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Die erste Zigarette nach über zwei Jahren schmeckt
seltsam heiß und bitter. Eva nimmt nur drei Züge, dann wirft sie
die Kippe in den Rinnstein. Jetzt noch einer von den Kaugummis, die
sie an einer Tankstelle zusammen mit den Zigaretten gekauft hat,
damit Tobias nichts merkt. Er raucht zwar selbst abends, hasst es
aber, wenn Eva es macht. »Ich muss das nicht tun«, sagt er immer.
»Aber du kennst ja nur ganz oder gar nicht.« Das stimmt. Und in den
vergangenen Jahren hat sie sich für gar nicht entschieden.
Wieder kommt sie am Falkenried-Spielplatz vorbei,
der nun einsam und verlassen da liegt. Funktionslos ohne Kinder,
erst morgen Vormittag wird er wieder etwas sein. Eigentlich müsste
Eva jetzt nur geradeaus weitergehen, über den Lehmweg runter zur
Isestraße, durch die Klosterallee und Innocentiastraße bis zur
Brahmsallee, in zehn Minuten wäre sie zu Hause. Aber sie biegt
rechts in den Eppendorfer Weg ein, folgt der Straße, die auf die
Hoheluftchaussee stößt.
Sie merkt gar nicht, wohin ihr Weg sie führt. Bis
sie schließlich oben auf dem Bahnsteig der Linie U3 an der
Hoheluftbrücke steht und hinunter auf die Gleise blickt. Es ist
lange her, dass sie sich an diesen Ort gewagt hat. Nur ein einziges
Mal noch nach Marlenes Tod suchte sie hier nach Spuren. Spuren, die
alles erklärt hätten. Aber da war nichts außer unerträglicher
Normalität. Dort, wo ihre Schwester gestorben war, ging alles
weiter, als wäre nichts geschehen.
Eva steht einfach nur da und wartet. Dann ein
Pfeifen, als würde ein plötzlicher Wind aufkommen. Die Bahn fährt
ein, Eva tritt automatisch ein paar Schritte zurück, wie sie es
schon immer getan hat. »Eine archaische Reaktion«, erinnert sie
sich an die Worte ihres Psychologielehrers in der zehnten Klasse.
»Das ist bei uns so programmiert: Wenn Gefahr droht, flüchten wir
entweder - oder wir stürzen uns auf den Angreifer.« Marlene
entschied sich fürs Draufstürzen. Ein unfairer Kampf, den sie nicht
gewinnen konnte.
Die Bahn spuckt Hunderte von Menschen aus, sie
hechten über die Plattform, eilen ihrem Feierabend entgegen. Nach
Hause zur Familie, zu Freunden, zum Liebsten. Eine Mutter - sie
wird in Evas Alter sein - steigt mit einem kleinen Jungen aus. Sie
beugt sich zu ihm hinunter, schließt den Reißverschluss seines
Anoraks, zieht ihm die Kapuze über den Kopf. Unwillig reißt er sie
sofort herunter. »Lass die bitte auf«, sagt seine Mutter und
schiebt sie wieder hoch. »Es ist kalt.« Dann nimmt sie das
quengelnde Kind bei der Hand und geht mit ihm zur Treppe, die nach
unten zum Ausgang führt.
Eva geht den Bahnsteig entlang und setzt sich auf
eine Bank. Ein piependes Warnsignal erklingt, die Türen schließen
sich, langsam fährt die Bahn los, stadtauswärts in Richtung
Barmbek. Eva bleibt sitzen und blickt hinunter auf die Gleise.
Leere Zigarettenschachteln und Plastikflaschen liegen verstreut,
Zeitungsfetzen, ein einzelner Handschuh. Sie weiß nicht, wie lange
sie schon auf die Schienen starrt.
»Hallo.« Eva blickt auf und sieht direkt in
Marlenes Gesicht, die plötzlich auf der Bank nur wenige Zentimeter
entfernt von ihr sitzt. Welch seltsamer Anblick, denkt Eva, als
hätte man einen großen Spiegel neben sie gestellt und als würde sie
sich nun mit ihrem Ebenbild unterhalten. Aber die Narbe über der
Augenbraue fehlt, und auch so weiß Eva, dass Marlene wirklich da
ist. Es überrascht sie nicht einmal, es ist, als hätten sie sich an
diesem Ort schon vor langer Zeit verabredet.
