12
Als Eva am Morgen darauf erwacht, hört sie, dass
Tobias bereits im Badezimmer duscht. Überrascht sieht sie auf den
Wecker, schon halb elf, sie hat geschlafen wie ein Stein. Der
Vortag scheint sie doch mehr angestrengt zu haben, als sie dachte.
Erst will sie schnell aufspringen, da fällt ihr ein, dass ihr Plan
ein anderer ist. Sie rutscht noch etwas tiefer ins Bett, wickelt
die Decke fest um sich und wartet, dass Tobias ins Zimmer kommt.
Knapp zehn Minuten später öffnet sich die Tür zum Bad, ihr Mann hat
ein Handtuch um die Hüften geschwungen, seine Haare schimmern
feucht.
»Guten Morgen, Schatz«, sagt er, beugt sich zu ihr
hinunter und gibt ihr wie immer einen Kuss. »Du hast ja geschlafen
wie ein Murmeltier, ich dachte schon, du wachst gar nicht mehr
auf.« Etwas schwerfällig setzt Eva sich auf, hustet leicht und
hofft, dass sie überzeugend klingt. Doch Tobias spricht weiter,
bevor sie überhaupt etwas sagen kann. »Ich habe im Golfclub
angerufen und für heute abgesagt.«
Jetzt muss Eva wirklich husten. »Du hast die
Probestunden
abgesagt?«, krächzt sie. Mit einem Schlag wird ihr heiß und
kalt.
»Hab’s auf nächsten Sonntag verlegt.«
»Warum?« Nein. Das darf nicht sein. Sie hatte doch
alles so gut durchdacht. Eine kleine Erkältung, nicht weiter
schlimm, Liebling, fahr einfach ohne mich, ich komm schon klar und
bleibe den Tag im Bett, damit’s nicht schlimmer wird.
Wut steigt in ihr auf, Wut auf sich selbst. Es war
der kleine Streit bei ihren Eltern, mit Sicherheit. Warum hat sie
sich nicht zusammenreißen können, das muss sein Misstrauen aufs
Neue geweckt haben, sie, Eva, hat ihm das Gefühl gegeben, immer
noch nicht stabil zu sein. Und eine Auseinandersetzung im Golfclub,
in Gegenwart von anderen Menschen, noch dazu gleich beim ersten
Mal, ist todsicher nichts, was Tobias erleben möchte.
»Es tut mir leid«, sagt er und setzt sich zu Eva
ans Bett, den Blick voller Bedauern, »ich habe vor einer Stunde mit
Martin telefoniert.«
»Mit Martin?« Tobias’ Geschäftspartner. »Ja, es
gibt da ziemliche Probleme mit einem Projekt. Das Team brütet schon
seit Tagen über einer Lösung und kommt nicht voran, eigentlich
hätte ich mich da viel mehr mit reinknien müssen. Und morgen
Nachmittag ist die Präsentation beim Kunden, das Ding dürfen wir
auf gar keinen Fall gegen die Wand fahren, der Etat ist einfach
viel zu wichtig für uns.« Er hebt entschuldigend die Hände. »So wie
es aussieht, muss ich heute in die Agentur.«
»Oh.«
»Ich habe wirklich alles versucht, Schatz«, fährt
Tobias fort, um Evas vermeintliche Enttäuschung zu mindern. »Aber
Martin besteht darauf. Und, na ja, ich kann ihn auch verstehen, er
hat natürlich recht, dass ich jetzt vor Ort sein muss, ich war in
den letzten Wochen ja wirklich -«
»Kein Problem«, sagt Eva schnell. »Also, natürlich
ist es schade, aber der Golfplatz läuft uns ja nicht weg, da können
wir nächste Woche auch noch hin.«
»Trotzdem lasse ich dich am Sonntag nur ungern
allein. Das ist doch unser Tag!« Eva, ganz die verständnisvolle
Ehefrau, schenkt ihm ein liebenswürdiges Lächeln.
»Aber die Firma geht vor«, stellt sie fest, »und
die hast du in letzter Zeit vielleicht wirklich etwas
vernachlässigt.« Sie streckt die Arme nach ihm aus, er nimmt ihre
Hände, Eva zieht ihn an sich heran. »Wirklich, Schatz«, bekräftigt
sie zwischen zwei Küssen, »es ist gar nicht schlimm.«
»Hm«, murmelt er und lässt seine Lippen über ihr
Gesicht gleiten, »wenn du mich so küsst, will ich erst recht zu
Hause bleiben.« Schon wandert er mit einer Hand unter ihr
Schlafshirt, mit der anderen nestelt er an seinem Handtuch herum.
