14

 

Lyle schaute in Charlies Zimmer und traf ihn in seiner üblichen Position an, auf dem Bett liegend und in der Bibel lesend, während in seinem Kopfhörer Kirchengesänge erklangen. Er wollte ihn auf sich aufmerksam machen.

»Ich gehe zu Bett«, sagte er, nachdem Charlie den Kopfhörer abgenommen hatte.

»Ist noch ziemlich früh, oder?«

»Ja, aber im Fernsehen läuft nur dieses alte Zeugs. Und ich kann mich nicht überwinden, mir das zum hundertsten Mal anzusehen.«

Charlie hielt seine Bibel hoch. »Ich habe noch ein Reserveexemplar, falls du interessiert bist. Für mich ist es ein großer Trost, und du siehst im Augenblick so aus, als könntest du den ganz gut gebrauchen.«

Lyle winkte ab – und das nicht einmal unfreundlich. »Danke, aber ich glaube, heute verzichte ich lieber darauf.«

»Okay, aber mein Angebot steht.« Charlie setzte sich auf die Kante seines Bettes. »Das mit dem Fernseher ist schon seltsam. Wenn wir davon ausgehen, dass dieses Mädchen in den sechziger Jahren gestorben ist, warum erscheint sie uns dann in den achtziger Jahren?«

»Keine Ahnung«, sagte Lyle. »Und im Augenblick bin ich viel zu müde, um mir den Kopf darüber zu zerbrechen.« Er gähnte. »Bist du so weit in Ordnung, dass du morgen wieder arbeiten kannst?«

Charlie starrte ihn an. »Bist du bereit, unseren Kunden eine angemessene Gegenleistung zu liefern?«

»Was soll das? Zitierst du nicht mehr die Bibel, sondern unseren neuen Freund Jack?«

Während Lyle Anstalten machte, sich abzuwenden, ergriff Charlie seinen Arm und musterte ihn prüfend.

»Hat das, was in der letzten paar Tagen passiert ist, dich vielleicht dazu gebracht, deine Meinung über die Existenz einer Macht, die größer ist als du, zu ändern?«

Lyle wandte den Blick ab. Das war ein uralter Diskussionspunkt zwischen ihnen, aber jetzt hatten die Vorzeichen sich gründlich geändert.

»Ich gebe zu, dass ich mit einer ganzen Reihe von Phänomenen konfrontiert wurde, für die ich keinerlei Erklärung habe.« Er sah, wie sich Charlies Augen aufhellten, daher redete er schnell weiter, ehe sein Bruder ihn unterbrechen konnte. »Das heißt aber nicht, dass es dafür keine rationale Erklärung gibt. Es heißt lediglich, dass ich nicht über ausreichende Informationen verfüge, um die Erscheinungen zu erklären.«

Charlie war sichtlich enttäuscht. »Gibst du dich denn niemals geschlagen?«

»Ich soll vor etwas Irrationalem kapitulieren? Niemals.« Lyle lächelte und hoffte, damit die harte Wirkung seiner Worte zu mildern. »Aber es hat immerhin bewirkt, dass ich im Dunklen Angst habe. Daher hoffe ich, dass du nichts dagegen hast, wenn ich ein paar Lampen eingeschaltet lasse.«

»Nur zu«, sagte Charlie und setzte seine Kopfhörer wieder auf. Er hielt seine Bibel hoch. »Das ist das einzige Licht, das ich brauche.«

Lyle winkte und machte kehrt, während ihm der Gedanke durch den Kopf ging, wie tröstlich es sein musste zu glauben, dass die Antworten auf alle Fragen in einem einzigen Buch zu finden seien.

Während er seinen Bruder um den inneren Frieden beneidete, der ihm dadurch zuteil werden musste, schritt er durch den Korridor. Ein wilder Aufruhr tobte in ihm. Er hatte das Unbehagen die ganze Zeit über verbergen können, doch es erfüllte ihn zunehmend. Sein Heim war keine sichere Zuflucht mehr, sondern ein Minenfeld bedrohlicher Möglichkeiten. Die Ereignisse des Tages hatten ihn völlig aus dem Konzept gebracht und nervös gemacht, aber sie hatten ihn auch erschöpft. Dennoch war für ihn der Gedanke, sich jetzt hinzulegen und die Augen zu schließen, schlichtweg unvorstellbar.

