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Er ist doch nicht so klein, wie sie ihn bei der ersten Begegnung wahrgenommen hat. Als Eva um kurz nach zwei die Alte Post in der Schlüterstraße erreicht, sieht sie ihn schon vor dem imposanten Backsteingebäude aus der Zeit der Jahrhundertwende auf und ab gehen. Er wirkt nervös und unruhig, vielleicht ist es aber auch nur, weil ihm kalt ist. Wenigstens aus der Entfernung wirkt er, als wäre er doch mindestens 1,80 Meter groß. Und wieder trägt er den Colani.
Gedankenverloren greift Eva nach ihrer rechten Hand, will an ihrem Ehering spielen. Aber da ist nichts. Sie hat ihn abgezogen und in ihr Portemonnaie gesteckt, bevor sie mit ihrem Mini losgefahren ist. Tatsächlich gefällt ihr jetzt der Gedanke, etwas Verbotenes zu inszenieren. Und zu dieser Inszenierung gehört das Abstreifen des Eherings. Eva blickt auf ihre Hand. Dort, wo sonst der Trauring sitzt, ist die Haut nicht blasser, keine Druckstelle verrät die Fessel, die sie seit Jahren rund um die Uhr trägt. Auch das wäre eine Tätowierung, ein Mal, das sich nicht verbergen ließe.
Gabriele hat sie erzählt, sie wolle Büromaterial besorgen und noch ein paar andere Dinge erledigen. Sie weiß, dass sie ihrer Chefin vermutlich die Wahrheit hätte sagen können. Aber sie wollte es nicht. Das hier ist ihr Geheimnis, geht nur sie etwas an. Ihr Handy hat sie ausgeschaltet, sie will nicht riskieren, dass Tobias sie anruft. Obwohl sie sich in den vergangenen Wochen sehr zusammengerissen hat, neigt er immer noch dazu, sie hin und wieder zu kontrollieren.
Jetzt hebt Simon den Kopf und erkennt sie. Ein kurzes Winken, nicht zaghaft, aber auch nicht überschwänglich.
»Da bin ich«, sagt Eva, als sie wenige Augenblicke später vor ihm steht.
»Ja.« Er lächelt. »Da bist du.« Ein kurzes Zögern, dann schüttelt er ihre Hand. Etwas formell, denkt sie. Aber andererseits ist er ja auch nicht mehr als ein Fremder. Auch, wenn es sich anders anfühlt. Ein Blick in seine blassblauen Augen reicht, wieder diese eigenartige Nähe herzustellen.
»Sollen wir einen Spaziergang machen?«, fragt er.
»Gern.«
»Zur Alster ist es nicht weit«, erklärt er, als wüsste sie das nicht. Sie gehen los. Schweigend gehen sie nebeneinander her. Er im dunkelblauen Colani. Sie auf rosafarbener Watte.
 
»Tut mir leid, dass ich damals so einfach verschwunden bin«, fängt Simon an, als sie schließlich auf einer Bank an der Alster sitzen. »Ich war einfach total überrascht, dich im Laden zu sehen, das war wie ein Schock für mich, verstehst du?«
»Woher kanntest du meine Schwester?«
»Natürlich aus dem Buchladen«, erklärt er und sieht hinüber zu den Villen, die auf der anderen Seite des Ufers stehen. »Ich habe mal ganz in der Nähe gewohnt und bin durch Zufall irgendwann in den Laden gestolpert. Danach war ich öfter da und habe mich von Marlene beraten lassen.«
»Hm.« Mehr sagt sie nicht. Beraten lassen. Das klingt … unpassend. Auch Simon schweigt; den Blick nachdenklich auf die Büsche am Ufer gerichtet, hängt er seinen Gedanken nach. »Aber du hast gewusst, dass sie tot ist?« Simon nickt.
»Ja.« Er steht auf und schlendert weiter, Eva folgt ihm, und als sie neben ihm ist, wirkt Simon wieder deutlich kleiner als noch Minuten zuvor, die steile Falte zwischen seinen Augenbrauen ist zurück. »Ich war im Geschäft, um nach Marlene zu fragen. Da habe ich es dann erfahren, ihre Chefin hat es mir erzählt.«
»Gabriele«, stellt Eva fest.
