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»Nach der Schule gehen wir zusammen nach Hamburg, gründen eine WG und studieren.« Wie oft hat Marlene das gesagt. Jedes Mal, wenn Eva über das »Kaff« fluchte, in dem sie und ihre Schwester gefangen waren, malte Marlene ihrer beider Zukunft in den schillerndsten Farben aus.
»Wir ist gut«, stellte Eva daraufhin immer wieder fest, »ich muss ja noch fast ein Jahr länger hierbleiben als du. Und wenn du nicht mehr da bist, drehe ich endgültig durch.« Mehr als einmal wollte Eva schon abhauen. Das Gymnasium schmeißen und sich irgendwo in der Stadt einen Job suchen. Zur Not als Putzfrau oder Babysitterin, irgendwas, um sich über Wasser zu halten, bis jemand sie als Sängerin entdecken würde.
Sie kommt nicht klar, kommt einfach nicht klar mit dieser beengten Welt, in der Marlene immer die Vorzeigetochter und sie das enfant terrible ist. Das schreckliche, das schwierige Kind. Keiner versteht, weshalb sie so anders ist. Am wenigsten Evas und Marlenes Mutter, sie hat doch beide genau gleich erzogen. Sogar ihren Beruf als Buchhalterin hat sie nach der Geburt aufgeben, alle Aufmerksamkeit auf ihre zwei Töchter gerichtet. Nun zieht sie nicht mehr bei ihrem Arbeitgeber, sondern in der Familie Bilanz. Marlene im Haben, Eva im Soll. Während Marlene Nachhilfe gibt, muss Eva welche bekommen. Marlene hat nicht mal zu Silvester einen Schwips, bei Eva der erste Vollrausch mit fünfzehn. Bis zum Abitur hat Marlene nur einen einzigen Freund, Eva hält über solche Dinge lieber gleich den Mund. Trotzdem wird in dem Ort über sie gemunkelt und getratscht. Was ihrer Mutter so gar nicht passt.
»Was machen wir nur mit dir?« Die Frage aller Fragen, was soll man mit Eva schon machen? Wenn der erste Platz bereits besetzt ist, muss man sich einen anderen suchen. Oder zusehen, dass man wegkommt.
Eine gepackte Tasche mit den nötigsten Sachen hortet Eva ganz weit hinten in ihrem Kleiderschrank. Aber sie hat sie nicht ein einziges Mal hervor geholt. Wegen Marlene. Weil Marlene sie immer wieder bittet, durchzuhalten, ihr erklärt, dass das Abitur nun mal wichtig sei und dass sie die restliche Zeit auch noch durchstehen würde.
Den Tag, an dem ihre Schwester auszieht, um in Hamburg ihr Medizinstudium zu beginnen, wird Eva nie vergessen. Während ihr Vater Manfred Marlenes Habseligkeiten in den VW-Passat packt, um seine Tochter ins Studentenwohnheim zu fahren - die WG würde ja noch ein Jahr warten müssen -, schließt Eva sich in ihrem Zimmer ein. Hackt verbissen auf ihrem Keyboard herum, brüllt wütende Songzeilen und weigert sich, auf Marlenes hartnäckiges Klopfen gegen ihre Tür zu reagieren. Geh doch, geh doch, lass mich hier zurück, wen kümmert es, wenn ich verrecke?
Erst am Abend hat sie sich so weit beruhigt, dass sie den Anruf ihrer Schwester entgegennehmen kann.
»Barbro, bitte, es tut mir so leid«, kommt Marlenes Stimme traurig durchs Telefon.
»Wenn es dir leid tun würde, wärst du jetzt noch hier.«
»Was soll ich denn machen? Soll ich ein Jahr verschwenden, um auf dich zu warten?« Schweigen. »Barbro?«
»Nenn mich nicht so, das ist kindisch und albern.«
»Ist es gar nicht. Du bist kindisch und albern!«
»Von mir aus.« Trotzige Tränen steigen Eva in die Augen.
