18
»Hörst du mich, Tara?«, rief Lyle vor der geschlossenen Tür. »Ein Tausch! Dein Mörder gegen Gia und Charlie!«
Es kann nicht zu spät sein, dachte Jack und wehrte sich dagegen, das Undenkbare zu denken, während er verzweifelt auf ein Zeichen Taras wartete, dass sie zu dem Tauschhandel bereit war. Es darf nicht zu spät sein!
Wenn seine Stimme dazu in der Lage gewesen wäre, hätte er brüllen und mit Tara verhandeln können.
Er und Lyle standen in der Garage und stützten Bellitto zwischen ihnen, so dass er halbwegs aufrecht stand. Sie hatten den Crown Vic rückwärts in die Garage gesetzt, hatten die Garagentore geschlossen und den Mann aus dem Kofferraum gehievt. Jack hatte seine Füße befreit, die Hände jedoch gefesselt und den Mund zugeklebt gelassen. Der Mistkerl war zwar wach, wirkte jedoch leicht verängstigt und schien noch nicht hundertprozentig in die Gegenwart zurückgekehrt zu sein.
Jack selbst fühlte sich ebenfalls alles andere als fit. Er war geschwächt, angeschlagen. In seinem Kopf pulste noch immer ein dumpfes Pochen. Sein Hals war geschwollen. Nachdem sein Adrenalinpegel schlagartig abgesunken war, quälte ihn auch noch ein saurer Geschmack im Mund, der schubweise aus seinem Magen in der Kehle stieg. Auf dem Weg von Manhattan hierher hatte Lyle ihm empfohlen, mal in den Spiegel zu schauen. Er wünschte, er hätte es nicht getan. Seine Kehle war durch ringförmige Blutergüsse, die sich langsam violett färbten, verunstaltet, das Weiße seines linken Auges war dank einer geplatzten Ader hellrot angelaufen, und sein Gesicht war von zahllosen roten Flecken übersät. Er sah aus, als wäre er bei dem Versuch gescheitert, sich selbst zu erhängen.
»Testen Sie mal die Tür«, bat Jack. Seine Stimme war ein wenig klarer geworden, aber nicht sehr viel. »Vielleicht ist die unsichtbare Wand mittlerweile verschwunden.«
Jack behielt Bellitto fest im Griff, während Lyle zur Tür ging, nach dem Knauf fassen wollte, jedoch ein Stück davor aufgehalten wurde.
Er wandte sich zu Jack um. »Sie ist noch vorhanden. Ich versuche noch mal, nach dem Mädchen zu rufen.«
Lyle hatte bereits zweimal den Tauschhandel vorgeschlagen. Jack wusste nicht, was er mit einem dritten Versuch erreichen wollte. Wenn sich Tara in der Nähe aufhielt, hätte sie das Angebot schon beim ersten Mal hören müssen.
Die Verzweiflung, die ihn nach und nach erfüllte, wirkte wie die eisige Kälte eines arktischen Winters, die seinen Körper mehr und mehr lähmte.
Gia … Er konnte und durfte sie nicht verlieren … Aber was könnte er noch unternehmen?
Die Tür schwang auf.
»Ja!«, rief Lyle und kehrte sofort dorthin zurück. Doch als er versuchte, über die Schwelle zu treten, kam er nicht weiter. Mit verwirrter Miene drehte er sich zu Jack um. »Der Weg ist noch immer versperrt!«
»Vielleicht nur für uns«, sagte Jack und hoffte, dass er mit seiner Vermutung Recht hatte. »Möglicherweise kann jemand anderer durch diese Tür gehen und wird auf der anderen Seite mit offenen Armen empfangen.«
Lyle nickte. »Ein Versuch kann nicht schaden.«
Bellitto wehrte sich. Er warf sich hin und her, so gut er konnte, trat mit den Füßen aus und gab hinter dem Klebeband entsetzte flehende Laute von sich.