Eva unterdrückt den Impuls, ihn ruckartig wegzustoßen, und schiebt
ihn nur ganz langsam von sich weg.
»Du bist schon geduscht«, raunt sie kokett, »und
ich hab nicht einmal Zähne geputzt.«
»Mir egal«, sagt er und versucht, sie wieder an
sich zu ziehen. »Ich liebe dich auch, wenn du ungewaschen
bist.«
»Heute Abend«, wehrt sie ihn ab, »haben wir alle
Zeit der Welt. Aber jetzt solltest du los, Martin wartet bestimmt
schon auf dich.«
Tobias zögert. Seit Evas Geburtstag hat er sie
nicht mehr angefasst, und jetzt, da sie ihn einmal zärtlich
berührt, scheint er diese Gelegenheit nur ungern verstreichen zu
lassen. Doch dann steht er auf und nimmt sich die Sachen, die er
bereits auf dem Korbsessel zusammen gelegt hat.
»Ja, ich muss wohl wirklich leider los«, erklärt
er, während er Unterwäsche, Socken, Hemd und Anzughose anzieht.
Noch einmal setzt er sich zu seiner Frau aufs Bett. »Ich werde dann
mal fahren. Aber ich freue mich schon auf heute Abend. Allerdings
wird es wohl nicht so früh werden, wir müssen wirklich …«
»Mach dir keine Gedanken, Schatz.« Sie muss sich
nicht mal Mühe geben, ihn anzustrahlen, das Lächeln kommt von ganz
allein und ehrlich aus ihrem Innersten. »Ich bin ja hier und warte
auf dich.«
»Bis nachher!« Noch ein Kuss, dann steht er
auf.
Nachdem Tobias das Schlafzimmer verlassen hat,
lässt Eva sich zurück in die Kissen sinken. Einen Moment lang
starrt sie unschlüssig an die Decke. Ob er jetzt wirklich in die
Agentur fährt? Oder hat er sich das ausgedacht, um zu sehen, was
sie in seiner Abwesenheit anstellt? Nein, sie verwirft diesen
Verdacht, das glaubt sie nicht, dafür ist ihm der gemeinsame
Sonntag zu heilig.
Wann er wohl wieder nach Hause kommen wird? Wie
viel Zeit hat sie jetzt für sich? Bis um achtzehn Uhr? Zwanzig Uhr?
Noch später? Früher, als alles noch
»normal« war, ist er oft erst morgens um drei oder vier aus der
Agentur gekommen, vor wichtigen Präsentationen hat er manchmal
sogar in der Firma übernachtet. Das wird er heute sicher nicht tun,
aber vielleicht wird es bis in die Nacht dauern. Und was, falls er
doch schon da ist, wenn sie zurückkommt, was soll sie ihm dann
sagen? Doch fürs Erste schiebt sie diese Sorge beiseite. Das
Einzige, was für dich zählen sollte, bist du selbst. So hat Marlene
es gesagt, und daran wird sie sich ab sofort auch halten.
Hoffnungen. Sehnsüchte.
Um zehn vor drei erreicht das Taxi den Sandtorkai
in der Hafencity. Eva hat ihr Auto zu Hause gelassen. Für den Fall,
dass Tobias schon früher aus der Agentur zurückkehrt, wird sie
sagen, sie sei ein wenig spazieren und danach in der Sauna gewesen.
Eine große Sporttasche mit Handtuch und Duschutensilien hat Eva in
der Papiertonne vorm Haus versteckt, sie zwischen einen Stapel
Zeitungen geschoben. Sie wird sie holen, bevor sie hinein geht. Ihr
Handy liegt ausgeschaltet in der Küche, sie hat wohl aus Versehen
vergessen, es mitzunehmen.
Eva wandert eine Weile umher, will erst um kurz
nach drei bei Simon klingeln. Die Hafencity, für Architekten ein
Traum der Stadtentwicklung, für lebende Menschen ein Alptraum aus
Beton. Nirgends blüht etwas, die Magellan-Terrassen sind eine
einzige riesige graue Fläche, ideal für Skateboard-Kids, die hier
unter lautem Klackern, das von den Wänden der Gebäude widerhallt,
ihre Kunststücke probieren. Sterile Cafés,
im neuen Museumshafen dümpeln träge ein paar Boote vor sich hin,
überall Baukräne, Absperrungen und Flatterband. Vielleicht in ein
paar Jahren, wenn der spröde Glanz der Neubauten verblasst ist,
wenn sich hier und da etwas Unkraut durch den Asphalt gegraben hat,
wird dieser Ort etwas Heimeliges bekommen. Doch jetzt pfeift der
Wind eisig kalt durch die Häuserschluchten, Eva zieht ihren Mantel
enger um sich und beobachtet ein paar Touristen, die von einem
Guide durch das Areal geführt werden.