»Barbro, bitte!« Ein Seufzen. Eine lange Pause. Keine von ihnen sagt ein Wort. Dann Marlene: »Okay. Wenn es so schlimm ist, komme ich eben zurück.«
»Quatsch!«
»Doch, wirklich, das meine ich ernst. Vielleicht leiste ich ein freiwilliges soziales Jahr ab oder so, das macht sich auch später im Lebenslauf gut.« Die Versuchung breitet sich in Eva aus, die Versuchung, jetzt einfach »Ja, bitte tu das!« zu sagen.
Sie sagt es nicht.
»Nein, ist in Ordnung, du freust dich doch schon ewig auf dein Studium.«
»Bist du sicher?«
»Ja.« Nein!
»Ich komme auch ganz oft nach Hause, versprochen.«
»Ist gut.«
»Versprichst du mir auch was?«
»Was denn?«
»Bau bloß keinen Scheiß. Es ist ja nur noch ein Dreivierteljahr bis zum Abi, das hältst du bestimmt durch. Und dann ziehen wir zusammen in die WG. Du gehst zur Musikhochschule, und wir führen ein wildes Studentenleben.«
»Ja«, jetzt laufen die Tränen ungebremst, »genauso machen wir es. Das wird toll!«
Keine vier Monate nach diesem Gespräch ist plötzlich alles anders. Marlene hat sich verliebt. In Tobias, den smarten BWL-Studenten aus gutem Hause, Vater Chefarzt an der Uniklinik, Mutter ganz im Dienste der Society unterwegs. Zwischen zwei Vorlesungen ist er ihr auf dem Gelände des Klinikums über den Weg gelaufen, als er gerade seinen Vater besuchen wollte - Liebe auf den ersten Blick, nennt Marlene es. Sie zieht zu ihm in seine kleine Eigentumswohnung, die seine Eltern ihm am Grindelhof gekauft haben. Aus der Traum von der wilden Studenten-WG! Aus. Versprochen.
Danach, nach dem Wochenende, an dem Marlene mit Tobias nach Neu-Wulmstorf kommt, ihn den Eltern vorstellt und erzählt, dass sie zu ihm ziehen wird, haut Eva nach Hamburg ab. Beim gemeinsamen Abendessen entschuldigt sie sich, dass sie kurz einmal für »kleine Mädchen« müsse - in Wahrheit läuft sie in ihr Zimmer, greift die versteckte Tasche, raus auf die B 73, die direkt vor ihrer Tür liegt, und streckt den Daumen raus. Ein Fernfahrer nimmt sie mit, setzt sie in Altona ab.
Drei Stunden irrt sie durch die Stadt. Wohin? Das wenige Ersparte soll nicht für ein Hotel draufgehen, sie wird haushalten müssen, bis sie eine Arbeit findet.
Morgens um zwei die Lösung des Problems: ein Mann um die dreißig, betrunken und einsam am Tresen einer Kiezkneipe. Gut genug für die Nacht, gut genug für die nächsten vier Wochen, bis Eva einen Job als Kellnerin und eine eigene Bleibe findet, eine kleine Einzimmerwohnung in der Neustadt. Nichts Großartiges zwar, aber billig und gut genug für sie. Mit einem Vermieter, der keine Fragen stellt, dem es reicht, dass sie die erste Miete in bar bezahlt.
Der erste Anruf bei ihren Eltern. Die trotzig-kleinlaute Bitte, ihr ihre restlichen Sachen vorbeizubringen, ihre Bücher, das Keyboard. Eine Stunde später stehen sie vor der Tür. Nicht ein einziges der Dinge, um die Eva gebeten hat, dabei. Aber Marlene. Marlene ist mitgekommen, papierblass mit dunklen Augenringen.