»Warum hast du es getan?«, fragt Eva. »Ich weiß es
nicht.« Marlene zuckt ratlos mit den Schultern.
»Aber du musst es wissen!«
»Vielleicht weiß ich es.« Marlene kickt einen
leeren Kaffeebecher, der zu ihren Füßen steht, hinunter auf die
Gleise. »Aber es ist doch auch egal.«
»Gar nicht egal!«, schreit Eva sie an und spürt,
wie sich die Wut in ihr explosionsartig entlädt. »Du hast mich
einfach allein gelassen!«
»Du bist überhaupt nicht allein.« Dann springt
Marlene auf, läuft auf den Rand des Bahnsteigs zu und balanciert
direkt auf der Kante.
»Lass das!«, ruft Eva. »Du machst mir Angst!«
»Seit wann bist du ängstlich?« Marlene dreht sich
überrascht zu ihr um. Dann verliert sie das Gleichgewicht, beginnt
mit den Armen zu rudern. In diesem Augenblick fährt die nächste
U-Bahn ein, und Marlene kippt nach hinten über.
»Marlene!«, brüllt Eva und springt ebenfalls auf.
Aber Marlene ist weg. Sie sieht nur wieder einen Zug, aus dem
gesichtslose Menschen steigen und an ihr vorübereilen.
»Geht es Ihnen nicht gut?« Eine ältere Dame bleibt
stehen und mustert Eva besorgt. Sie antwortet nicht, schüttelt nur
stumm den Kopf, geht zur Treppe und verlässt den Bahnsteig.
Als Eva weiter über die Hoheluftchaussee
schlendert, klingelt ihr Handy. Tobias. Vor einer halben Stunde
hätte sie normalerweise schon zu Hause sein müssen, wenn sie den
direkten Weg genommen hätte. Er wird fragen wollen, wo sie nur
bleibt. Sie geht nicht ran. Lieber raucht sie noch eine Zigarette.
Die zweite schmeckt schon sehr viel besser, tief inhaliert sie den
Rauch, stellt sich vor, wie sich schwarzer Teer in ihre
Lungenbläschen frisst. In der Schule haben sie mal ein Bild von
einer Raucherlunge gesehen. Rabenschwarz. So schwarz will sie
innerlich auch sein, verklebt und geteert, ein verschlossenes
Gefäß. Nichts geht mehr rein, nichts kommt mehr raus.
Diesmal verzichtet sie auf den Kaugummi.
Stattdessen steckt sie sich mit der fast heruntergebrannten Kippe
gleich die nächste an und schnippt den noch qualmenden
Stummel in hohem Bogen fort. Menschen kommen ihr entgegen, sie
erinnert sich an das, was ihre Mutter früher immer gesagt hat: »Nur
leichte Mädchen rauchen auf der Straße.« Eva will leicht sein. Ganz
leicht, wegschweben, bis sie alles von oben sieht.
Sie kommt an einem Tattoo-Studio vorbei und bleibt
stehen. Im Schaufenster Fotos von Armen, Beinen, Gesichtern,
Oberkörpern, über und über mit bunten Bildern geschmückt. »We’re
open«, steht auf dem Schild, das in der Tür hängt. Eva drückt die
Klinke herunter und betritt den Laden. Einen Moment steht sie
unschlüssig vor dem leeren Tresen, auf dem eine dicke Mappe mit
noch mehr Fotos von noch mehr tätowierten Körpern liegt. Schon oft
ist sie an dem Geschäft vorbeigelaufen, aber noch nie ist sie
hineingegangen. Jetzt auch nicht. Es hat sie hineingezogen.
»Hallo?« Ein junger Mann kommt durch den Vorhang,
der ein Zimmer vom Vorraum abtrennt. Muskulöse Arme blitzen aus
einem engen T-Shirt hervor, auch diese sind voller Bilder und
Zeichen.
»Ich möchte mich tätowieren lassen«, sagt Eva, ohne
den Gedanken bewusst formuliert zu haben. Der Mann mustert sie
argwöhnisch, lässt seinen Blick über sie gleiten. Sie: in
Palazzohose mit Nadelstreifen, schwarzen Pumps, weißer Bluse,
darüber ein beigefarbener Mantel aus Kaschmir.
»Da musst du dir einen Termin geben lassen«,
erklärt er schroff.