Zumindest in diesem Haus. Eine Nacht in einem Motel wäre die ideale Lösung – dort bekam er solide acht Stunden Schlaf und könnte am Morgen in sein Haus zurückkehren, erfrischt und bereit, sich allem zu stellen, was dort auf ihn warten mochte.

Doch er würde sein Haus nicht verlassen.

Lyle warf einen Blick auf seinen Wecker, als er sein Schlafzimmer betrat. Er stand auf 3.22 Uhr. Und zählte noch immer rückwärts. Die echte Zeit lag etwa bei 22.30 Uhr. Lyle stellte fest, dass er mehr als nur erschöpft war. Er fühlte sich nicht wohl. Er hoffte, dass das Blut im Keller nicht irgendwie vergiftet gewesen war … Blut war heutzutage ein Überträger aller möglichen Krankheiten. Aber andererseits war es kein richtiges Blut gewesen, oder? Irgendeine Art übersinnliches oder ektoplasmisches Blut …

Hör dir das an, dachte Lyle. Ich klinge, als hätte ich meinem eigenen Quatsch schon so lange zugehört, dass ich anfange, ihn selbst zu glauben.

Aber das, was am Nachmittag passiert war, konnte kaum als Quatsch bezeichnet werden. Das war der reinste Knaller gewesen, wie Charlie so gerne sagte.

Er rieb sein Gesicht. Als sie nach dem Essen nach Hause gekommen waren, hatte er sofort noch einmal geduscht. Trotzdem hatte er nicht das Gefühl, das Blut nach seinem Horrorbad im Keller komplett abgewaschen zu haben. Es schien, als wäre es in seine Haut eingesickert – nein, durch seine Haut und direkt in seinen eigenen Blutkreislauf. Irgendwie fühlte er sich verändert.

Verändert hatte sich nach den letzten Tagen ganz sicher sein Blickwinkel. Alles Helle diente jetzt nur noch dazu, die schon vorhandenen Schatten noch dunkler zu machen. Also versuchte man, ihnen auszuweichen, sie zu umgehen. Das Problem war nur, dass eine ganze Menge Schatten hinzugekommen waren. Daher war jede Menge Ausweichen angesagt. Wenn das erst mal überhand nahm, verlor man seinen Weg völlig aus den Augen und tat nichts anderes, als Schatten zu meiden.

Sich in einer Situation zu befinden, in der man befürchten musste, dass man nur noch wenige Minuten zu leben hatte, veränderte einen nachhaltig. Lyle war überzeugt gewesen, er würde an diesem Nachmittag im Blutsee ertrinken. Doch er war aus diesem roten Taufbad mit einer ganz neuen Wertschätzung seines Lebens und der Entschlossenheit aufgetaucht, aus allem, was er besaß und was sich ihm bot, das meiste herauszuholen.

Und was er im Augenblick besaß, das war ein Geist, ein Gespenst.

Eine einzige große Ironie, wenn er darüber nachdachte: Ein eingefleischter Skeptiker, der seinen Lebensunterhalt damit verdient, die Existenz von Geistern vorzutäuschen, muss zu der Erkenntnis gelangen, dass er in einem Spukhaus lebt. Das war der Stoff, aus dem Oscar-trächtige Filme gedreht wurden.

Aber Tatsache war, dass er das Haus gerade wegen seiner morbiden Vorgeschichte ausgesucht hatte. Wenn daher irgendein Anwesen eine mehr als durchschnittliche Chance bieten sollte, Schauplatz eines Spuks zu sein, dann war es das Menelaus Manor.

Daher … Wie holen wir das meiste aus dieser Situation heraus? Wenn dieser Geist eine Zitrone ist, wie können wir dann, wie es so schön heißt, daraus Zitronenlimonade zubereiten?

