14
»Nach der Schule gehen wir zusammen nach Hamburg,
gründen eine WG und studieren.« Wie oft hat Marlene das gesagt.
Jedes Mal, wenn Eva über das »Kaff« fluchte, in dem sie und ihre
Schwester gefangen waren, malte Marlene ihrer beider Zukunft in den
schillerndsten Farben aus.
»Wir ist gut«, stellte Eva daraufhin immer
wieder fest, »ich muss ja noch fast ein Jahr länger hierbleiben als
du. Und wenn du nicht mehr da bist, drehe ich endgültig durch.«
Mehr als einmal wollte Eva schon abhauen. Das Gymnasium schmeißen
und sich irgendwo in der Stadt einen Job suchen. Zur Not als
Putzfrau oder Babysitterin, irgendwas, um sich über Wasser zu
halten, bis jemand sie als Sängerin entdecken würde.
Sie kommt nicht klar, kommt einfach nicht klar mit
dieser beengten Welt, in der Marlene immer die Vorzeigetochter und
sie das enfant terrible ist. Das schreckliche, das
schwierige Kind. Keiner versteht, weshalb sie so anders ist. Am
wenigsten Evas und Marlenes Mutter, sie hat doch beide genau gleich
erzogen. Sogar ihren Beruf als Buchhalterin hat sie nach der Geburt
aufgeben, alle Aufmerksamkeit auf ihre zwei Töchter gerichtet. Nun
zieht sie nicht mehr bei ihrem Arbeitgeber, sondern in der Familie
Bilanz. Marlene im Haben, Eva im Soll. Während Marlene Nachhilfe
gibt, muss Eva welche bekommen. Marlene hat nicht mal zu Silvester
einen Schwips, bei Eva der erste Vollrausch mit fünfzehn. Bis zum
Abitur hat Marlene nur einen einzigen Freund, Eva hält über solche
Dinge lieber gleich den Mund. Trotzdem wird in dem Ort über sie
gemunkelt und getratscht. Was ihrer Mutter so gar nicht
passt.
»Was machen wir nur mit dir?« Die Frage aller
Fragen, was soll man mit Eva schon machen? Wenn der erste Platz
bereits besetzt ist, muss man sich einen anderen suchen. Oder
zusehen, dass man wegkommt.
Eine gepackte Tasche mit den nötigsten Sachen
hortet Eva ganz weit hinten in ihrem Kleiderschrank. Aber sie hat
sie nicht ein einziges Mal hervor geholt. Wegen Marlene. Weil
Marlene sie immer wieder bittet, durchzuhalten, ihr erklärt, dass
das Abitur nun mal wichtig sei und dass sie die restliche Zeit auch
noch durchstehen würde.
Den Tag, an dem ihre Schwester auszieht, um in
Hamburg ihr Medizinstudium zu beginnen, wird Eva nie vergessen.
Während ihr Vater Manfred Marlenes Habseligkeiten in den VW-Passat
packt, um seine Tochter ins Studentenwohnheim zu fahren - die WG
würde ja noch ein Jahr warten müssen -, schließt Eva sich in ihrem
Zimmer ein. Hackt verbissen auf ihrem Keyboard herum, brüllt
wütende Songzeilen und weigert
sich, auf Marlenes hartnäckiges Klopfen gegen ihre Tür zu
reagieren. Geh doch, geh doch, lass mich hier zurück, wen
kümmert es, wenn ich verrecke?
Erst am Abend hat sie sich so weit beruhigt, dass
sie den Anruf ihrer Schwester entgegennehmen kann.
»Barbro, bitte, es tut mir so leid«, kommt Marlenes
Stimme traurig durchs Telefon.
»Wenn es dir leid tun würde, wärst du jetzt noch
hier.«
»Was soll ich denn machen? Soll ich ein Jahr
verschwenden, um auf dich zu warten?« Schweigen. »Barbro?«
»Nenn mich nicht so, das ist kindisch und
albern.«
»Ist es gar nicht. Du bist kindisch und
albern!«
»Von mir aus.« Trotzige Tränen steigen Eva in die
Augen.