»Ja, ich glaube, so heißt sie.« Er mustert Eva von der Seite. »Du hast dann den Job von Marlene übernommen?«
»Hm«, erwidert sie unbestimmt. »Und du? Du wohnst jetzt nicht mehr in der Nähe?«
»Nein«, sagt er und geht nicht darauf ein, dass sie seine Frage nicht beantwortet hat. »Ich bin Architekt«, erklärt er, »und war die letzten Jahre im Ausland.«
»Im Ausland?«
»Erst ein Projekt in Chicago, dann war ich ein Jahr in Hongkong, anschließend in Brasilien. Vor zwei Monaten bin ich zurückgekehrt, weil ich hier wieder einen Auftrag habe. Eine große Wohnanlage im Norden.« Während er spricht, unterstreicht er seine Worte mit Gesten. Sie betrachtet seine Hände, die Gebäude in die Luft zeichnen.
Gepflegte schmale Hände. Architekt also, denkt sie. Und wünscht sich, er würde diese Hände an sie legen und aus ihr auch ein Gebäude machen. Ein großes, massives Gebäude, von meterdicken Stahlträgern durchzogen. Etwas, das nicht einstürzen kann, das den Erschütterungen des Lebens trotzt.
»… in einem Monat beginnen wir mit dem Bau …«, fliegen die Worte an ihr vorüber. Und sie kann an nichts anderes mehr denken, als dass sie so gern dieses massive Gebäude wäre. Unmerklich nähert sie sich ihm immer mehr, bis sie ganz dicht neben ihm geht, ihn fast schon spüren kann. Sein Aftershave gefällt ihr, sie versucht, den Duft genau zu bestimmen, was ihr aber nicht gelingt. Sie wüsste es gern, dann würde sie sich einen Flakon davon kaufen und ihn zu dem Buch in ihre Nachttischschublade legen. Oder sie würde ihn Tobias schenken und hätte Spaß daran, dass er nicht weiß, zu wem dieser Duft gehört. Noch ein Geheimnis nur für sie allein.
»Als ich dich«, sagt er nun, »in dem Geschäft gesehen habe, dachte ich wirklich für einen kurzen Moment, du wärst Marlene. Obwohl ich ja wusste, dass das gar nicht möglich ist und mir auch gleich irgendetwas komisch vorkam.«
»Komisch?« Sie muss lächeln.
»Ja«, er zuckt mit den Schultern. »Aber dann dachte ich, dass es ja schon ein paar Jahre her ist, seit ich sie das letzte Mal gesehen habe.«
»Natürlich.«
»Ich mochte sie«, sagt Simon. »Ich habe gern mit ihr über Bücher geredet, sie war echt unglaublich belesen und hat immer genau gewusst, was mir gefällt.«
Eva nickt. »Als wir noch klein waren«, erzählt sie, »hat Marlene mir immer abends etwas vorgelesen. Und wenn es hieß ›Licht aus!‹ - dann haben wir heimlich weitergemacht, mit einer Taschenlampe.« Für einen kurzen Moment flackert das Bild in ihrer Erinnerung auf, Barbro und Ylva-Li kichernd unter ihren Bettdecken.
Irgendwann bleiben sie wieder stehen, blicken erneut aufs Wasser.
»Ich kann es immer noch nicht glauben«, sagt Simon, »dass sie wirklich tot ist.«
»So etwas ist eben schwer zu begreifen. Fast unmöglich, so unwirklich kommt es mir oft vor. Wie ein schlechter Traum, aus dem man irgendwann schweißgebadet aufwacht. Aber so sehr ich es mir auch wünsche, ich wache einfach nicht auf.«
»Es soll Selbstmord gewesen sein, oder?«
Eva nickt. »Zu diesem Schluss ist jedenfalls die Polizei gelangt, obwohl es nicht bewiesen werden konnte.«
»Und«, fragt er zögernd weiter, »weiß man, warum sie es getan hat?«
»Nein«, erklärt sie, »das weiß man nicht.«
»Wieso geht die Polizei dann davon aus?«
»Keine Ahnung.« Eva seufzt. »Vielleicht wollten sie nur schnell die Akte schließen.«
»Glaubst du das auch? Dass sie sich umgebracht hat, meine ich.«
»Ich«, setzt sie an, unterbricht sich aber, weil sie nicht weiß, was sie sagen soll. Sie will nicht von dem Anruf erzählen, den sie verpasst hat, will am liebsten gar nicht darüber sprechen, sondern einfach nur mit Simon diesen Spaziergang machen und nicht mehr in der Vergangenheit wühlen. Sie seufzt.
