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Zwei Wochen lang hat Marlene sich nicht mehr
gezeigt. Seit Eva sie in der Isestraße gesehen hat. Das Leben ist
weitergegangen wie immer: Tobias fährt morgens um neun in seine
Agentur, auf dem Weg setzt er Eva in der Bücherstube ab. Abends
wartet er Punkt sechs im BMW mit laufendem Motor vor der
Buchhandlung. So zeitig dürfte er eigentlich gar nicht Feierabend
machen, früher blieb er oft bis spät in die Nacht oder sogar bis
zum nächsten Morgen in seiner Werbeagentur, ein paar wenige Stunden
Schlaf nur, dann musste er wieder los. »Ist die Katze aus dem Haus,
tanzen die Mäuse auf den Tischen«, hat er seine langen
Arbeitszeiten immer gerechtfertigt, obwohl Eva nie danach gefragt
hat. Jetzt scheint er zu befürchten, dass woanders auf den Tischen
getanzt wird. Dass Eva wieder mit einer Tätowierung nach Hause
kommt, wenn sie außerhalb seiner Kontrolle ist. Oder mit einem kahl
rasierten Schädel. Oder mit irgendetwas anderem, das sie sich hat
einfallen lassen.
Eva findet sein Verhalten übertrieben und
lächerlich. Und sinnlos noch dazu. Es wäre für sie ein Leichtes, in
der Mittagspause aus dem Laden zu spazieren und alles Mögliche
anzustellen. Sie ist ja kein Kind mehr, sondern immerhin
einunddreißig Jahre alt. Sie könnte sich einfach ein Taxi nehmen,
in die Innenstadt fahren und mit Tobias’ American Express -
natürlich Platinum! -, von der sie eine Partnerkarte hat, bei Gucci
einkaufen. Oder bei Prada und Bulgari. Das würde Tobias
wahrscheinlich nicht einmal schlimm finden. Frauen wie sie dürfen
in Designerläden einkaufen. Das ist besser, als wenn sie sich eine
Tätowierung verpassen lassen.
Über die Kreuze an den Handgelenken hat Eva sich
zwei Pulswärmer gezogen. Tobias hat sie gekauft und sie darum
gebeten. Im Sommer müssten sie sich etwas anderes überlegen,
momentan würde es auch so gehen, und er wäre ihr dankbar, wenn sie
das Ergebnis ihres »seltsamen Einfalls« nicht überall
herumzeigt.
Diesen Wunsch kann Eva ihm erfüllen. Es reicht ihr,
zu wissen, dass sie da sind. Das Wesentliche ist für die Augen
unsichtbar. Gerade hat sie die französische Originalausgabe des
Kleinen Prinzen an ein Mädchen verkauft, für den
Schulunterricht. L’essentiel est invisible pour les yeux.
Eva könnte einen Sprachkurs belegen und Französisch lernen. Marlene
sprach es fließend. Genau wie Englisch und Spanisch. Aber sie war
ja auch immer eine Musterschülerin, der alles zuflog.
Vielleicht wäre es Eva auch zugeflogen. Nur
interessierte sie sich viel zu sehr für andere Dinge. Neben ihrem
holperigen Schulenglisch ist Italienisch die einzige Sprache, die
sie bruchstückhaft versteht, und da auch
nur die Texte der Arien, die sie früher so gern gesungen hat.
»Sprache des Herzens«, hatte ihr Gesangslehrer es einmal genannt.
Später allerdings zeigte er Eva, so wie die meisten Männer, die vor
Tobias in ihrem Leben waren, dass er in erster Linie an der Sprache
des Körpers interessiert war.
»Du bist ja so in Gedanken«, sagt Gabriele und
bringt Evas Gedanken damit zu einem Ende.
»Ich habe gerade überlegt, ob ich vielleicht
Französisch lernen sollte. Bei einem Abendkurs an der
Volkshochschule oder so«, erwidert Eva.
»Das ist eine gute Idee. Da könnte ich doch sogar
mitmachen, was meinst du?«
»Willst du mich kontrollieren?«
»Nein, wie kommst du denn darauf?« Gabriele sieht
sie an und schüttelt den Kopf.