»Barbro, bitte!« Ein Seufzen. Eine lange Pause.
Keine von ihnen sagt ein Wort. Dann Marlene: »Okay. Wenn es so
schlimm ist, komme ich eben zurück.«
»Quatsch!«
»Doch, wirklich, das meine ich ernst. Vielleicht
leiste ich ein freiwilliges soziales Jahr ab oder so, das macht
sich auch später im Lebenslauf gut.« Die Versuchung breitet sich in
Eva aus, die Versuchung, jetzt einfach »Ja, bitte tu das!« zu
sagen.
Sie sagt es nicht.
»Nein, ist in Ordnung, du freust dich doch schon
ewig auf dein Studium.«
»Bist du sicher?«
»Ja.« Nein!
»Ich komme auch ganz oft nach Hause,
versprochen.«
»Ist gut.«
»Versprichst du mir auch was?«
»Was denn?«
»Bau bloß keinen Scheiß. Es ist ja nur noch ein
Dreivierteljahr bis zum Abi, das hältst du bestimmt durch. Und dann
ziehen wir zusammen in die WG. Du gehst zur Musikhochschule, und
wir führen ein wildes Studentenleben.«
»Ja«, jetzt laufen die Tränen ungebremst, »genauso
machen wir es. Das wird toll!«
Keine vier Monate nach diesem Gespräch ist
plötzlich alles anders. Marlene hat sich verliebt. In Tobias, den
smarten BWL-Studenten aus gutem Hause, Vater Chefarzt an der
Uniklinik, Mutter ganz im Dienste der Society unterwegs. Zwischen
zwei Vorlesungen ist er ihr auf dem Gelände des Klinikums über den
Weg gelaufen, als er gerade seinen Vater besuchen wollte - Liebe
auf den ersten Blick, nennt Marlene es. Sie zieht zu ihm in seine
kleine Eigentumswohnung, die seine Eltern ihm am Grindelhof gekauft
haben. Aus der Traum von der wilden Studenten-WG! Aus.
Versprochen.
Danach, nach dem Wochenende, an dem Marlene mit
Tobias nach Neu-Wulmstorf kommt, ihn den Eltern vorstellt und
erzählt, dass sie zu ihm ziehen wird, haut Eva nach Hamburg ab.
Beim gemeinsamen Abendessen entschuldigt sie sich, dass sie kurz
einmal für »kleine Mädchen« müsse - in Wahrheit läuft sie in ihr
Zimmer, greift die versteckte Tasche, raus auf die B 73, die direkt
vor ihrer Tür liegt, und streckt den Daumen
raus. Ein Fernfahrer nimmt sie mit, setzt sie in Altona ab.
Drei Stunden irrt sie durch die Stadt. Wohin? Das
wenige Ersparte soll nicht für ein Hotel draufgehen, sie wird
haushalten müssen, bis sie eine Arbeit findet.
Morgens um zwei die Lösung des Problems: ein Mann
um die dreißig, betrunken und einsam am Tresen einer Kiezkneipe.
Gut genug für die Nacht, gut genug für die nächsten vier Wochen,
bis Eva einen Job als Kellnerin und eine eigene Bleibe findet, eine
kleine Einzimmerwohnung in der Neustadt. Nichts Großartiges zwar,
aber billig und gut genug für sie. Mit einem Vermieter, der keine
Fragen stellt, dem es reicht, dass sie die erste Miete in bar
bezahlt.
Der erste Anruf bei ihren Eltern. Die
trotzig-kleinlaute Bitte, ihr ihre restlichen Sachen
vorbeizubringen, ihre Bücher, das Keyboard. Eine Stunde später
stehen sie vor der Tür. Nicht ein einziges der Dinge, um die Eva
gebeten hat, dabei. Aber Marlene. Marlene ist mitgekommen,
papierblass mit dunklen Augenringen.
»Eva!« Die Schwester fällt ihr weinend um den Hals.
»Wo warst du denn? Wieso bist du so einfach abgehauen?«
Sanft schiebt Eva ihre Schwester von sich weg.
