nur er. Auch
seine Frau ist da. Und Evas Eltern. Angeregt unterhält man sich
miteinander, bis Eva und Tobias aus der Terrassentür treten. Sofort
stellt Evas Mutter ihre Tasse ab, springt auf, kommt auf ihre
Tochter zugelaufen, umarmt sie stürmisch.
»Liebling!«, ruft sie aus. »Wir haben uns ja solche
Sorgen um dich gemacht!« Dann lässt sie ihre Tochter los, bedenkt
sie mit einem angemessen sorgenvollen Blick. »Gott sei Dank waren
Tobias und Rolf hier, um sich um dich zu kümmern!« Sie schiebt
ihrer Tochter einen Stuhl hin, Eva nimmt Platz. Als alle sitzen,
ergreift Schwiegervater Rolf das Wort.
»Eva«, beginnt er. »Ich weiß, im Moment muss das
alles sehr verwirrend auf dich wirken, und ich kann mir
vorstellen, dass du gerade nicht verstehst, was überhaupt los ist.«
Alle Anwesenden nicken zustimmend, Eva bemüht sich, seine Worte
durch den Wattebausch in ihrem Kopf hindurch zu verstehen. »Wir
haben«, fährt er fort, unterbricht sich dann kurz, um sich zu
räuspern, bevor er weiterspricht, »die Situation in den vergangenen
Monaten wohl unterschätzt und die deutlichen Anzeichen übersehen.
Umso unverzeihlicher, da ich Arzt bin und den Ernst der Lage nicht
rechtzeitig erkannt habe.« Er legt die Stirn in Falten und rückt,
ganz ernsthaft, seine Brille zurecht. »Wir sind der festen
Überzeugung, dass du an einer schizophrenen Psychose erkrankt
bist.«
»Schizophrene Psychose«, wiederholt Eva. Du Schizo,
du Schizo, singt es durch ihren Kopf. Während ihrer Schulzeit ein
beliebtes Schimpfwort auf dem Pausenhof, vor allem in den Ecken, in
denen die Kids herumstanden, die heimlich rauchten. So wie Eva,
lässig eine Kippe in der Hand, auf die anderen Schüler
herabblickend. Ey, bist du schizo, oder was? Darüber muss
sie lachen, ist sie jetzt schizo, oder was? Ihr Schwiegervater
spricht weiter, aber Eva hört nicht mehr zu, ihre Gedanken kreisen
immer noch um dieses Wort, schizo. Dann fällt ihr der Titel eines
Buches ein: Ich habe dir nie einen Rosengarten versprochen.
Als Teenager hat sie es mal gelesen, den Erfahrungsbericht eines
schizophrenen Mädchens. Alle in ihrer Klasse lasen es, eine Art
Kultbuch, kollektive Betroffenheitslektüre.
Eva erinnert sich an die Stelle, als die Hauptfigur
der
Geschichte sich mit den scharfen Kanten einer Blechdose die Arme
aufschneidet. Nein, mit der hat sie nichts gemein, Eva hat sich
noch nie die Haut aufgeschnitten. Tätowierungen sind etwas anderes.
Der nächste Gedanke: Da gab es doch auch einmal dieses Lied! »I beg
your pardon«, singt Eva leise, »I never promised you a rosegarden.«
Ein Country-Song, glaubt sie, einfacher 4 /4-Takt, besonders
geeignet für den Disco-Fox. Diesen Tanz hat sie immer gehasst, denn
er stand für alles andere, was sie so hasste: Für
Dorf-Scheunenfeste und Wolfgang-Petry-Imitatoren, Cola-Rum bis zum
Abwinken, rausgewachsene Blondierungen und Dauerwellen, für Männer
mit Schnurrbärten und in Hochwasserhosen, für …
»Sie hört dir nicht mehr zu.« Tobias. Sie
betrachtet ihn. Er würde nie Hosen tragen, die zu kurz sind. Und er
würde sie nie irgendwohin ausführen, wo Disco-Fox getanzt wird. Was
will sie eigentlich mehr?
»Du hast noch nie Disco-Fox getanzt, oder?«, fragt
sie ihn. Ihr Mann nimmt ihre Hand, drückt sie und lächelt.
»Nein, Schatz, das ist nichts für mich.« Dann
wieder zum Vater: »Ich sage dir doch, sie ist mit ihren Gedanken
ganz woanders.« Wieder an Eva gerichtet: »Hör uns bitte zu, es ist
wichtig.« Ach so, wichtig ist es, dann will sie sich Mühe
geben.
»Eva«, erklärt ihr Schwiegervater weiter, »die
Geburt von Lukas hat bei dir eine postpartale Störung
ausgelöst.«
»Postpartal?«, fragt sie. Aber dann der viel
wichtigere
Gedanke. »Geburt?« Das war keine Geburt, nein, das war es nicht.
Es war eine Folter, das tote Kind zur Welt zu bringen, das war
es.
»Da spielen viele Aspekte zusammen, die veränderten
Hormone, Veranlagung, dann natürlich der Schock, dass du das Kind
verloren hast.« Du, hallt es in ihren Ohren wider, du hast es
verloren. Nicht ihr, nicht Tobias und du, du allein bist es
gewesen, niemand sonst. Sie betrachtet das ernste Gesicht ihres
Schwiegervaters, lässt ihren Blick dann zu Tobias, ihrer Mutter und
ihrem Vater wandern, dann zur Schwiegermutter, alle blicken sie
ähnlich ernst drein, der Familienrat hat sich versammelt, die
Krisensitzung wurde einberufen. »Du musst dir keine Sorgen machen«,
spricht Rolf weiter, als hätte sie, Eva, sich Sorgen gemacht, »denn
so eine Erkrankung kann ich gut mit Medikamenten behandeln. Dafür
musst du auch nicht ins Krankenhaus, du kannst dich hier zu Hause
in Ruhe erholen, bis es dir wieder besser geht.«
Wieder besser geht. Sie fragt sich, ob »zu Hause«
und das Versprechen einer Besserung sich nicht widersprechen. Aber
auch dieser Gedanke verfliegt, kaum dass sie ihn gefasst hat, lässt
sich nicht festhalten in ihrem Wattekopf. Tobias tätschelt ihre
Hand, lächelt sie an. Fast kommt es ihr vor, als sei er froh
darüber, dass sie krank ist, dass es endlich eine Diagnose gibt,
das Kind einen Namen hat. Dass sie, Eva, eine Behandlung braucht,
eine Behandlung, die vom Schwiegervater höchstselbst durchgeführt
werden wird. Und dann ist irgendwann alles wieder so, wie es sein
soll.