8

 

»Ich kann noch immer nicht glauben, dass du das getan hast«, sagte Jack.

Gia trank ihren grünen Tee und versuchte, seinen Gesichtsausdruck zu deuten. Schock? Entsetzen? Zorn? Angst? Vielleicht eine Mischung aus allem.

»Mir geht es gut, Jack. Außerdem hatte ich kaum eine andere Wahl.«

»Natürlich hattest du eine Wahl.« Er hatte sich nach seinem anfänglichen Zornesausbruch beruhigt und wanderte jetzt durch die Küche, indem er, die Hände in seinen Jeanstaschen vergraben, den Frühstückstisch umkreiste. Das Bier, das in einer stetig wachsenden Pfütze Kondenswasser auf dem Tisch stand, hatte er kaum angerührt. »Du hättest dir doch selbst sagen können, dass der Solobesuch bei einem möglicherweise geistesgestörten Vater eines ermordeten Mädchens, ohne jemanden davon zu informieren, eine ziemlich dämliche Idee ist. Aber damit sollte ich mich wahrscheinlich gar nicht aufhalten.«

»Ich musste es wissen, Jack. Es hätte mich um den Verstand gebracht, wenn ich nicht versucht hätte, mehr über sie in Erfahrung zu bringen.«

»Du hättest mir verraten können, was du vorhattest.«

»Dann hättest du wahrscheinlich einen Zwergenaufstand veranstaltet, so wie du es jetzt gerade tust.«

»Ich veranstalte keine Zwergenaufstände. Ich hätte versucht, es dir auszureden, und wenn du trotzdem darauf bestanden hättest, wäre ich als Leibwächter mitgegangen.«

»Wem willst du etwas vormachen? Seit ich dir erzählt habe, dass ich schwanger bin, spielst du den Superbeschützer und hättest mich wahrscheinlich in den Wandschrank gesperrt, um dich allein auf den Weg zu machen.«

»Vielleicht spiele ich nur deshalb den Superbeschützer, weil du plötzlich als Handywoman Jane auftrittst.«

Das alles führte zu nichts. Ein Schluck von ihrem Tee – viel zu süß. Sie hatte es mit dem Honig ein wenig übertrieben.

»Willst du nicht hören, was ich erfahren habe?«, fragte sie.

»Doch, das will ich.« Er griff nach seinem Bierglas und trank ein paar Schlucke. »Ich wünschte nur, du hättest es ein wenig anders in Erfahrung gebracht.« Er ließ sich auf der Tischkante nieder. »Dann erzähl mal. Bitte.«

Gia berichtete ihm von Joe Portman, von Taras Mutter und ihrem Bruder und davon, was mit der Familie seit der Entführung geschehen war. Sie erzählte vom Tag ihres Verschwindens, dass sie genau dieselben Kleider getragen und wie sie den Pferdestall verlassen hatte, um sich eine Brezel zu kaufen. Und nicht mehr zurückgekommen war.

»Hat sie das jeden Donnerstag getan?«, fragte Jack.

Gia nickte. »Warum? Ist das wichtig?«

»Das könnte es sein. Es bedeutet, dass sie einem bestimmten Verhaltensmuster gefolgt ist. Das wiederum sagt mir, dass es kein zufälliges Kidnapping war. Jemand hat sie beobachtet. Sie wurde regelrecht ausgesucht.«

Gia fröstelte. Ein unschuldiges Kind, das jeden Donnerstag den gleichen Weg nimmt, um sich einen Imbiss zu kaufen, und nicht merkt, dass es beobachtet wird. Wie oft hatte ihr Entführer sie auf ihrem Weg verfolgt, ehe er sich entschloss zuzuschlagen?

Sie massierte ihre Arme, auf denen sich plötzlich eine Gänsehaut gebildet hatte. »Das ist gespenstisch.«

»Weil du es mit Monstren zu tun hast. Genauso wie …« Seine Stimme versiegte, während er die Stirn runzelte.

»Was?«

»Genauso wie Bellitto und sein Kumpan. Ich meine den Jungen, den sie neulich gekidnappt haben …«

»Duc.«

»Richtig. Auch er hatte ein bestimmtes Verhaltensmuster, zumindest laut seiner Mutter. Er ist jeden Abend um die gleiche Zeit ein Eis kaufen gegangen. Der Junge befand sich bereits im Laden, als Bellitto und Minkin eintrafen und draußen parkten. Sie wussten, dass er herauskommen würde. Sie haben auf ihn gewartet.«

»Genauso wie jemand bei den Ställen auf Tara und den Brezel-Karren gewartet hat. Auch ein Verhaltensmuster?«

Jack starrte sie an. »Du meinst, es ist ein Verhaltensmuster der Entführer, dass sie nach Opfern mit einem eigenen Verhaltensmuster Ausschau halten?«

»Meinst du nicht, dass dieser Bellitto auch bei Tara seine Finger im Spiel gehabt haben könnte?«

