3
Die erste Zigarette nach über zwei Jahren schmeckt seltsam heiß und bitter. Eva nimmt nur drei Züge, dann wirft sie die Kippe in den Rinnstein. Jetzt noch einer von den Kaugummis, die sie an einer Tankstelle zusammen mit den Zigaretten gekauft hat, damit Tobias nichts merkt. Er raucht zwar selbst abends, hasst es aber, wenn Eva es macht. »Ich muss das nicht tun«, sagt er immer. »Aber du kennst ja nur ganz oder gar nicht.« Das stimmt. Und in den vergangenen Jahren hat sie sich für gar nicht entschieden.
Wieder kommt sie am Falkenried-Spielplatz vorbei, der nun einsam und verlassen da liegt. Funktionslos ohne Kinder, erst morgen Vormittag wird er wieder etwas sein. Eigentlich müsste Eva jetzt nur geradeaus weitergehen, über den Lehmweg runter zur Isestraße, durch die Klosterallee und Innocentiastraße bis zur Brahmsallee, in zehn Minuten wäre sie zu Hause. Aber sie biegt rechts in den Eppendorfer Weg ein, folgt der Straße, die auf die Hoheluftchaussee stößt.
Sie merkt gar nicht, wohin ihr Weg sie führt. Bis sie schließlich oben auf dem Bahnsteig der Linie U3 an der Hoheluftbrücke steht und hinunter auf die Gleise blickt. Es ist lange her, dass sie sich an diesen Ort gewagt hat. Nur ein einziges Mal noch nach Marlenes Tod suchte sie hier nach Spuren. Spuren, die alles erklärt hätten. Aber da war nichts außer unerträglicher Normalität. Dort, wo ihre Schwester gestorben war, ging alles weiter, als wäre nichts geschehen.
Eva steht einfach nur da und wartet. Dann ein Pfeifen, als würde ein plötzlicher Wind aufkommen. Die Bahn fährt ein, Eva tritt automatisch ein paar Schritte zurück, wie sie es schon immer getan hat. »Eine archaische Reaktion«, erinnert sie sich an die Worte ihres Psychologielehrers in der zehnten Klasse. »Das ist bei uns so programmiert: Wenn Gefahr droht, flüchten wir entweder - oder wir stürzen uns auf den Angreifer.« Marlene entschied sich fürs Draufstürzen. Ein unfairer Kampf, den sie nicht gewinnen konnte.
Die Bahn spuckt Hunderte von Menschen aus, sie hechten über die Plattform, eilen ihrem Feierabend entgegen. Nach Hause zur Familie, zu Freunden, zum Liebsten. Eine Mutter - sie wird in Evas Alter sein - steigt mit einem kleinen Jungen aus. Sie beugt sich zu ihm hinunter, schließt den Reißverschluss seines Anoraks, zieht ihm die Kapuze über den Kopf. Unwillig reißt er sie sofort herunter. »Lass die bitte auf«, sagt seine Mutter und schiebt sie wieder hoch. »Es ist kalt.« Dann nimmt sie das quengelnde Kind bei der Hand und geht mit ihm zur Treppe, die nach unten zum Ausgang führt.
Eva geht den Bahnsteig entlang und setzt sich auf eine Bank. Ein piependes Warnsignal erklingt, die Türen schließen sich, langsam fährt die Bahn los, stadtauswärts in Richtung Barmbek. Eva bleibt sitzen und blickt hinunter auf die Gleise. Leere Zigarettenschachteln und Plastikflaschen liegen verstreut, Zeitungsfetzen, ein einzelner Handschuh. Sie weiß nicht, wie lange sie schon auf die Schienen starrt.
»Hallo.« Eva blickt auf und sieht direkt in Marlenes Gesicht, die plötzlich auf der Bank nur wenige Zentimeter entfernt von ihr sitzt. Welch seltsamer Anblick, denkt Eva, als hätte man einen großen Spiegel neben sie gestellt und als würde sie sich nun mit ihrem Ebenbild unterhalten. Aber die Narbe über der Augenbraue fehlt, und auch so weiß Eva, dass Marlene wirklich da ist. Es überrascht sie nicht einmal, es ist, als hätten sie sich an diesem Ort schon vor langer Zeit verabredet.