»Du magst nicht darüber reden, oder?«, fragt Simon, und sie ist überrascht, dass er ihre Abwehrhaltung so deutlich spürt.
»Nein«, antwortet sie, »ich denke, das will ich nicht.« Und außerdem, fügt sie in Gedanken hinzu, glaube ich nicht, dass meine Schwester dich nur bei der Lektüreauswahl beraten hat. Ich kann es sehen, dass da mehr gewesen sein muss. Warum sonst sollte er wieder in die Buchhandlung gekommen sein, wenn er doch wusste, dass er Marlene dort ohnehin nicht finden würde. Aus welchem Grund, außer aus dem Verlangen heraus, einer Erinnerung nachzuspüren. So, wie dieses Verlangen Eva vor einiger Zeit zur U-Bahn-Station geführt hat. Aber sie fragt Simon nicht danach, respektiert, dass das offenbar etwas ist, worüber er nicht reden möchte.
»Es heißt ja«, Simon bleibt stehen, dreht sich zu ihr um und betrachtet nachdenklich ihr Gesicht, »dass Zwillinge eine ganz besondere Verbindung miteinander haben. Wenn dem einen etwas passiert, spürt es der andere auch.« Keine Frage, eine Feststellung. Eva wünscht, sie könnte ihm jetzt recht geben, aber das kann sie nicht. Bis zu dem Moment, als Tobias vor ihrer Tür stand und ihr von Marlenes Tod berichtete, hatte sie keine Ahnung, dass ihre Schwester, ihr anderes Ich, nicht mehr da war. Die unsichtbare Verbindung, die sie als Kinder miteinander hatten, zu diesem Zeitpunkt war sie längst durchtrennt gewesen. Neben Tobias ist dieser Mann, mit dem Eva gerade an der Alster steht, die einzige Verbindung, die es zwischen ihr und Marlene noch gibt.
Wortlos nimmt Eva Simons Hand, legt sie an ihre Wange. Kurz wirkt er überrascht, lässt aber die Hand dort verweilen. Ihr ist, als könne sie ganz schwach seinen Herzschlag spüren, wie er durch seine feingliedrige Hand pulsiert. Diese warme Architektenhand.
»Du hast dieselben unglaublichen Augen wie s ie«, sagt Simon leise.
»Ich weiß.«
Jetzt nimmt er ihr Gesicht in beide Hände, streicht ihr zärtlich über die Wangen, lässt dann einen Daumen über ihre linke Schläfe bis hoch zu ihrer Augenbraue wandern, dahin, wo die Narbe ist. Er beugt sich unmerklich vor, und sie denkt, dass er sie küssen wird.
»Für ihren Mann muss das auch ein Schock gewesen sein«, sagt er plötzlich und hört auf, sie zu streicheln. Eva verkrampft, der kurze Moment von Innigkeit zwischen ihnen verfliegt so schnell, wie er gekommen ist. Weshalb fragt er ausgerechnet in diesem Augenblick nach Marlenes Mann?
»Hm«, murmelt Eva, »ja, das war es wohl. Für uns alle war es ein Schock.«
»Und wie geht es«, fragt Simon weiter, »wie geht es … Wie hieß er noch?«
»Tobias«, antwortet sie unwillig.
»Tobias, ja, richtig. Wie ist er damit klargekommen?«
»Schwer zu sagen«, sagt Eva. »Wir standen uns nie sonderlich nahe.« Das ist nicht einmal gelogen, denkt sie, so richtig gelogen ist das nicht. »Ich glaube, er hat es einigermaßen verwunden, wir haben kaum noch Kontakt miteinander.« Was soll sie auch sagen? Kein Problem, er ist jetzt mit mir verheiratet, wir haben uns arrangiert, haben Mittel und Wege gefunden, dieses zerbröckelnde, fragile Leben irgendwie zusammenzuhalten. Und es wäre uns auch fast gelungen, wäre unser Sohn Lukas nicht tot zur Welt gekommen.