»Das wäre ein geradezu fantastischer Zufall, wenn es so wäre.«

»Aber …«

»Ja, ich weiß.« Jack biss die Zähne zusammen. »Keine Zufälle mehr.«

»Ich begreife noch immer nicht, wie so etwas möglich sein kann.«

»Ich auch nicht. Seien wir doch ehrlich: Nur weil eine verrückte alte Frau es gesagt hast, muss es doch noch lange nicht zutreffen.« Er konnte noch immer die Stimme der Frau mit ihrem russischen Akzent hören, während er sich über Kates Grab beugte: Es ist kein Zufall. Es gibt keine Zufälle mehr für Sie. Er schüttelte den Kopf, um die Erinnerung zu verscheuchen. »Was hast du sonst noch erfahren?«

Gia schnippte mit den Fingern. »Oh, ich erfuhr zum Beispiel, dass der Song aus den sechziger Jahren tatsächlich aus den achtziger Jahren stammte. Tiffany …«

»Richtig! Tiffany hat I think we’re alone now gecovert! Wie konnte ich das nur vergessen? Vor allem nachdem sie im Playboy war.«

»War sie das? Wann?«

»Keine Ahnung. Ich hab es irgendwann mal im Radio gehört.«

»Nun ja, wie ihr Vater meint, hat Tara dieses Lied ständig gesungen. Aber weißt du, was ich erst recht unheimlich fand? Sie war ein Fan von Roger Rabbit.«

Jack wurde zwar nicht schneeweiß, aber seine Sonnenbräune verblasste schlagartig um drei Stufen.

»Himmelherrgott!«

»Ist etwas nicht in Ordnung?«

Er erzählte ihr von der verschlossenen kleinen Vitrine in Eli Bellittos Laden, dass sie gefüllt war mit Kinderspielzeug und er sich um keinen Preis davon trennen wollte. Und dass zu den Gegenständen auch der Roger-Rabbit-Schlüsselanhänger gehört hatte.

Gia fror plötzlich. »Hast du ihn bei dir?«

»Nein. Er liegt bei mir zu Hause. Aber lass uns keine voreiligen Schlussfolgerungen ziehen. Wahrscheinlich wurden in den achtziger Jahren ein oder zwei Millionen Roger-Rabbit-Schlüsselanhänger verkauft.«

»Du könntest ihn zur Polizei bringen und …«

Er blinzelte. »Zu wem?«

»Tut mir Leid.« Was dachte sie da? Es ging um Jack. Und Jack und die Polizei waren wie Feuer und Wasser.

Er sagte: »Ich wünschte, ich hätte eine Möglichkeit, Tara und den Schlüsselanhänger miteinander in Verbindung zu bringen … Dann wüsste ich Bescheid. Im Augenblick kann ich Bellitto allenfalls verdächtigen.«

»Warum nimmst du ihn nicht mit ins Haus? Mal sehen, was die Kleine tut.«

Jack sah sie verblüfft an. »Eine tolle Idee! Warum ist sie mir nicht eingefallen?«

»Weil du Handyman Jack bist. Nur Handywoman Jane konnte auf so was kommen.«

»Treffer«, sagte er lächelnd und prostete ihr mit seinem Bier zu. »Meinst du, sie reagiert?«

»Es gibt nur einen Weg, das festzustellen. Wann fahren wir mit dem Anhänger hin?«

»›Wir‹?« Er erhob sich und schüttelte dabei den Kopf. ›»Wir‹ kehren nicht in dieses Haus zurück. O nein. Die eine Hälfte ›wir‹ bleibt hier, während die andere Hälfte sich allein auf den Weg macht und mit einem Bericht über das, was geschieht, zurückkommt.«

Das hatte Gia erwartet. »Das ist nicht fair. Es war schließlich meine Idee.«

»Wir haben das doch hinreichend diskutiert, Gi. Wir wissen nicht, was dieses Ding im Schilde führt.«

»Dieses ›Ding‹ ist ein kleines Mädchen, Jack.«

»Ein totes kleines Mädchen.«

»Aber sie ist mir erschienen. Nicht dir, nicht Lyle, nicht Charlie. Das muss doch etwas zu bedeuten haben.«

»Genau. Aber wir wissen nicht, was. Und deshalb solltest du dich von diesem Ort so fern wie möglich halten. Er hat einen ziemlich schlimmen Stammbaum, sogar noch unheimlicher, als man es in Lyles Broschüre über das Menelaus Manor nachlesen kann.«

Schlimmer als die Erwähnung des zerfleischten Kindes? Das konnte Gia sich kaum vorstellen.

»Was? Dieser Immobilienmakler hat dir etwas erzählt, nicht wahr?«

»Er hat mir eine ganze Menge erzählt, und das erfährst du später auch. Aber im Augenblick musst du mir versprechen, dass du dich von diesem Ort fern hältst.«

»Aber ich bin es doch, mit der sie Kontakt aufgenommen hat.«

»Richtig. Sie hat eine Botschaft geschickt, und du hast sie empfangen. Jetzt werden wir wahrscheinlich ihr Grab öffnen. Wenn wir sie finden und sie mit Bellitto in Verbindung gebracht werden kann, dann hast du eine Menge bewirkt. Du hast uns den Weg gezeigt.«

»Und wenn keine Hinweise zu finden sind?«

»Nun, dann bekommt sie wenigstens ein anständiges Begräbnis. Und vielleicht ist es das, was ihr Vater braucht, um in sein altes Leben zurückzukehren.«

Gia dachte in diesem Augenblick nicht an Joe Portman. Es war Tara, die ihre Gedanken beherrschte. Ihre Not war wie eine Schlinge um Gias Hals und zog sie mit unwiderstehlicher Gewalt zum Menelaus Manor. Wenn sie diesem Drängen nicht nachgab, würde die Schlinge sie erwürgen.