»Eva!« Die Schwester fällt ihr weinend um den Hals. »Wo warst du denn? Wieso bist du so einfach abgehauen?«
Sanft schiebt Eva ihre Schwester von sich weg. »Keine Sorge«, sagt sie. »Es ist alles gut.«
»Gut?«, bellt ihre Mutter. »Was soll denn da gut sein? Bist du jetzt völlig verrückt geworden?«
»Wo sind meine Sachen?«, fragt Eva ruhig.
»Zu Hause«, erklärt ihr Vater, »da, wo du jetzt auch wieder mit hinfährst.« Er greift nach ihrem Arm, so fest, dass sie denkt, sie wird mit Sicherheit einen blauen Fleck kriegen.
»Nein!« Mit aller Kraft reißt sie sich von ihm los. »Ich komme nicht wieder mit, ich wohne ab sofort hier.«
»Und was ist mit der Schule?«, will ihre Mutter wissen, deren Stimme sich fast überschlägt. »Die Prüfungen beginnen bald!«
»Da gehe ich nicht mehr hin, die Schule ist für mich erledigt.«
»Barbro, bitte!«, schaltet sich nun wieder ihre Schwester ein. Eva wirft ihr einen Blick zu, der sie zum Schweigen bringt. Keinen bösen Blick. Nur einen, der darum bittet, dass sie sie verstehen soll.
»Mir reicht das jetzt«, sagt ihr Vater und greift wieder nach seiner Tochter. Schnell springt sie einen Schritt zurück.
»Fass mich nicht an!«, schreit sie. »Fass mich nie wieder an!« Erschrocken lässt ihr Vater die Hände sinken, wirft seiner Frau einen ratlosen Blick zu.
»Ich verstehe das nicht, Manfred«, seufzt Gerlinde. »Aber so ist sie ja schon immer gewesen«, fährt sie dann über Eva referierend fort. »Immer störrisch, launisch. Tut nur das, was sie sich gerade in den Kopf gesetzt hat und schert sich nicht um Gott und die Welt!« Wieder an Eva: »Wie kannst du nur so unvernünftig sein? Warum bist du nicht ein bisschen wie Marlene? Von Zwillingen sollte man eigentlich etwas anderes erwarten!«
»Weil ich«, in diesem Moment ist Eva ganz ruhig, »nicht Marlene bin.«
»Ja!«, stichelt ihre Mutter. »Das kann man wohl sagen! Weiß der Himmel warum!« Eva geht zur Tür und öffnet sie.
»Außerdem bin ich volljährig. Und jetzt raus aus meiner Wohnung.« Ihre Eltern schnappen hörbar nach Luft, so hat das Kind noch nie mit ihnen gesprochen. Reglos starren sie Eva an.
»Komm, Manfred«, sagt Gerlinde dann, »lass uns gehen. Es hat ja keinen Sinn, mit ihr zu reden, das ist vergebene Liebesmüh.« Liebesmüh. Eva lacht auf. Als hätte sich jemals einer von den beiden ihretwegen mit Liebe Mühe gegeben! Evas Mutter geht zur Tür, ihr Mann folgt ihr auf dem Fuße.
»Ich auch?« Marlene.
»Nein. Du kannst bleiben. Nur die beiden da - die will ich nicht mehr sehen.« Hinter ihren Eltern schließt Eva die Tür, dreht den Schlüssel zweimal um.
 
»Aber ich habe dich nie gehasst«, sagt Eva jetzt.
»Nein?«
»Natürlich nicht. Ich habe dich geliebt.« Das stimmt. Und auch nicht. Mit einem Mal fühlt Eva wieder den Groll in sich aufsteigen, Groll, den sie viele Jahre unterdrückt hat. Zorn darüber, verlassen worden zu sein. Von dem einzigen Menschen, der ihr je etwas bedeutet hat.