»Warum hast du es getan?«, fragt Eva. »Ich weiß es nicht.« Marlene zuckt ratlos mit den Schultern.
»Aber du musst es wissen!«
»Vielleicht weiß ich es.« Marlene kickt einen leeren Kaffeebecher, der zu ihren Füßen steht, hinunter auf die Gleise. »Aber es ist doch auch egal.«
»Gar nicht egal!«, schreit Eva sie an und spürt, wie sich die Wut in ihr explosionsartig entlädt. »Du hast mich einfach allein gelassen!«
»Du bist überhaupt nicht allein.« Dann springt Marlene auf, läuft auf den Rand des Bahnsteigs zu und balanciert direkt auf der Kante.
»Lass das!«, ruft Eva. »Du machst mir Angst!«
»Seit wann bist du ängstlich?« Marlene dreht sich überrascht zu ihr um. Dann verliert sie das Gleichgewicht, beginnt mit den Armen zu rudern. In diesem Augenblick fährt die nächste U-Bahn ein, und Marlene kippt nach hinten über.
»Marlene!«, brüllt Eva und springt ebenfalls auf. Aber Marlene ist weg. Sie sieht nur wieder einen Zug, aus dem gesichtslose Menschen steigen und an ihr vorübereilen.
»Geht es Ihnen nicht gut?« Eine ältere Dame bleibt stehen und mustert Eva besorgt. Sie antwortet nicht, schüttelt nur stumm den Kopf, geht zur Treppe und verlässt den Bahnsteig.
 
Als Eva weiter über die Hoheluftchaussee schlendert, klingelt ihr Handy. Tobias. Vor einer halben Stunde hätte sie normalerweise schon zu Hause sein müssen, wenn sie den direkten Weg genommen hätte. Er wird fragen wollen, wo sie nur bleibt. Sie geht nicht ran. Lieber raucht sie noch eine Zigarette. Die zweite schmeckt schon sehr viel besser, tief inhaliert sie den Rauch, stellt sich vor, wie sich schwarzer Teer in ihre Lungenbläschen frisst. In der Schule haben sie mal ein Bild von einer Raucherlunge gesehen. Rabenschwarz. So schwarz will sie innerlich auch sein, verklebt und geteert, ein verschlossenes Gefäß. Nichts geht mehr rein, nichts kommt mehr raus.
Diesmal verzichtet sie auf den Kaugummi. Stattdessen steckt sie sich mit der fast heruntergebrannten Kippe gleich die nächste an und schnippt den noch qualmenden Stummel in hohem Bogen fort. Menschen kommen ihr entgegen, sie erinnert sich an das, was ihre Mutter früher immer gesagt hat: »Nur leichte Mädchen rauchen auf der Straße.« Eva will leicht sein. Ganz leicht, wegschweben, bis sie alles von oben sieht.
Sie kommt an einem Tattoo-Studio vorbei und bleibt stehen. Im Schaufenster Fotos von Armen, Beinen, Gesichtern, Oberkörpern, über und über mit bunten Bildern geschmückt. »We’re open«, steht auf dem Schild, das in der Tür hängt. Eva drückt die Klinke herunter und betritt den Laden. Einen Moment steht sie unschlüssig vor dem leeren Tresen, auf dem eine dicke Mappe mit noch mehr Fotos von noch mehr tätowierten Körpern liegt. Schon oft ist sie an dem Geschäft vorbeigelaufen, aber noch nie ist sie hineingegangen. Jetzt auch nicht. Es hat sie hineingezogen.
»Hallo?« Ein junger Mann kommt durch den Vorhang, der ein Zimmer vom Vorraum abtrennt. Muskulöse Arme blitzen aus einem engen T-Shirt hervor, auch diese sind voller Bilder und Zeichen.
»Ich möchte mich tätowieren lassen«, sagt Eva, ohne den Gedanken bewusst formuliert zu haben. Der Mann mustert sie argwöhnisch, lässt seinen Blick über sie gleiten. Sie: in Palazzohose mit Nadelstreifen, schwarzen Pumps, weißer Bluse, darüber ein beigefarbener Mantel aus Kaschmir.
»Da musst du dir einen Termin geben lassen«, erklärt er schroff.
