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Gia hört die Stimmen, kaum dass sie durch die Tür getreten ist. Kinderstimmen, schluchzend … verzweifelte Laute, die ihr das Herz zerreißen. Sie erkennt das Wartezimmer des Menelaus Manor, die Stimmen aber dringen aus dem zweiten Stock zu ihr herab. Sie eilt die Treppe hinauf und kommt in einen langen Flur, der mit Türen gesäumt ist. Insgesamt acht. Die Stimmen sind hier lauter, und ihre Lautstärke nimmt zu, während Gia durch den Flur geht. Bis auf eine stehen alle Türen offen, und während sie daran vorbeigeht, sieht sie jedes Mal ein Kind, einen Jungen oder ein Mädchen, das allein in der Mitte eines leeren Zimmers steht und weint. Einige rufen nach ihren Mamis. Gia hat das Gefühl, ihr zerspringe die Kehle, während sie versucht, die Zimmer zu betreten, um die Kinder zu trösten. Aber sie kann nicht stehen bleiben. Sie muss weitergehen bis zur geschlossenen Tür am Ende des Flurs. Sie verharrt davor, greift nach dem Türknauf, doch ehe sie ihn berührt, fliegt die Tür auf, und da ist Tara Portman, der Vorderteil ihrer Bluse mit Blut getränkt. Sie hat die Augen vor Angst weit aufgerissen und schreit: »Hilfe! Hilfe! Jemand ist verletzt! Du musst herkommen! Komm endlich! JETZT!«
Gia schreckte aus dem Schlaf hoch. Das Wort JETZT! hallte durch ihren Geist. Sie sah sich im dunklen Schlafzimmer um. Durchs Fenster konnte sie erkennen, dass die Sonne untergegangen war und die Dämmerung rasch zunahm.
Bloß ein Nickerchen. Sie hatte in der vergangenen Nacht nicht gut geschlafen. Immer wieder war sie aus allen möglichen Träumen hochgeschreckt, hatte sich aber kaum an irgendwelche Einzelheiten erinnern können, außer dass sie teilweise beängstigend waren. Schwanger zu sein, trug sicherlich zu ihrer allgemeinen Erschöpfung bei. Aber so müde sie sich auch den ganzen Nachmittag über gefühlt hatte, so hatte sie sich trotzdem gegen Jacks Empfehlung gewehrt, ein Schläfchen zu machen, bis sie kaum noch die Augen offen halten konnte. Schließlich hatte sie sich kurz aufs Bett gelegt, nur ein paar Minuten lang … Sie hatte soeben schon wieder einen schlimmen Traum gehabt. Was war darin passiert? Sie schien sich zu erinnern, dass es irgendetwas mit dem Menelaus Manor zu tun gehabt hatte …
Gia sprang auf, als der Traum plötzlich wieder vor ihrem geistigen Auge erschien: Taras vor Grauen verzerrtes Gesicht, während sie schrie, dass jemand schrecklich verletzt würde und dass Gia zu ihr kommen müsste. Jetzt!
»Jack!«
Ein eisiger Schreck fuhr durch ihre Brust, während sie durch das dunkle Haus nach unten in die Küche rannte, wo sie Jacks Handynummer mit einem Magneten an die Kühlschranktür geheftet hatte. Sie fand den Zettel, wählte die Nummer und erfuhr von einer mechanischen Stimme, dass er im Augenblick nicht zu erreichen sei. Sie knipste die Küchenbeleuchtung an, ergriff ihre Handtasche und kippte ihren Inhalt auf die Frühstücksbar. Dann wühlte sie in dem Durcheinander herum, bis sie die Ifasen-Broschüre fand, die sie im Menelaus Manor eingesteckt hatte. Sie wählte die dort angegebene Telefonnummer und wartete mehrere Rufzeichen lang, bis sich der Anrufbeantworter der Kentons einschaltete. Dann legte sie auf, ohne eine Nachricht zu hinterlassen.
Gia hatte keine Ahnung, ob tatsächlich jemand verletzt war oder ob der Traum ohne Bedeutung war. Doch sie hatte das schreckliche Gefühl, irgendetwas wäre nicht in Ordnung. Was immer der Fall sein mochte, sie konnte unmöglich tatenlos dasitzen. Sie wusste, dass sie versprochen hatte, sich von dem Haus fern zu halten, aber wenn Jack etwas zugestoßen war, dann wollte sie dort sein. Wenn nicht, dann würde sie sich nur kurze Zeit dort aufhalten und wieder nach Hause zurückkehren. Ganz gleich, was sie versprochen hatte, sie würde sich auf den Weg zum Menelaus Manor machen. Und zwar auf der Stelle.
Sie nahm den Telefonhörer wieder ab und bestellte ein Taxi.