»Das geht nicht.« Sie versucht, so entschlossen wie
möglich zu klingen. »Es muss sofort sein, ich kann das
nicht aufschieben.« Ihr energisches Auftreten scheint ihn zu
überraschen, denn für einen Moment sieht er sie sprachlos an. Dann
schlägt er ein Buch auf, das neben der Mappe mit den Bildern
liegt.
»In Ordnung«, sagt er. »Eine halbe Stunde hätte ich
noch. Reicht aber nur für was Kleines. Was soll’s denn sein?«
»Zwei Kreuze«, sagt Eva. »Hier eins«, sie zeigt auf
die linke Seite ihres Halses. »Und noch eins, hier.« Jetzt hält sie
die Hand an die rechte Seite.
»Das mache ich nicht.« Er verschränkt seine bunt
verzierten Arme vor der Brust.
»Wieso nicht?«
»Du hast doch einen an der Klatsche!«
»Ich bezahle das auch.«
»Mir egal.«
»Ich bin nicht verrückt«, versucht sie es nun mit
einem versöhnlicheren Tonfall. »Aber ich muss ein Zeichen
setzen.«
»Dann lass dir das woanders machen. Ich tätowiere
dir nicht den Hals.« Er sieht sie noch einmal auf diese bestimmte
Art und Weise an, die ihr verrät, was er gerade denkt: Was will
die hier?
»Gut«, lenkt sie ein, streift die Ärmel ihres
Mantels hoch und wendet ihm ihre nackten Handgelenke zu. »Dann
hier.«
Er zögert einen Moment, scheint zu überlegen. »Das
wird wehtun.«
»Ich weiß.«
Wieder ein kurzes Zögern von ihm. Dann zuckt er
mit den Schultern, zieht den Vorhang hinter sich beiseite und
deutet auf eine Art Zahnarztstuhl, der dort steht. »Setz dich da
hin.«
Eine halbe Stunde später verlässt sie das
Geschäft. Um die Handgelenke hat sie Frischhaltefolie gewickelt,
darunter hat der Tätowierer die Haut mit Vaseline eingerieben und
ihr eingeschärft, wie sie die Stellen in den nächsten Tagen pflegen
soll. Es blutet ein bisschen. Aber das Tätowieren selbst war gar
nicht so schmerzhaft, im Gegenteil, fast angenehm war das Gefühl,
als er die Farbe mit feinen Nadeln in ihre Haut stach. Da hat sie
schon andere Schmerzen erlebt. Eva reibt über die Folie und stellt
sich die Embleme darunter vor. Ein Kreuz links, ein blaues. Und ein
schwarzes auf der rechten Seite.
Ihr Handy klingelt zum ungefähr zehnten Mal,
diesmal ist es die Mailbox, auf der Tobias vermutlich schon mehrere
Nachrichten hinterlassen hat. Sie zündet sich noch eine Zigarette
an, dann spaziert sie die Hoheluftchaussee heimwärts zurück zur
Isestraße, geht unter der Brücke der U-Bahn hindurch und erzittert
jedes Mal, wenn einer der Züge über sie hinwegdonnert. Erst nach
ein paar Minuten fällt ihr auf, dass Marlene wieder da ist und sie
begleitet.
»Zeig mal«, bittet ihre Schwester.
Sie zieht die Folie ein Stück zur Seite und lässt
Marlene einen Blick auf die Kreuze werfen. »Gefällt es dir?«
Marlene nickt. »Ja, hübsch.« Sie streicht erst über
das farbige Kreuz, dann über das schwarze, das für sie
selbst steht. »Viel besser als mein Grabstein. Der steht so allein
auf dem Friedhof herum, lieber bin ich bei dir.«
»Bleibst du denn hier?«, fragt Eva.
Marlene lächelt. »Natürlich. Deswegen bin ich
gekommen, gerade jetzt muss ich doch da sein.«
»Ja«, sagt Eva. »Es ist gut, dass du da bist.«
Marlene nickt. Und dann verschwindet sie wieder.
»Um Himmels willen! Wo warst du? Warum gehst du
nicht an dein Handy?« Tobias stürzt ihr schon entgegen, als sie
noch ein paar Meter von ihrem weißen Stadthaus in der Brahmsallee
entfernt ist. »Ich wollte gerade die Polizei rufen!«
»Spazieren«, erwidert Eva. »Ich wollte einfach ein
bisschen frische Luft schnappen.« Tobias nimmt sie in die Arme,
drückt sie fest an sich, verbirgt sein Gesicht in ihrem Haar, das
sich mittlerweile aus der Spange gelöst hat.