»Sie hat ›Mutter‹ geschrieben, Jack. Ich glaube nicht, dass sie ihre eigene Mutter gemeint hat – Dorothy Portman ist hirntot. Ich denke, sie meinte mich. Es mag zweiundzwanzig Jahre her sein, seit Tara geboren wurde, aber sie ist noch immer ein Kind. Sie ist noch immer neun Jahre alt, und sie hat Angst. Sie braucht eine Mutter. Und das ist ein Trost, den ich ihr geben kann.«

»Wie tröstet man einen Geist?«, fragte Jack. Er legte einen Arm um sie und zog sie an sich. Sie nahm den Duft seines Duschgels wahr, spürte die ersten nachmittäglichen Bartstoppeln auf seinen Wangen. »Ich glaube, wenn irgendjemand dazu fähig ist, dann bist du es. Aber sag mir eins: Wenn Vicky jetzt hier wäre, und nicht im Ferienlager, wärst du dann auch so erpicht darauf, in dieses Haus zurückzukehren?«

Was wollte er damit sagen? Dass dieser Drang, diese Not, die in ihr brannte, nichts anderes war als eine Art fehlgeleitete Sehnsucht nach ihrem eigenen Kind? Sie musste zugeben, dass dies kein allzu weit hergeholter Gedanke war, aber sie spürte, dass dieser Wunsch in ihr darüber hinausging.

»Vielleicht, vielleicht auch nicht, aber …«

»Eine weitere Frage: Wenn Vicky hier wäre, würdest du sie dann mitnehmen?«

Damit überrumpelte er sie. Sie reagierte sofort: Natürlich nicht. Aber das wollte sie nicht aussprechen.

»Das ist nicht der Punkt. Vicky ist nicht hier, daher …«

Jack drückte sie fester an sich. »Gia? Würdest du?«

Sie zögerte, dann: »Okay, nein.«

»Warum nicht?«

»Ich weiß es nicht genau.«

»Ich aber. Weil es eine unsichere Situation ist und weil du Vicky keinen unvorhersehbaren Folgen aussetzen willst. Richtig?«

Gia nickte an seiner Schulter. »Richtig.«

»Warum willst du dann unser zweites Kind derselben unsicheren Lage aussetzen?«

Sie seufzte. Sie saß dank einer unwiderlegbaren Logik in der Falle.

»Bitte, Gia.« Er wich auf Armeslänge von ihr. »Bleib weg von dort. Lass mir zwei Tage Zeit, Lyle bei der Suche nach ihren sterblichen Überresten zu helfen. Danach sind die Umstände vielleicht nicht mehr so unberechenbar, und wir können die ganze Situation überdenken und neu einschätzen.«

»Ach, na schön«, sagte sie. Es gefiel ihr nicht, aber sie fühlte sich in die Ecke gedrängt. »Ich denke, zwei Tage machen nicht viel aus.«

»Gut.« Er atmete zischend aus. »Das erleichtert mich.«

»Dich vielleicht. Was ist mit mir?«

»Was meinst du?«

»Nun, wenn dieses Haus eine potenzielle Gefahr für mich darstellt, was tut es dann für dich?«

Jack lächelte. »Hast du es vergessen? Gefahr ist mein Geschäft.«

»Ich meine es ernst, Jack.«

»Okay. Ich melde mich regelmäßig bei dir.«

»Lass dein Telefon eingeschaltet, für den Fall, dass ich dich sprechen muss.«

»Das tue ich.« Er fischte es aus der Jeanstasche und drückte auf einen Knopf. Sie hörte den Piepton, als es aktiviert wurde. Er warf einen Blick auf die Uhr. »Ich muss los. Such irgendetwas Gemütliches zum Dinner – alles, nur nicht das Zen Palate – und ich erzähle dir einiges über Konstantin Kristadoulous’ Geschichte des Kellers im Menelaus Manor und über die Funde unserer archäologischen Grabung da unten.«

Gia seufzte. Sie sollte alles nur aus zweiter Hand erfahren, aber sie kam zu dem Schluss, dass sie sich wohl damit zufrieden geben müsste.

»Und von dem Schlüsselanhänger«, sagte sie. Das wollte sie am dringendsten wissen. »Du musst mir genau schildern, was geschieht, wenn du mit dem Ding über die Schwelle trittst.«

»Ja«, sagte Jack leise. »Das könnte sehr interessant sein. Aber wie übertrifft man ein Erdbeben?«

 

 

HMJ06 - Das Ritual
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