»Na, wie fühlen Sie sich, Eli?«, stieß Jack zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, während Lyle den anderen Arm ergriff und sie ihn gemeinsam in Richtung Tür hinter sich herzogen. »Hilflos? Ängstlich, so dass Sie sich fast in die Hosen machen? Ist niemand da, den Sie um Hilfe bitten könnten? Gibt es keine Hoffnung mehr für Sie? Gut. Das ist nur ein kleiner Eindruck von dem, was diese Kinder empfanden, als Sie und Minkin sie in Ihren Wagen gezerrt haben. Gefällt es Ihnen?« Bellittos weit aufgerissene, vor Panik flackernde Augen gaben eine eindeutige Antwort. »Das habe ich auch nicht erwartet. Aber ob dieser Tauschhandel zustande kommt oder nicht, es ist für Sie absolut ohne Bedeutung. Egal, was geschieht, Sie erleben den morgigen Tag nicht mehr.«
»Damit habe ich ein Problem«, meinte Lyle, während sie sich der Tür näherten. »Was ist, wenn er nicht gestoppt wird und weitergehen kann? Wir sind uns mit Tara noch nicht richtig einig geworden. Sie könnte uns austricksen oder …«
Jack wusste, worauf er hinauswollte: Es könnte längst zu spät sein.
»Mir gefällt es auch nicht«, gab Jack zu. »Aber wir müssen das Risiko eingehen. Sie hat alle Trümpfe in der Hand.«
Und wenn es nicht so lief, wie er es sich erhoffte? Was dann? Seine Möglichkeiten waren erschöpft.
Er schaute sich suchend um. Die indische Frau, die immer alles zu wissen schien – wo war sie, wenn er sie am dringendsten brauchte? Seit er und Lyle nach Manhattan gestartet waren, hatte er sie nicht mehr gesehen.
Bellittos Beine gaben nach, als sie die Türöffnung erreichten. Er sackte zwischen ihnen zusammen.
»Passiver Widerstand wird Ihnen nichts nützen, Eli.« Jack sah Lyle an. »Packen Sie ihn hinten am Gürtel.«
Lyle befolgte den Vorschlag, und gemeinsam verhalfen sie ihrer lebendigen Last auf altbewährte Art zu einem beschleunigten Fortkommen.
Jack rechnete schon fast damit, dass er wieder zurückgeworfen würde, doch er segelte tatsächlich über die Türschwelle und landete bäuchlings in der Diele.
»Sie hatten Recht!«, rief Lyle.
Jack versuchte, ihrem Wurfgeschoss zu folgen, traf jedoch auf den gleichen Widerstand wie vorher schon. Er stand da und stemmte sich erfolglos gegen die Barriere aus undurchdringlicher Luft, die ihm den Weg versperrte.
Bitte, Tara, dachte er. Verschaukle uns nicht. Wir haben unseren Teil der Abmachung eingehalten. Du hast jetzt den Kerl, der dich ermordet hat, in deiner Gewalt. Jetzt bist du an der Reihe.
Jack konnte verfolgen, wie Bellitto auf der anderen Seite der Schranke mühsam auf die Füße kam. Das Klebeband um seine Handgelenke hatte sich gelöst. Er kämpfte hektisch dagegen, zerrte die Arme hinter seinem Rücken hin und her, bis seine Hände vollends freikamen. Dann entfernte er das Klebeband aus seinem Gesicht und machte einen wilden Satz in Richtung Tür und Jack. Dieser ballte die Hand zur Faust und hielt sich bereit, den Kerl gleich wieder zurückzuschicken, doch diese Mühe blieb ihm erspart. Bellitto prallte von der anderen Seite gegen die Barriere und taumelte zurück.
In diesem Augenblick erschien das kleine Mädchen hinter ihm. Jack hatte ihr Bild nur einmal auf der Website im Internet gesehen, doch er erkannte sie auf Anhieb.
Tara Portman.