»Ich dachte, dir wäre sonstwas passiert!«
»Was soll mir denn schon passiert sein?«, erwidert
sie. Ihr Tonfall: amüsiert. Schließlich hat sie fast alles hinter
sich, was passieren kann.
»Du weißt doch, dass ich mir Sorgen mache, seit …«
Er unterbricht sich, schiebt sie ein Stückchen von sich weg und
betrachtet sie misstrauisch. »Hast du etwa geraucht?« Sie antwortet
nicht. Er zieht ihre Hände zu seiner Nase, schnuppert daran. Aber
bevor er etwas zu dieser unglaublichen Freveltat des heimlichen
Rauchens sagen kann, fällt sein Blick auf ihre Handgelenke.
Ein Stück der Frischhaltefolie blitzt unter den Ärmeln ihres
Mantels hervor: »Was ist das?«
»Das ist für mich«, sagt Eva, geht an ihm vorbei
durch die offene Tür ins Haus. Er eilt ihr hinterher, greift nach
ihrer Schulter, zerrt sie im Flur zu sich herum.
»Was das ist, will ich wissen!« Mit einem Ruck
versucht er ihr den Mantel von den Schultern zu ziehen, die
obersten zwei Knöpfe springen ab.
»Lass mich!« Sie schubst ihn zurück, läuft so
schnell sie kann, die Treppe hoch, stürzt ins Schlafzimmer, wirft
die Tür hinter sich zu und schließt ab. Eine Sekunde später hämmert
Tobias gegen das Holz, so fest, dass sie denkt, es wird
splittern.
»Was soll denn das? Mach sofort auf!« Sie geht zum
Bett, lässt sich darauffallen und schließt die Augen. Mit einer
Hand tastet sie nach der Folie an ihrem Handgelenk, erst am
rechten, dann am linken. Sie lächelt. Hübsch, hat Marlene gesagt.
Ja, Eva findet auch, dass sie hübsch sind. Dann schläft sie
innerhalb weniger Minuten ein.
Mitten in der Nacht erwacht sie, hört ein leises
Klicken. Sie horcht, das Geräusch kommt vom Flur her. Sie steht
auf, zieht den Mantel aus, legt ihn aufs Bett, öffnet die
Schlafzimmertür. Tobias kauert auf dem Boden, den Rücken gegen die
Wand gelehnt. In der einen Hand eine Zigarette, mit der anderen
klappt er den Deckel des silbernen Aschenbechers neben sich immer
wieder auf und zu.
Er sieht auf, als sie vor ihm steht. Sie erinnert
sich an
diesen Blick. So sah er aus, als er an Marlenes Grab stand, das
hat sie nicht vergessen. Sie kniet sich zu ihm hinunter, setzt sich
neben ihn.
»Es tut mir leid«, flüstert er, »dass ich vorhin so
ausgeflippt bin. Das wollte ich wirklich nicht, aber ich habe mir
einfach so große Sorgen gemacht.«
»Ist schon gut.«
Er nimmt einen Zug von seiner Zigarette, drückt sie
im Aschenbecher aus. Dann ergreift er Evas Hände, schiebt die Folie
ein Stück an ihren Armen hoch, sieht, was sich darunter
verbirgt.
»Was ist denn das? Warum hast du das
gemacht?«
»Ich weiß nicht.« Marlenes Worte vom
Bahnsteig.
»Aber du musst es doch wissen! Man lässt sich nicht
einfach so ein paar Kreuze tätowieren!«
»Vielleicht weiß ich es.« Wieder Marlene. »Aber du
würdest es nicht verstehen.«
»Warum erklärst du es mir dann nicht einfach?« Er
klingt wie ein verstörter Junge. »Ich bin doch dein Mann, warum
sprichst du nicht mehr mit mir?«
»Nicht mehr?«, will sie fragen. Aber stattdessen
schweigt sie.
»Ich will dich nicht auch noch verlieren.« Jetzt
vernimmt sie Trotz in Tobias’ Stimme. »Wir müssen doch
zusammenhalten. Du musst bei mir bleiben. Du musst!«
»Das werde ich«, beruhigt sie ihn und streicht ihm
mit einer Hand über die Wange. »Ich gehe nicht weg.«