»Das geht nicht.« Sie versucht, so entschlossen wie möglich zu klingen. »Es muss sofort sein, ich kann das nicht aufschieben.« Ihr energisches Auftreten scheint ihn zu überraschen, denn für einen Moment sieht er sie sprachlos an. Dann schlägt er ein Buch auf, das neben der Mappe mit den Bildern liegt.
»In Ordnung«, sagt er. »Eine halbe Stunde hätte ich noch. Reicht aber nur für was Kleines. Was soll’s denn sein?«
»Zwei Kreuze«, sagt Eva. »Hier eins«, sie zeigt auf die linke Seite ihres Halses. »Und noch eins, hier.« Jetzt hält sie die Hand an die rechte Seite.
»Das mache ich nicht.« Er verschränkt seine bunt verzierten Arme vor der Brust.
»Wieso nicht?«
»Du hast doch einen an der Klatsche!«
»Ich bezahle das auch.«
»Mir egal.«
»Ich bin nicht verrückt«, versucht sie es nun mit einem versöhnlicheren Tonfall. »Aber ich muss ein Zeichen setzen.«
»Dann lass dir das woanders machen. Ich tätowiere dir nicht den Hals.« Er sieht sie noch einmal auf diese bestimmte Art und Weise an, die ihr verrät, was er gerade denkt: Was will die hier?
»Gut«, lenkt sie ein, streift die Ärmel ihres Mantels hoch und wendet ihm ihre nackten Handgelenke zu. »Dann hier.«
Er zögert einen Moment, scheint zu überlegen. »Das wird wehtun.«
»Ich weiß.«
Wieder ein kurzes Zögern von ihm. Dann zuckt er mit den Schultern, zieht den Vorhang hinter sich beiseite und deutet auf eine Art Zahnarztstuhl, der dort steht. »Setz dich da hin.«
 
Eine halbe Stunde später verlässt sie das Geschäft. Um die Handgelenke hat sie Frischhaltefolie gewickelt, darunter hat der Tätowierer die Haut mit Vaseline eingerieben und ihr eingeschärft, wie sie die Stellen in den nächsten Tagen pflegen soll. Es blutet ein bisschen. Aber das Tätowieren selbst war gar nicht so schmerzhaft, im Gegenteil, fast angenehm war das Gefühl, als er die Farbe mit feinen Nadeln in ihre Haut stach. Da hat sie schon andere Schmerzen erlebt. Eva reibt über die Folie und stellt sich die Embleme darunter vor. Ein Kreuz links, ein blaues. Und ein schwarzes auf der rechten Seite.
Ihr Handy klingelt zum ungefähr zehnten Mal, diesmal ist es die Mailbox, auf der Tobias vermutlich schon mehrere Nachrichten hinterlassen hat. Sie zündet sich noch eine Zigarette an, dann spaziert sie die Hoheluftchaussee heimwärts zurück zur Isestraße, geht unter der Brücke der U-Bahn hindurch und erzittert jedes Mal, wenn einer der Züge über sie hinwegdonnert. Erst nach ein paar Minuten fällt ihr auf, dass Marlene wieder da ist und sie begleitet.
»Zeig mal«, bittet ihre Schwester.
Sie zieht die Folie ein Stück zur Seite und lässt Marlene einen Blick auf die Kreuze werfen. »Gefällt es dir?«
Marlene nickt. »Ja, hübsch.« Sie streicht erst über das farbige Kreuz, dann über das schwarze, das für sie selbst steht. »Viel besser als mein Grabstein. Der steht so allein auf dem Friedhof herum, lieber bin ich bei dir.«
»Bleibst du denn hier?«, fragt Eva.
Marlene lächelt. »Natürlich. Deswegen bin ich gekommen, gerade jetzt muss ich doch da sein.«
»Ja«, sagt Eva. »Es ist gut, dass du da bist.« Marlene nickt. Und dann verschwindet sie wieder.
 
»Um Himmels willen! Wo warst du? Warum gehst du nicht an dein Handy?« Tobias stürzt ihr schon entgegen, als sie noch ein paar Meter von ihrem weißen Stadthaus in der Brahmsallee entfernt ist. »Ich wollte gerade die Polizei rufen!«
»Spazieren«, erwidert Eva. »Ich wollte einfach ein bisschen frische Luft schnappen.« Tobias nimmt sie in die Arme, drückt sie fest an sich, verbirgt sein Gesicht in ihrem Haar, das sich mittlerweile aus der Spange gelöst hat.