Ihre Hand zittert leicht, als sie ein paar Minuten
später den Klingelknopf drückt. Sie betrachtet ihr Spiegelbild in
der gläsernen Eingangstür, fährt sich noch einmal durch die Haare,
die sie heute offen trägt. Passend zu ihren Augen hat sie sich die
Ohrringe mit blauen Swarovski-Steinen angesteckt, sie hat Make-up
aufgelegt, so sorgfältig wie schon lange nicht mehr.
Die Gegensprechanlage knackt. »Hallo?«, erklingt
Simons Stimme.
»Eva hier!«
»Mit dem Fahrstuhl ins oberste Stockwerk«, sagt er,
dann ertönt der Türsummer. Mit dem Lift schießt Eva in die Höhe.
Die Schiebetüren öffnen sich. Simon steht bereits da, hat sie
erwartet. Er trägt Jeans, einen weißen Pullover, unter dem ein
blauer Hemdkragen hervorblitzt.
»Hallo.« Sein Lächeln ist ein wenig unsicher wie
schon bei ihrem ersten Treffen vor der Alten Post. Er beugt sich zu
ihr vor und küsst sie auf beide Wangen. »Du siehst toll aus.«
»Danke. Und auch Hallo«, erwidert sie. Simon führt
sie vom Fahrstuhl durch eine Tür, und sie betreten ein
lichtdurchflutetes Loft. Er bedeutet Eva mit einer Geste, dass er
ihren Mantel nehmen will, hilft ihr heraus und hängt ihn mit einem
Kleiderbügel an einen Haken neben der Tür. Eva sieht sich neugierig
um. »Hier wohnst du also«, stellt sie fest.
Er nickt und lächelt. »Wenn man das Wohnen nennen
kann. Ich bin nicht wirklich eingerichtet.« Er führt sie durch den
großen Raum, der tatsächlich etwas steril wirkt. Alles ist weiß,
die lederne Sitzgarnitur vor den großen Panoramascheiben mit
Aussicht über die gesamte Hafencity. Die offene Einbauküche mit
Hängeschränken und Milchglasscheiben, hinter denen es noch völlig
leer zu sein scheint. Ein großer, mit Klavierlack überzogener
Esstisch, passend dazu sechs weiße Stühle. Auch Simon selbst fügt
sich mit seinem weißen Pullover harmonisch in dieses Bild. Wie
im Himmel, denkt Eva. So stellen sie es in Filmen immer dar,
wenn ein Mensch nach seinem Tod erwacht, alles um ihn herum weiß
und gleißend. Und dann, wenn sich herausstellt, dass er zu früh
gestorben ist, dass ein Fehler vorlag, dass es noch gar nicht an
der Zeit für ihn war, schicken sie den Menschen zurück zur Erde,
weil er dort noch etwas klären muss. Seine große Liebe retten. Eine
Katastrophe verhindern. Den eigenen Mörder finden. Fast
erwartet Eva, ihre Schwester hier zu sehen.
»Gefällt dir nicht, oder?«, erklingt Simons Stimme
hinter ihr. Sie dreht sich zu ihm um, sein Gesichtsausdruck wirkt
entschuldigend. »Ich find’s auch nicht so
toll, aber die Firma hat mir die Wohnung gestellt. Eigentlich mag
ich es gemütlicher.« Er zuckt mit den Schultern. »Aber wenn man so
oft umzieht wie ich, ist es eben praktisch, wenn die persönlichen
Sachen in einen Koffer passen und -«
»Doch, doch«, unterbricht Eva ihn, »es gefällt
mir.« Sie holt tief Luft. »Hier kann man so schön frei atmen.«
Simon lacht.
»Ja, das stimmt allerdings.« Eva lässt ihren Blick
erneut durch den fast leeren Raum schweifen, die einzigen
Farbkleckse sind zwei große Bilder, die an den beiden Stirnseiten
des Lofts hängen, auf dem einen die Jesus-Statue mit weit
ausgebreiteten Armen auf Rio de Janeiros Zuckerhut, auf dem anderen
der Sears Tower in Chicago. »Die gehören auch zur Einrichtung«,
erklärt Simon, der bemerkt hat, dass sie die riesigen Fotografien
betrachtet. »Schätze, sie wollten mir etwas aufhängen, das mir
vertraut ist.«
»Ist doch nett«, meint Eva.