»Nur so. Aber nein, natürlich nicht.« Eva geht zur
Kasse hinüber, um eine neue Rolle Geschenkpapier aus dem Regal
unterm Tresen zu nehmen und sie auf die dafür vorgesehene Halterung
zu schieben.
»Ich hole mir eben ein Brötchen vom Bäcker«, sagt
Gabriele. »Möchtest du auch was?«
»Nein, danke.« Die Türglocke ertönt, Gabriele hat
den Laden verlassen.
Drei Sekunden später wieder ein Klingeln.
»Hast du was vergessen?«, fragt Eva, während ihr
drei Rollen Geschenkband aus dem Regal entgegenfallen, über den
Boden kullern und sich dabei abwickeln. Keine Antwort. Eva lugt
über dem Tresen hervor, ein Mann im dunkelblauen
Colani-Marinemantel steht im
Geschäft. »Bin sofort bei Ihnen«, ruft sie, bückt sich, sammelt
eilig die Rollen ein und stopft sie zurück ins Regal.
Sie richtet sich wieder auf, geht um den Tresen
herum zu dem Tisch mit den Neuerscheinungen, vor dem der Kunde nun
steht und ihr den Rücken zugewandt hat.
»Suchen Sie etwas Bestimmtes?« Der Mann dreht sich
um. Sackt unmerklich zur Seite, stützt sich am Tisch ab, ein paar
Bücher gehen dabei zu Boden. Evas Handgelenke beginnen zu kribbeln.
Als liefe Wasser darüber, heißes Wasser, eine wetterfühlige
Narbe.
Er ist kaum größer als sie selbst, die blonden
Haare irgendwas zwischen kurz und mittellang, an den Stirnseiten
zeigen sich leichte Geheimratsecken, seine blassblauen Augen
schauen hinter Brillengläsern mit dünnem Silbergestell hervor.
Anfang dreißig, vielleicht auch etwas jünger. Kein auffälliger Typ.
Jemand, den man im Vorübergehen höchstens aus den Augenwinkeln
wahrnimmt, vielleicht weil man sich fragt, ob der Mann wirklich bei
der Marine war oder den Mantel irgendwo gekauft hat.
Das alles ist es nicht, was Evas Handgelenke zum
Kribbeln bringt. Es ist die Art, wie er sie ansieht. Wie ein
plötzliches Erkennen; wie wenn man ein Bild betrachtet, das man
früher schon einmal irgendwo gesehen hat, aber man weiß nicht mehr
genau, wann und wo. Es ist eine Art Déjà-vu, das Eva an seinem
Blick ablesen kann und das sie auf seltsame Art und Weise - ohne,
dass sie begreift, weshalb - gefangen nimmt. Seine
Gesichtszüge wären normalerweise weich, beinahe jungenhaft, aber
jetzt sind sie angespannt, eine steile Falte hat sich zwischen
seinen Augenbrauen gebildet. »Marlene?« Sie weiß gar nicht, ob er
das wirklich sagt oder ob sie es nur hört, sie antwortet nicht,
sondern blickt ihn nur an. »Marlene?« Doch, sie sieht, dass er
seine Lippen bewegt, wie er mit einer schnellen, flüchtigen
Bewegung seine Brille anhebt und sich über die Augen streicht, als
würde er versuchen, ein Trugbild zu verscheuchen.
»Sie haben meine Schwester gekannt?«
Nun wird die Falte noch steiler, wieder nimmt der
Mann seine Brille ab und streicht sich kurz über die Augen. Aber er
sagt nichts.
»Ich bin Eva«, erklärt sie schließlich. »Marlene
war meine Zwillingsschwester.« Er starrt sie weiter wortlos an.
»Wollten Sie«, bringt Eva unsicher hervor, die es nicht mehr
gewohnt ist, so taxiert zu werden, »zu meiner Schwester?«
»Das wusste ich nicht.« Die Worte sind nicht viel
mehr als ein Murmeln, fast hätte sie ihn nicht verstanden. Zuerst
begreift sie nicht, was er meint, braucht ein paar Sekunden, um zu
verstehen, dass er nichts von einem Zwilling Marlenes wusste. Jetzt
lässt der Mann den Tisch, an dem er sich immer noch festhält,
wieder los, seine Schultern straffen sich, die Falte zwischen
seinen Augen verschwindet. Tatsächlich scheint er zu versuchen, so
etwas wie ein Lächeln zustande zu bringen.