»Ich dachte, dir wäre sonstwas passiert!«
»Was soll mir denn schon passiert sein?«, erwidert sie. Ihr Tonfall: amüsiert. Schließlich hat sie fast alles hinter sich, was passieren kann.
»Du weißt doch, dass ich mir Sorgen mache, seit …« Er unterbricht sich, schiebt sie ein Stückchen von sich weg und betrachtet sie misstrauisch. »Hast du etwa geraucht?« Sie antwortet nicht. Er zieht ihre Hände zu seiner Nase, schnuppert daran. Aber bevor er etwas zu dieser unglaublichen Freveltat des heimlichen Rauchens sagen kann, fällt sein Blick auf ihre Handgelenke. Ein Stück der Frischhaltefolie blitzt unter den Ärmeln ihres Mantels hervor: »Was ist das?«
»Das ist für mich«, sagt Eva, geht an ihm vorbei durch die offene Tür ins Haus. Er eilt ihr hinterher, greift nach ihrer Schulter, zerrt sie im Flur zu sich herum.
»Was das ist, will ich wissen!« Mit einem Ruck versucht er ihr den Mantel von den Schultern zu ziehen, die obersten zwei Knöpfe springen ab.
»Lass mich!« Sie schubst ihn zurück, läuft so schnell sie kann, die Treppe hoch, stürzt ins Schlafzimmer, wirft die Tür hinter sich zu und schließt ab. Eine Sekunde später hämmert Tobias gegen das Holz, so fest, dass sie denkt, es wird splittern.
»Was soll denn das? Mach sofort auf!« Sie geht zum Bett, lässt sich darauffallen und schließt die Augen. Mit einer Hand tastet sie nach der Folie an ihrem Handgelenk, erst am rechten, dann am linken. Sie lächelt. Hübsch, hat Marlene gesagt. Ja, Eva findet auch, dass sie hübsch sind. Dann schläft sie innerhalb weniger Minuten ein.
Mitten in der Nacht erwacht sie, hört ein leises Klicken. Sie horcht, das Geräusch kommt vom Flur her. Sie steht auf, zieht den Mantel aus, legt ihn aufs Bett, öffnet die Schlafzimmertür. Tobias kauert auf dem Boden, den Rücken gegen die Wand gelehnt. In der einen Hand eine Zigarette, mit der anderen klappt er den Deckel des silbernen Aschenbechers neben sich immer wieder auf und zu.
Er sieht auf, als sie vor ihm steht. Sie erinnert sich an diesen Blick. So sah er aus, als er an Marlenes Grab stand, das hat sie nicht vergessen. Sie kniet sich zu ihm hinunter, setzt sich neben ihn.
»Es tut mir leid«, flüstert er, »dass ich vorhin so ausgeflippt bin. Das wollte ich wirklich nicht, aber ich habe mir einfach so große Sorgen gemacht.«
»Ist schon gut.«
Er nimmt einen Zug von seiner Zigarette, drückt sie im Aschenbecher aus. Dann ergreift er Evas Hände, schiebt die Folie ein Stück an ihren Armen hoch, sieht, was sich darunter verbirgt.
»Was ist denn das? Warum hast du das gemacht?«
»Ich weiß nicht.« Marlenes Worte vom Bahnsteig.
»Aber du musst es doch wissen! Man lässt sich nicht einfach so ein paar Kreuze tätowieren!«
»Vielleicht weiß ich es.« Wieder Marlene. »Aber du würdest es nicht verstehen.«
»Warum erklärst du es mir dann nicht einfach?« Er klingt wie ein verstörter Junge. »Ich bin doch dein Mann, warum sprichst du nicht mehr mit mir?«
»Nicht mehr?«, will sie fragen. Aber stattdessen schweigt sie.
»Ich will dich nicht auch noch verlieren.« Jetzt vernimmt sie Trotz in Tobias’ Stimme. »Wir müssen doch zusammenhalten. Du musst bei mir bleiben. Du musst!«
»Das werde ich«, beruhigt sie ihn und streicht ihm mit einer Hand über die Wange. »Ich gehe nicht weg.«