»Keine Sorge«, sagt sie. »Es ist alles gut.«
»Gut?«, bellt ihre Mutter. »Was soll denn da gut
sein? Bist du jetzt völlig verrückt geworden?«
»Wo sind meine Sachen?«, fragt Eva ruhig.
»Zu Hause«, erklärt ihr Vater, »da, wo du jetzt
auch wieder mit hinfährst.« Er greift nach ihrem Arm, so
fest, dass sie denkt, sie wird mit Sicherheit einen blauen Fleck
kriegen.
»Nein!« Mit aller Kraft reißt sie sich von ihm los.
»Ich komme nicht wieder mit, ich wohne ab sofort hier.«
»Und was ist mit der Schule?«, will ihre Mutter
wissen, deren Stimme sich fast überschlägt. »Die Prüfungen beginnen
bald!«
»Da gehe ich nicht mehr hin, die Schule ist für
mich erledigt.«
»Barbro, bitte!«, schaltet sich nun wieder ihre
Schwester ein. Eva wirft ihr einen Blick zu, der sie zum Schweigen
bringt. Keinen bösen Blick. Nur einen, der darum bittet, dass sie
sie verstehen soll.
»Mir reicht das jetzt«, sagt ihr Vater und greift
wieder nach seiner Tochter. Schnell springt sie einen Schritt
zurück.
»Fass mich nicht an!«, schreit sie. »Fass mich nie
wieder an!« Erschrocken lässt ihr Vater die Hände sinken, wirft
seiner Frau einen ratlosen Blick zu.
»Ich verstehe das nicht, Manfred«, seufzt Gerlinde.
»Aber so ist sie ja schon immer gewesen«, fährt sie dann über Eva
referierend fort. »Immer störrisch, launisch. Tut nur das, was sie
sich gerade in den Kopf gesetzt hat und schert sich nicht um Gott
und die Welt!« Wieder an Eva: »Wie kannst du nur so unvernünftig
sein? Warum bist du nicht ein bisschen wie Marlene? Von Zwillingen
sollte man eigentlich etwas anderes erwarten!«
»Weil ich«, in diesem Moment ist Eva ganz ruhig,
»nicht Marlene bin.«
»Ja!«, stichelt ihre Mutter. »Das kann man wohl
sagen! Weiß der Himmel warum!« Eva geht zur Tür und öffnet
sie.
»Außerdem bin ich volljährig. Und jetzt raus aus
meiner Wohnung.« Ihre Eltern schnappen hörbar nach Luft, so hat das
Kind noch nie mit ihnen gesprochen. Reglos starren sie Eva
an.
»Komm, Manfred«, sagt Gerlinde dann, »lass uns
gehen. Es hat ja keinen Sinn, mit ihr zu reden, das ist vergebene
Liebesmüh.« Liebesmüh. Eva lacht auf. Als hätte sich jemals
einer von den beiden ihretwegen mit Liebe Mühe gegeben! Evas Mutter
geht zur Tür, ihr Mann folgt ihr auf dem Fuße.
»Ich auch?« Marlene.
»Nein. Du kannst bleiben. Nur die beiden da - die
will ich nicht mehr sehen.« Hinter ihren Eltern schließt Eva die
Tür, dreht den Schlüssel zweimal um.
»Aber ich habe dich nie gehasst«, sagt Eva
jetzt.
»Nein?«
»Natürlich nicht. Ich habe dich geliebt.« Das
stimmt. Und auch nicht. Mit einem Mal fühlt Eva wieder den Groll in
sich aufsteigen, Groll, den sie viele Jahre unterdrückt hat. Zorn
darüber, verlassen worden zu sein. Von dem einzigen Menschen, der
ihr je etwas bedeutet hat.
»Ich habe dich auch geliebt«, flüstert Marlene
jetzt. »Bis zum letzten Moment habe ich das getan.« Eva steht auf,
setzt sich zu ihrer Schwester aufs Sofa und schließt die Augen.