»Ich habe dich auch geliebt«, flüstert Marlene jetzt. »Bis zum letzten Moment habe ich das getan.« Eva steht auf, setzt sich zu ihrer Schwester aufs Sofa und schließt die Augen. Diese Liebe habe ich nicht verdient, denkt sie, während ihr so ist, als würde Marlene ihr sanft übers Haar streicheln. »Und manchmal«, hört sie ihre Schwester fortfahren, »hatte ich Angst. Angst, dass ich dich verliere, dass uns das entfremdet hat und du mir nie verzeihen kannst.« Du! Mir! Nie! Verzeihen! Wie zynisch klingen diese Worte in Evas Ohren. Wenn sie wüsste, wenn Marlene wüsste, was Eva in Wahrheit getan hat.
Schon will Eva es ihr sagen, will den Moment nutzen, endlich alles auf den Tisch zu bringen. Die Geschichte ihrer kleinen dreckigen Rache, die heimliche Genugtuung, die Eva darüber empfand, dass der feine Herr Tobias eben doch nicht ganz so fein war, wie alle immer dachten, dass er nicht eine Sekunde gezögert hat, als sich ihm die erstbeste Gelegenheit bot und die zweitbeste und drittbeste gleich mit. Alles auf den Tisch, schonungslos und ungeschminkt, und dann wird die Vergangenheit entweder daruntergekehrt oder ein für alle Mal fortgewischt, nichts soll mehr zwischen ihr und Marlene stehen. Nichts, auch nicht Tobias, denn ja, er hat sie entzweit, er hat sie sich verlieren lassen, er - und kein anderer ist Schuld.
»Tobias«, sagt Eva, setzt sich auf und blickt Marlene direkt ins Gesicht. »Den habe ich gehasst.«
»Er hat dir damals nichts getan«, stellt Marlene überrascht fest.
»Doch«, widerspricht sie. »Er hat aus meiner wunderbaren, schlauen Ylva-Li ein Hausmütterchen gemacht«, stößt sie zornig hervor. »Buchhändlerin statt Ärztin, ja, das hat er gerade noch erlaubt.«
»Wir wollten doch Kinder«, erklärt Marlene. »Deshalb habe ich nach dem Studium nicht weitergemacht. Du weißt, dass ich immer Kinder, immer eine Familie wollte. Mit einem Vollzeitjob als Ärztin wäre das viel zu stressig gewesen.«
»Hat Tobias bestimmt.« Marlene schüttelt den Kopf. »Ob du es glaubst oder nicht, es war meine eigene Entscheidung. So wie es deine war …« Sie unterbricht sich, lacht. »Sieh dich doch nur an! In dir steckt so viel von mir. Alles hast du aufgegeben, genau wie ich.«
»Aber nicht für Tobias«, flüstert Eva. »Ich habe es für dich getan.«
»Denkst du nicht, dass es langsam Zeit ist zu gehen?« Eva überlegt einen Moment. »Nein«, sagt sie. »Ich kann nicht.«
»Warum nicht?«
»Ich bin nicht stark genug. Dafür bin ich noch nicht stark genug.« Marlene mustert sie ungläubig.
»Das klingt nicht nach der Eva, die ich kenne.«
»Ich bin auch nicht mehr die Eva, die du kennst.«
»Aber genau die will ich zurück.«
»Ja«, sagt Eva und schließt ein weiteres Mal die Augen. Vor sich sieht sie Simon, wie er ihr Gesicht in beide Hände nimmt. Ein bisschen mehr noch, ein bisschen mehr davon, und sie wird es schaffen. Das weiß sie, da ist sie sich ganz sicher. »Ich brauche einfach etwas Zeit.«
»Eva?«
Sie liegt allein auf dem Sofa.
Wieder: »Eva?«
Zwei Sekunden später steht Tobias in der Tür. »Ist jemand hier?« Er lässt seinen Blick irritiert durch den Raum wandern, als würde er wirklich meinen, Evas Gesprächspartner irgendwo zu entdecken.
»Nein.« Sie erhebt sich und geht mit einem Lächeln auf ihn zu. »Ich bin allein, habe nur ein bisschen vor mich hin gesungen.« Schnell stellt sie sich auf die Zehenspitzen, gibt ihm einen Kuss auf den Mund. »Gehen wir wieder ins Bett.«