Die auf der Hand liegende Antwort war Lyle im Restaurant eingefallen. Wenn diese Erscheinungen tatsächlich das Werk des Geistes eines Mädchens waren, das ermordet und in dem Haus begraben worden war, und wenn die Kleine ihnen etwas mitzuteilen versuchte, das ihren Mörder einer strafenden Gerechtigkeit zuführen würde, oder wenn sie ihnen ihren Beerdigungsort zeigen wollte, damit man mit gerichtsmedizinischen Methoden ihren Mörder entlarven könnte, dann hatte sie in Lyle Kenton einen willfährigen – nein, einen zu allem entschlossenen Verbündeten.

Nicht nur, weil eine Befriedigung ihrer Wünsche und Bedürfnisse die gute Chance bot, dass sie dorthin zurückkehrte, wo immer sie hergekommen war, und das Haus in Zukunft in Ruhe lassen würde …

… aber man stelle sich nur diese Publicity vor!

Wenn er die Leiche fände … und wenn die Leiche die Polizei zu ihrem Mörder führte …

 

Wahrsager Ifasen vom Geist eines toten Kindes dabei unterstützt, seinen Mörder vor Gericht zu bringen!

 

Es gäbe keine Nachrichtensendung oder Talkshow auf der ganzen Welt, die ihn nicht um einen Auftritt bitten würde. Verdammt, sogar Oprah Winfrey würde ihn haben wollen. Doch er wäre sehr wählerisch und würde sich nur für die gediegensten Formate mit der größten Einschaltquote entscheiden. Er würde einen Buchvertrag abschließen und von seinen Erlebnissen mit den Geistern Verstorbener berichten.

Und dann seine neue Klientel! Jeder, der auf sich hielt, würde ihn aufsuchen wollen. Er und Charlie hätten für ihr ganzes Leben ausgesorgt. Sie würden tausend, nein, zweieinhalbtausend Dollar für eine private Sitzung verlangen, und die Limousinen der Interessenten würden eine Schlange bis rauf zur Triboro Bridge bilden.

Es wäre genauso, als hätte er in einer Fünfzig-Millionen-Dollar-Lotterie gewonnen.

Mit diesen herrlichen Fantasien im Kopf blieb er mitten in seinem Schlafzimmer stehen und rief leise: »Hallo? Ist da irgendjemand?«

Nicht dass er ernsthaft eine Antwort erwartete, aber er musste versuchen, diese unerträgliche Anspannung zu lösen, unter der er im Augenblick stand.

Ein eisiger Luftstrom wehte über seine Haut. War es nur Einbildung, oder sank plötzlich die Temperatur? Er spürte, dass er nicht mehr allein im Raum war. Es wurde zunehmend kälter. Er hätte es als angenehm empfunden, wenn er hätte sicher sein können, dass er diesen Zustand seiner Klimaanlage zu verdanken hatte. Doch die war im Augenblick gar nicht eingeschaltet. Außerdem war es eine ganz andere Art von Kälte … Sie war feucht und drang ihm bis in die Knochen.

Irgendetwas reagierte auf seine Frage. Er breitete die Arme aus, um anzuzeigen, dass er für jede Reaktion von der Gegenseite offen war.

»Ich habe etwas mitzuteilen. Ich höre zu …«

Eine Schublade seiner Wäschekommode wurde von Geisterhand mit einem lauten Knall geschlossen.

Lyle zuckte zusammen und wich zurück. Vor seinen Augen wurde eine andere Schublade geöffnet und gleich wieder zugeschoben. Dann die nächste, dann eine vierte, schneller und schneller, heftiger und heftiger, bis Lyle befürchten musste, dass sie zerbrachen und die ganze Kommode auseinander flog.

Lyle nahm aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr. Es war Charlie, die Augen weit aufgerissen und die Bibel gegen seine Brust pressend, der vorsichtig das Zimmer betrat. Er sah, wie sich seine Lippen bewegten, konnte aber wegen des herrschenden Lärms kein Wort verstehen.