»Dann sind Sie Barbro«, stellt er fest. Seine Hand
schnellt vor, um sie Eva zu reichen. Doch dann zieht er
sie wieder zurück und versteckt sie in einer Tasche seines
Colani-Mantels. Barbro. Evas Körper wird von einer heißen
Welle durchspült, mit einem Mal ist ihr regelrecht schwindelig. So
hat sie lange niemand mehr genannt. So lange, dass sie es beinahe
schon vergessen hätte. Aber das war ja auch in einem anderen Leben,
in einem, das Ewigkeiten hinter ihr liegt. Barbro und
Ylva-Li.
Marlene wurde ein Jahr vor Eva eingeschult. Im
Alter von fünf Jahren.
»Aber Eva ist noch nicht so weit«, hatte man ihren
Eltern nach der schulärztlichen Untersuchung erklärt. »Geben Sie
ihr lieber noch etwas Zeit, sie ist noch zu verspielt. Irgendwann
würde sie sonst darunter leiden, die Leistungsschwächere zu sein.
Für die Entwicklung der Zwillinge ist es sowieso besser, wenn sie
in verschiedenen Klassen oder Stufen sind. Das hilft ihnen, eine
eigene Identität herauszubilden.« Also ging Marlene zum Unterricht
und Eva nicht. Obwohl Eva mit sechs Minuten Vorsprung die Ältere
war.
Abends, wenn sie in ihren Betten lagen, die im
Kinderzimmer nebeneinander standen, las Marlene ihr zum Einschlafen
etwas vor. Weil sie es ja schon früher konnte und Eva doch so gern
Geschichten hörte. Allerliebste Schwester von Astrid
Lindgren war ihre Lieblingsgeschichte. Wieder und wieder wollte sie
die Erzählung vorgelesen bekommen, obwohl Marlene sie noch stockend
und langsam vortrug. Von Barbro und ihrer Zwillingsschwester
Ylva-Li, die draußen im Garten in
einer Höhle unter einem Rosenstrauch lebte. Wenn die Rosen des
Salikons verwelken, werde ich tot sein, sagte Ylva-Li zu
Barbro. An dieser Stelle musste Eva immer weinen. Marlene nahm sie
dann in den Arm und tröstete sie, indem sie versicherte, dass es ja
nur eine Geschichte sei, so wie die vielen anderen von Goldi und
ihrer Dreckpuppe oder wie die von Märit, die von einem Felsbrocken
erschlagen wird, weil sie ihren Schwarm Jonas Petter retten will.
Traurige Geschichten, ja, aber eben nur Geschichten.
»Ich wusste nicht«, widerholt der Mann im
Colani-Mantel, »dass Marlenes Schwester ein Zwilling ist.« Er
räuspert sich. »Sie hat von Ihnen erzählt, aber nicht erwähnt, dass
Sie Zwillinge sind. Noch dazu offensichtlich eineiige.«
Eva lächelt ihn an. »Na ja«, mutmaßt sie,
»vielleicht, weil es in der Geschichte auch ein Geheimnis war?« Ihr
ist, als höre sie Marlenes Stimme, die den ersten Satz vorliest:
Jetzt will ich ein Geheimnis erzählen, das kein Mensch außer mir
kennt: Ich habe eine Zwillingsschwester.
»Tja«, nun lächelt er auch, »da war ich gerade im
ersten Moment wohl etwas überrascht.« Er macht eine kurze Pause.
»Dachte schon, ich würde einen Geist sehen oder hätte
Halluzinationen. Marlene ist ja …« Er lässt den Satz in der Luft
hängen.
»Tot«, beendet Eva ihn. Und denkt daran, wie sie
selbst vor Kurzem ihre Schwester gesehen hat. An der U-Bahn-Station
und unter der Brücke, eine Erscheinung,
die nichts von einem Geist oder einer Halluzination an sich
hatte.