»Ja, aber sobald ich etwas mehr Zeit habe, will ich
mir eine eigene Wohnung suchen und sie dann nach meinem Geschmack
einrichten. Lieber ein Altbau mit hohen Decken und Stuck, so was
mag ich. Und ein bisschen grüner darf die Gegend auch gern sein,
das hier ist ja wie ›Future World‹.«
»Also nicht länger aus dem Koffer leben?«, scherzt
sie.
»Genau«, meint Simon, »ich habe das Angebot,
dauerhaft in Hamburg zu bleiben. Die letzten Jahre waren zwar toll,
ständig in der Welt unterwegs - aber jetzt
möchte ich gern irgendwo länger heimisch werden.« Während er das
sagt, spürt Eva Freude in sich aufsteigen. Sie weiß, dass dieser
Entschluss nichts mit ihr zu tun hat, wie könnte er auch? Und
dennoch…
»Dann kannst du dir«, sagt Eva und deutet auf das
Regal neben dem Sofa, in dem lediglich eine orangefarbene Glasvase
und zwei oder drei Bildbände stehen, »auch ein paar Bücher
zulegen.«
»Bücher, sicher, das fällt dir natürlich als Erstes
auf, ist ja klar!« Er streckt Eva eine Hand entgegen. »Komm«, sagt
er, lenkt sie zu der Wendeltreppe aus Stahl, die neben dem Sears
Tower ins nächste Stockwerk hinaufführt. Dort angelangt stehen sie
auf einer Galerie, die als Schlafzimmer dient. Auch hier alles
weiß, bis auf einen großen Spiegel mit rotem Rand. Und ein Regal
neben dem Bett, in dem tatsächlich einige Bücher stehen.
»Ein paar habe ich schon.« Aber Eva sieht nicht
hinüber zum Regal. Sie blickt in den Spiegel, der sie und Simon
zeigt, wie sie hintereinander stehen, sich einige Sekunden lang
gegenseitig in der Reflexion betrachten. Dann hebt Simon eine Hand,
streicht langsam über Evas Gesicht, wie in Zeitlupe erkundet er
jeden Millimeter davon, wandert hinunter zu ihrem Hals, fährt durch
ihr offenes Haar. Eva schließt die Augen, genießt die Berührung.
Doch dann zieht er seine Hand abrupt zurück, überrascht dreht Eva
sich zu ihm um.
»Tut mir leid«, sagt Simon, »ich weiß auch nicht,
was …« Er rückt zwei Schritte von ihr ab.
»Was weißt du nicht?«
»Ich …«, er sucht nach den richtigen Worten. »Dein
Anblick irritiert mich, du siehst Marlene einfach so
ähnlich.«
»Aber ich heiße Eva.«
»Eben«, erwidert er mit einer Heftigkeit in der
Stimme, die sie unwillkürlich noch einen Schritt zurückweichen
lässt. »Und deshalb … ich weiß nicht, was ich denken soll, ich
…«
»Du warst in meine Schwester verliebt«, stellt Eva
fest. Er muss darauf keine Antwort geben, sie weiß auch so, dass es
stimmt. Weiß doch längst, dass er deshalb zurückgekehrt ist, dass
er nur aus diesem Grund wieder im Buchladen aufgetaucht ist. Aus
einem Anflug von Nostalgie heraus.
»Und Marlene?«, will Eva wissen. »War sie auch in
dich verliebt?«
Simon zögert einen Moment. »Vielleicht, ich weiß es
nicht. Kann sein. Oder, nein«, sagt er, »wahrscheinlich nicht. Sie
war ja verheiratet, das hat sie mir von Anfang an gesagt, es machte
also gar keinen Sinn, darüber nachzudenken, das hätte nie …« Mit
zwei Schritten steht Eva wieder direkt vor Simon, schlingt die Arme
um seinen Nacken.
Ein kurzer Widerstand auf seiner Seite, dann zieht
er sie an sich, küsst sie mit weichen Lippen, wie kleine
Stromschläge fahren seine Berührungen durch ihren Körper. Sie
schnuppert an seiner warmen Haut, saugt seinen Geruch in sich auf,
als würde sie ihn für immer inhalieren wollen. Es erinnert sie an
das Gefühl nach ihrem ersten großen Konzert, als die Aufregung und
das Leben durch sie hindurchströmten. Fast muss sie weinen, so
lange ist es her, dass sie so etwas gespürt hat. Für einen kurzen
Moment schießt ihr der Gedanke durch den Kopf, dass Simons
Zärtlichkeiten vielleicht gar nicht sie, sondern Marlene meinen.