Dann hörte es genauso plötzlich auf, wie es begonnen hatte.

»Was hatte das zu bedeuten?«, fragte Charlie flüsternd in die Stille.

Lyle rieb seine Arme, um die Kälte daraus zu vertreiben.

Er hielt inne, als er bemerkte, wie in der Staubschicht auf der Oberseite der Kommode eine dunkle Linie erschien. Sie konnten sich durchaus eine Putzhilfe leisten, wollten jedoch keine Fremden im Haus haben, die etwas sehen könnten, was nicht für ihre Augen bestimmt war. Daher nahmen sie derartige Haushaltspflichten selbst wahr, wenn auch nicht halb so oft, wie es nötig gewesen wäre.

Vielleicht sollte sich das jetzt als Vorteil erweisen.

Lyle trat näher an die Kommode heran und gab Charlie ein Zeichen, seinem Beispiel zu folgen. Er deutete auf die Buchstaben, die in der Staubschicht entstanden.

Wo

»Sieh doch«, flüsterte er. »Genau wie am Sonntag auf dem Spiegel.«

ist

Charlie deutete auf die wachsende Reihe von Buchstaben. »Sie kann singen, warum redet sie nicht?«

die

Gute Frage, dachte Lyle. Er schüttelte den Kopf. Darauf wusste er auch keine Antwort.

»Es sieht aus wie die Geisterschrift, die wir immer nachmachen«, sagte Charlie, »nur tausendmal besser.«

nette

»Weil die hier nicht gefälscht ist.«

Geisterschrift … alles, was man dazu brauchte, war eine falsche Fingerspitze mit einer Bleistiftmine darin. Doch nun wurde er Zeuge der echten Version.

Der Satz endete mit einem Fragezeichen.

Wo ist die nette Frau?

Lyle hörte, wie Charlie zischend einatmete. »Gia. Sie hatte Recht. Es gibt eine Verbindung.«

»Sie ist nach Hause gefahren«, sagte Lyle vielleicht ein wenig zu laut.

Warum?

»Sie wohnt nicht hier.«

Kommt sie zurück?

»Das weiß ich nicht. Willst du, dass sie zurückkommt? Sie wird es bestimmt tun, wenn wir sie darum bitten.«

Sie ist nett

»Ja, wir mögen sie auch.« Er sah Charlie an. »Wer bist du?«

Tara

Lyle atmete aus. Sie hatte einen Vornamen. Das war wenigstens ein Anfang, aber er brauchte mehr.

»›Tara‹ was? Hast du einen Nachnamen?«

Portman

Tara Portman … Lyle schloss die Augen und ballte die Fäuste. Ja!

»Warum bist du hier, Tara? Was möchtest du?«

Mutter

»Du möchtest zu deiner Mutter?«

Lyle wartete, aber es erschien keine Antwort. Er spürte, wie die Kälte abfloss und sich die Spannung im Raum abbaute.

»Tara?«, rief er. Dann noch einmal, lauter: »Tara!«

»Sie ist weg«, stellte Charlie fest. »Spürst du das nicht?«

Lyle nickte. Er spürte es. »Wenigstens wissen wir jetzt, wer sie ist. Oder besser: war.«

Lyle schloss die Augen und erkannte, dass er längst nicht mehr so angespannt war wie noch vor ein paar Sekunden. Er hatte es nicht mehr mit einer namenlosen, gewalttätigen Wesenheit zu tun. Den Namen des Wesens zu kennen, das in ihr Haus eingedrungen war, ließ es weniger bedrohlich erscheinen. Sie war jemand gewesen, und etwas war von diesem Jemand zurückgeblieben. Und damit konnte er sich befassen.

Er könnte ihr helfen. Und sie könnte ihm helfen.

»Richtig«, sagte Charlie. »Wir haben ihren Namen. Und was tun wir jetzt damit?«

»Zuerst einmal setzen wir uns mit Gia in Verbindung und erkundigen uns, ob der Name Tara Portman irgendeine Bedeutung für sie hat.«

 

 

HMJ06 - Das Ritual
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