»Ich muss jetzt los«, sagt Simon unvermittelt. »Noch einmal ins Büro und dann noch ein paar Sachen einkaufen.«
»Gut«, meint Eva und ist enttäuscht. Sie will nicht, dass er geht, viel lieber möchte sie, dass er ihr Gesicht noch einmal zwischen seine Hände nimmt, sie streichelt, vielleicht sogar küsst. Fast ist sie versucht, ihn einfach darum zu bitten, ihr Gefühl sagt ihr sogar, dass er es wahrscheinlich tun würde. Aber sie schweigt. Beim nächsten Mal, denkt sie und hofft, dass es ein nächstes Mal geben wird.
Langsam gehen sie zurück Richtung Schlüterstraße. Passanten kommen ihnen entgegen, Jogger, Fahrradfahrer, Studenten, die zur nahe gelegenen Universität eilen, junge Pärchen. Wahrscheinlich sehen wir auch wie ein Paar aus, denkt Eva. Die Vorstellung gefällt ihr. »Die passen gut zusammen«, findet vielleicht die ältere Dame, die ihnen auf Höhe des US-Konsulats begegnet.
Eva erinnert sich, wie sie vor ein paar Monaten mit Tobias an der Alster spazieren ging. Sie hatte ihn in der Mittagspause bei seinem Büro abgeholt, um mit ihm in einem neuen Babygeschäft in Winterhude einen Kinderwagen auszusuchen. Anschließend gingen sie mit einem roten Modell von Bugaboo nach Hause, Tobias schob den Wagen so stolz vor sich her, als läge bereits ein Baby darin.
Nur wenige Wochen später musste Tobias den Wagen bei einem Recyclinghof höchstpersönlich in die Müllpresse werfen, weil Eva es verlangte. Zusammen mit all den anderen Dingen, die sie schon für Lukas gekauft hatten, den Stramplern, der Wärmelampe, Wickeltischauflage, Babyschale, Tragetuch, Windeleimer …
»Warum können wir die Sachen nicht behalten?« Tobias hatte mehrere Male versucht, Eva davon zu überzeugen, dass es Unsinn wäre, alles wegzuwerfen.
»Weil sie für Lukas bestimmt waren und für niemanden sonst«, insistierte sie stets, und Tobias hatte nur erwidert: »Na gut, wie du willst. Dann kaufen wir eben alles neu, wenn es wieder so weit ist.« Dann, im aufgesetzt aufmunternden Tonfall: »Vielleicht wird’s ja beim nächsten Mal auch ein Mädchen, dann brauchen wir sowieso Sachen in Rosa und nicht in Blau.« Er wollte sie an sich ziehen bei seinen Worten, aber Eva stieß ihn davon, wütend darüber, dass er es wagte, jetzt schon von einem »nächsten Mal« so reden, als ginge es darum, ein altes Möbelstück durch ein neues zu ersetzen.
»Ist alles in Ordnung?« Eva zuckt zusammen, als Simon sie aus ihren Gedanken reißt. Er ist stehen geblieben und mustert sie besorgt.
»Oh«, schnell wischt sie sich mit einer Hand übers Gesicht. »Es ist nur so kalt«, erklärt Eva, »da tränen meine Augen immer leicht.«
Er lächelt sie an, und sie erwidert die Geste. Nach zehn Minuten erreichen sie die Stelle, an der Eva ihren schwarzen Mini geparkt hat.
»Den gleichen Wagen fuhr deine Schwester auch«, ruft Simon überrascht aus. Dann: »Tut mir leid, das war jetzt dumm von mir, das weißt du ja sicher selbst.«
»Ja, natürlich.« Und sie weiß auch, dass es nicht nur der gleiche, sondern sogar derselbe ist. Kurz nachdem die ersten Modelle auf den Markt gekommen waren, schenkte Tobias den Mini Marlene, die ihr kleines »Autochen« vom ersten Moment an liebte. Genau deswegen fährt Eva ihn heute noch immer. Selbst als sie im Frühjahr wegen Lukas einen größeren Wagen brauchten, wehrte sie sich standhaft gegen einen Verkauf, obwohl Tobias der Meinung war, das Fahrzeug sei doch mittlerweile »ein wenig alt«. Sie setzte sich durch, der Porsche kam weg, Marlenes Mini blieb.
»Das war ein schöner Spaziergang«, sagt Simon jetzt. Er reicht ihr die Hand, doch dann beugt er sich zu ihr und gibt ihr einen leichten Kuss auf die Wange.
»Ja, finde ich auch.« Dann fragt sie: »Können wir uns wiedersehen?«
»Klar. Sicher können wir das.«