Aber dann ist es ihr egal.
Irgendwann knien sie voreinander auf Simons Bett,
lassen vorsichtig ihre Hände über den Körper des anderen wandern.
Simon legt seine Brille ab, zieht sich den Pullover über den Kopf
und knöpft sein Hemd auf, mehr von seinem Duft breitet sich aus,
Eva fühlt sich umhüllt wie von einem warmen Kokon. Auch sie öffnet
ihre Bluse und ihren BH, dann zieht sie ihn zu sich heran, so fest,
dass sie miteinander verschmelzen, ein irritierend vertrautes
Gefühl. Küssend legen sie sich auf die Seite, betten sich auf die
zwei weißen Kopfkissen, während sie nicht aufhören, sich
gegenseitig zu erkunden. Mit ihrem Zeigefinger zeichnet Eva die
feinen Fältchen um Simons Augen nach, während er eine Hand langsam
über ihren Bauch nach unten wandern lässt. Als er den Bund ihrer
Hose erreicht und fast schüchtern den Verschluss öffnet, hält er
noch einmal inne und sieht sie nachdenklich an.
»Du kennst mich kaum«, stellt er leise fest. Die
letzte Möglichkeit für sie, aufzustehen, sich anzuziehen und zu
gehen. Der letzte Moment, in dem sie vernünftig sein kann, bevor
sie einen Fehler begeht und einen Schritt unternimmt, der nicht
mehr rückgängig gemacht werden kann. »Ich bin ein Fremder für
dich«, spricht Simon weiter, »und trotzdem liegst du hier mit mir.«
Fast
muss sie lachen, als er das sagt. Ein Fremder, ja, und er kann
nicht wissen, dass sie früher schon mit Männern geschlafen hat, von
denen sie weniger wusste als ihren Namen, ihren Beruf und ihre
Adresse.
»Wenn du mich ansiehst«, erklärt sie stattdessen,
»bist du mir nicht fremd.« Jetzt lächelt er.
»Ich weiß, was du meinst.«
Zwei Stunden später liegt Eva noch immer in Simons
Armen, ihren Kopf auf seine nackte Brust gebettet, die sich kaum
merklich hebt und senkt. Zärtlich streichelt er über ihren Rücken,
während Eva durch die großen Fensterscheiben gedankenverloren den
Hafen betrachtet. Simon seufzt.
»Tut es dir leid?«, will Eva wissen, hebt den Kopf
und betrachtet ihn.
»Nein«, sagt er und küsst sie. »Es tut mir nicht
leid. Dafür war es zu schön.« Sie lässt ihren Kopf zurück auf seine
Brust sinken, schmiegt sich wieder ganz nah an ihn heran.
»Erzähl mir von dir«, fordert er sie plötzlich auf,
und sie hört ein Lächeln in seiner Stimme. Wieder blickt Eva
auf.
»Was soll ich da erzählen?«
»Na ja«, erklärt Simon. »Bisher weiß ich nur, dass
du in Gabys Bücherstube arbeitest. Und dass du nicht verheiratet
bist.« Unwillkürlich zieht sich Evas Magen zusammen, ein leichtes
Zittern geht durch ihren Körper. »He«, ihm entgeht es nicht, »was
ist los, habe ich etwas Falsches gesagt?«
»Nein«, versichert sie eilig, »es ist nur … eine
etwas eigenartige Situation.«
»Das stimmt«, gibt er ihr recht. »Aber genau
deshalb will ich ja mehr über dich wissen. Wenn Marlene über dich
gesprochen hat, betonte sie immer nur, wie unterschiedlich ihr
wärt.« Er schiebt sie von sich fort, setzt sich im Bett ein
Stückchen auf und betrachtet sie nachdenklich. »Wer also ist die
Frau, zu der ich mich so hingezogen fühle?«
»Hingezogen?«, fragt Eva, statt zu antworten.
»Vom ersten Moment an«, bestätigt Simon, »als ich
dich im Laden sah.«
»Halb zog sie ihn, halb sank er hin«, rezitiert Eva
aus Goethes Fischer. Dann lachen beide, umarmen sich erneut
und lassen sich ein weiteres Mal hinsinken.