»Eigentlich«, spricht der Mann weiter, »hat Marlene
immer betont, dass Sie beide total unterschiedlich seien. Wie hätte
ich da ahnen können, dass …«
»Typisch Marlene«, unterbricht sie ihn, »es gefiel
ihr nicht, im Mittelpunkt zu stehen. Und Zwillinge … die meisten
Menschen halten das für etwas Besonderes.«
»Hm«, er nickt. »Das ist wahr.« Bevor sie darauf
etwas erwidern kann, klingelt das Telefon neben der Kasse. Eva
nickt ihm kurz zu, einen »Augenblick bitte« andeutend, dann geht
sie zum Tresen, dreht dem Fremden den Rücken zu und hebt den Hörer
ab.
»Gabys Bücherstube?«
»Hallo Schatz, ich bin’s.« Tobias.
»Hallo.«
»Ich kann dich heute leider nicht abholen. Wir
müssen für morgen noch eine Präsentation vorbereiten, da kann ich
jetzt unmöglich weg.«
»Kein Problem.«
»Bestimmt nicht?« Sie lacht.
»Nein, ganz bestimmt nicht, ich bin doch kein
Kleinkind!«
»Ich weiß nicht …«
»Mach dir keine Sorgen, es ist alles in Ordnung.«
Schweigen. Dann spricht er wieder.
»Eva?«
»Ja?« Sie kann ihre Gereiztheit nur mit Mühe
unterdrücken.
»Versprichst du mir, nach der Arbeit sofort und
ohne
Umwege nach Hause zu gehen? Oder soll ich dir lieber ein Taxi
schicken?«
»Das brauchst du nicht, ich schaffe das
schon.«
»Bist du sicher?«
»Ganz sicher.«
»Gut. Ich liebe dich.«
Sie legt auf und holt leise tief Luft. Dreht sich
wieder um. Der Fremde ist nicht mehr da. Eva hat nicht einmal die
Türglocke gehört, so sehr hat der Anruf sie abgelenkt. Sie läuft
hinaus auf die Straße, blickt nach links und nach rechts, kneift
die Augen zusammen und hofft, irgendwo den blauen Colani-Mantel zu
entdecken. Aber er bleibt verschwunden. Sie ärgert sich über den
Anruf von Tobias. Und fragt sich, warum Marlenes Bekannter einfach
so gegangen ist. Gern hätte sie noch länger mit diesem Mann
gesprochen, der ihre Schwester kannte und der um die Geschichte vom
Rosenbusch wusste.
Sie schiebt den Pulswärmer am rechten Handgelenk
hoch, da, wo das schwarze Kreuz für alle Zeiten eingebrannt ist.
Sie streicht darüber. »Ylva-Li«.
Gabriele kommt die Straße herunter, die blonden
Haare wehen im Wind, in der Hand hat sie ein Brötchen.
»Willst du auch kurz raus zur Pause?«, fragt sie,
noch kauend, als sie Eva erreicht.
»Nein«, sagt Eva. »Ich dachte nur, ich hätte
jemanden gesehen.«
»Einen Bekannten?«
»Nein.« Sie schüttelt den Kopf. »Doch«, verbessert
sie sich dann.
»Wen denn?«
»Jonas.«
»Welchen Jonas?«
»Jonas Petter, der von Märit gerettet wird. Weil
sie sich vor einen Felsbrocken wirft, der auf ihn zurollt.«
»Ich verstehe kein Wort!« Gabriele mustert sie
verwundert. »Die Namen habe ich noch nie gehört! Und was denn für
ein Felsbrocken?« Eva muss beinahe lachen, weil Gabriele so
verdutzt aussieht.
»Das macht nichts«, erwidert sie, »es ist wirklich
nicht so wichtig, und du musst es nicht verstehen.« Dann: »Ich gehe
doch kurz raus und rauche eine Zigarette.«
»Aber du rauchst doch schon seit Jahren nicht
mehr!«
»Doch. Jetzt rauche ich wieder.«