Diese Liebe habe ich nicht verdient,
denkt sie, während ihr so ist, als würde Marlene ihr sanft übers
Haar streicheln. »Und manchmal«, hört sie ihre Schwester
fortfahren, »hatte ich Angst. Angst, dass ich dich verliere, dass
uns das entfremdet hat und du mir nie verzeihen kannst.« Du! Mir!
Nie! Verzeihen! Wie zynisch klingen diese Worte in Evas Ohren. Wenn
sie wüsste, wenn Marlene wüsste, was Eva in Wahrheit getan
hat.
Schon will Eva es ihr sagen, will den Moment
nutzen, endlich alles auf den Tisch zu bringen. Die Geschichte
ihrer kleinen dreckigen Rache, die heimliche Genugtuung, die Eva
darüber empfand, dass der feine Herr Tobias eben doch nicht ganz so
fein war, wie alle immer dachten, dass er nicht eine Sekunde
gezögert hat, als sich ihm die erstbeste Gelegenheit bot und die
zweitbeste und drittbeste gleich mit. Alles auf den Tisch,
schonungslos und ungeschminkt, und dann wird die Vergangenheit
entweder daruntergekehrt oder ein für alle Mal fortgewischt, nichts
soll mehr zwischen ihr und Marlene stehen. Nichts, auch nicht
Tobias, denn ja, er hat sie entzweit, er hat sie sich verlieren
lassen, er - und kein anderer ist Schuld.
»Tobias«, sagt Eva, setzt sich auf und blickt
Marlene direkt ins Gesicht. »Den habe ich gehasst.«
»Er hat dir damals nichts getan«, stellt Marlene
überrascht fest.
»Doch«, widerspricht sie. »Er hat aus meiner
wunderbaren, schlauen Ylva-Li ein Hausmütterchen gemacht«, stößt
sie zornig hervor. »Buchhändlerin statt Ärztin, ja, das hat er
gerade noch erlaubt.«
»Wir wollten doch Kinder«, erklärt Marlene.
»Deshalb habe ich nach dem Studium nicht weitergemacht. Du weißt,
dass ich immer Kinder, immer eine Familie wollte. Mit einem
Vollzeitjob als Ärztin wäre das viel zu stressig gewesen.«
»Hat Tobias bestimmt.« Marlene schüttelt den Kopf.
»Ob du es glaubst oder nicht, es war meine eigene Entscheidung. So
wie es deine war …« Sie unterbricht sich, lacht. »Sieh dich doch
nur an! In dir steckt so viel von mir. Alles hast du aufgegeben,
genau wie ich.«
»Aber nicht für Tobias«, flüstert Eva. »Ich habe es
für dich getan.«
»Denkst du nicht, dass es langsam Zeit ist zu
gehen?« Eva überlegt einen Moment. »Nein«, sagt sie. »Ich kann
nicht.«
»Warum nicht?«
»Ich bin nicht stark genug. Dafür bin ich noch
nicht stark genug.« Marlene mustert sie ungläubig.
»Das klingt nicht nach der Eva, die ich
kenne.«
»Ich bin auch nicht mehr die Eva, die du
kennst.«
»Aber genau die will ich zurück.«
»Ja«, sagt Eva und schließt ein weiteres Mal die
Augen. Vor sich sieht sie Simon, wie er ihr Gesicht in beide Hände
nimmt. Ein bisschen mehr noch, ein bisschen mehr davon, und sie
wird es schaffen. Das weiß sie, da ist sie sich ganz sicher. »Ich
brauche einfach etwas Zeit.«
»Eva?«
Sie liegt allein auf dem Sofa.
Wieder: »Eva?«
Zwei Sekunden später steht Tobias in der Tür. »Ist
jemand hier?« Er lässt seinen Blick irritiert durch den Raum
wandern, als würde er wirklich meinen, Evas Gesprächspartner
irgendwo zu entdecken.
»Nein.« Sie erhebt sich und geht mit einem Lächeln
auf ihn zu. »Ich bin allein, habe nur ein bisschen vor mich hin
gesungen.« Schnell stellt sie sich auf die Zehenspitzen, gibt ihm
einen Kuss auf den Mund. »Gehen wir wieder ins Bett.«