Jack sah, wie sich ihr Mund bewegte, er hörte jedoch nichts. Bellitto wirbelte zu ihr herum, dann wich er zurück. Jack schloss aus Bellittos entsetzter Miene, dass er sie ebenfalls erkannte. Er warf sich gegen die Tür und wurde wieder einige Zentimeter vor Jack aufgehalten. Sein Mund arbeitete, schrie zweifellos, während seine Finger versuchten, die undurchdringliche Luft vor ihm zu zerreißen. Jack hörte nichts und empfand noch weniger.
»Manchmal«, flüsterte er, »passiert es, dass man zurückbekommt, was man ausgeteilt hat. Es passiert nur selten ganz von selbst, aber manchmal können wir einiges dazu tun. Deshalb bin ich hier.«
Tara, die hinter ihm stand, lächelte geradezu selig, dann verschwand sie.
Als Nächstes sah Jack Bellitto nach hinten kippen. Er ruderte mit den Armen, als könnte er den Sturz noch aufhalten, doch er landete auf dem Rücken und wurde von einer Macht weggeschleift, die für Jack unsichtbar blieb. Er rutschte um sich schlagend und tretend die Diele hinunter und verschwand außer Sicht.
Jack und Lyle lehnten sich an die Barriere und warteten.
»Komm schon, Tara«, flüsterte Jack. »Wir haben unseren Teil geleistet. Lass uns nicht im Stich. Wir …«
Dann bemerkte Jack eine Bewegung in dem Gang. Etwas kam auf sie zu. Bellitto? Wie hatte er sich befreien können?
Nein. Jemand anderer. Jack vergaß alle Schmerzen und Verzweiflung, als er Gia erkannte – allerdings in einem Zustand, in dem er sie noch nie gesehen hatte. Haare, Kleider und Hände waren völlig verdreckt, das Gesicht von Tränen und Erde verschmiert. In ihren Augen lag ein fast irrer Glanz, während sie auf ihn zustolperte, die Arme ausbreitete und sofort zu rennen begann, als sie ihn erblickte.
Tu’s nicht, wollte er ihr zurufen. Sie könnte mit voller Wucht gegen die Barriere prallen und sich unter Umständen verletzen.
Aber sie setzte über die Schwelle und flog in seine Arme, und dann hatte er sie, hielt sie fest, schlang die Arme um sie, wirbelte sie herum, ihre abgehackten Schluchzer spielten eine wahre Himmelsmusik in seinen Ohren, und er selbst schien unfähig, auch nur einen Laut hervorzubringen, so dick war der Kloß in seinem Hals.
Sie klammerten sich aneinander, Gia mit angewinkelten Beinen, so dass ihre Füße den Boden nicht mehr berührten. So wären sie wohl noch viel länger stehen geblieben, wenn Lyle sie nicht mit einer Frage aus ihrer Verzückung gerissen hätte.
»Wo ist Charlie? Wo ist mein Bruder?«
O nein, dachte Jack, ließ den Blick umherschweifen und sah nur sie drei. Sag bloß nicht … Bitte nicht Charlie …
Gia schien in sich zusammenzufallen, dann streckte sie eine Hand nach Lyle aus. Unterbrochen von heftigem Schluchzen berichtete sie, wie sie und Charlie in den Erdschacht gestürzt waren, wie dieser plötzlich eingestürzt war und wie Charlie sich geopfert hatte, um sie zu retten.
»Charlie?«, flüsterte Lyle kraftlos, das Gesicht ein einziger Schmerz. »Charlie ist tot?«
Seine Gesichtszüge verhärteten sich, wurden kantig, während Tränen an seinen Wangen herabrannen. Er stolperte zur Tür, aber auch jetzt wurde ihm ein Betreten des Hauses verwehrt. Er lehnte sich gegen das unsichtbare Hindernis und trommelte mit den Fäusten gegen diese undurchdringliche Wand aus Luft. Dabei weinte er wie ein kleines Kind und rief immer wieder den Namen seines Bruders.