7

 

Jack hatte es sich an einem kleinen Tisch auf dem Fußweg vor dem Bistro, nicht weit von Eli Bellittos Shurio Coppe, gemütlich gemacht. Er hatte sein erstes Glas Corona – natürlich ohne Zitronenscheibe – fast geleert und beobachtete Bellittos Haustür. Er hatte die Perücke und die seltsame Kostümierung, die er am Vorabend im Laden getragen hatte, zu Hause gelassen. Auf dem Kopf saß jetzt eine Baseballmütze, um sein Haar und seine Augen zu verbergen. Sonst aber sah er aus wie immer.

Er hatte verfolgt, wie die ältere Frau und der neue Angestellte den Laden verließen, und anschließend Bellitto dabei zusehen können, wie er den Laden verriegelte und um die Ecke zu seiner Wohnung verschwand. Die Dämmerung war in die Nacht übergegangen, Wolken waren an dem bisher klaren Himmel aufgezogen und zu einem dichten Baldachin verschmolzen. Die Tür von Bellittos Haus war auf Grund der defekten Straßenbeleuchtung am Ende des Blocks in einen tiefen Schatten getaucht.

Heute herrschte auf der Straße mehr Verkehr als am Vortag. Ein ramponierter Lieferwagen würgte eine Abgaswolke heraus, die hinter ihm in der Luft hängen blieb und langsam in Jacks Richtung trieb. Dabei überdeckte sie den köstlichen Duft von geschmortem Knoblauch, der aus der Küche des Bistros herausdrang. Jack hustete. Das waren die Freuden der italienischen Küche im New York des einundzwanzigsten Jahrhunderts.

Auch auf dem Bürgersteig herrschte lebhafterer Betrieb, daher frönte er seiner liebsten Freizeitbeschäftigung: Leute beobachten. Er sah ein Paar bleichgesichtiger, schwarzlippiger Gothic-Girls in fußlangen schwarzen Kleidern vorbeischweben. Dann ein gemischtes Paar mit einem Kinderwagen. Er: sehr dunkelhäutig in einem Hemd mit Buttondownkragen, Krawatte und Khakihose, die schwarzen Haare einer entsprechenden friseurtechnischen Behandlung unterzogen und so glatt und gerade wie die Fifth Avenue. Sie: porzellanweiß in einer Latzhose und mit langen, Wuscheligen hellbraunen Dreadlocks, die ihr auf den Rücken fielen. Ein Teenagertrio in schulterfreien Blusen, Bellbottom-Jeans und Schuhen mit Plateausohlen trabte ebenfalls vorbei – offenbar waren modemäßig die siebziger Jahre wieder zurückgekehrt.

Jack überprüfte die Position des Totschlägers, den er in seinem weiten karierten Hemd untergebracht hatte. Das Gewicht des Bleischrots spannte den Stoff, zog ihn nach unten und verlieh Jack rein optisch einen deutlichen Bauch. Er hatte sich für seine schwarzen hohen Frye-Stiefel mit dem klassischen Geschirr aus Lederriemen und Stahlring entschieden. Außerdem hatte er seine .38er AMT Backup im Schaft des rechten Stiefels untergebracht. Er hoffte, keine seiner beiden Waffen benutzen zu müssen. Im Block war es still und friedlich. Alles deutete auf eine weitere ereignislose Nacht hin, was, abgesehen von der Langeweile, eigentlich keine so üble Sache wäre.

Seine Gedanken kehrten zu der Unterhaltung mit Gia und zu seiner augenblicklichen Lage zurück: Wie könnte er seine Existenz auf eine legitime Basis stellen, ohne gleichzeitig seine Freiheit aufs Spiel zu setzen? Der einfachste Weg wäre, jemand anderer zu werden – die Identität eines legitimen, gesetzestreuen, mit Sozialversicherungsnummer ausgestatteten, Steuern zahlenden Bürgers zu übernehmen. Diese Möglichkeit war nahe liegend, aber nicht sehr praktisch. Und völlig unmöglich, wenn besagter Bürger selbst noch am Leben wäre.

Aber wenn er tot wäre?

Das könnte funktionieren. Nur wie? Sobald die Sterbeurkunde des braven Bürger registriert wäre, würde seine Sozialversicherungsnummer mit einem entsprechenden Hinweis versehen und in den Index der verstorbenen Versicherten aufgenommen werden. Sollte Jack die Sozialversicherungsnummer des Toten danach in irgendeiner Weise benutzen, würden im gesamten Kreditgewerbe die Alarmglocken klingeln, und irgendwann bekämen auch die Finanzbehörden davon Wind und würden sich auf seine Fährte setzen.

Nein, darauf konnte er verzichten.

Der ideale Kandidat wäre ein spinnerter Einzelgänger ohne Ehefrau, Kinder oder sonstige Angehörige. Er dürfte höchstens zehn Jahre jünger oder älter als Jack sein und müsste von der Öffentlichkeit völlig unbemerkt in seinem mit alten Zeitungen voll gestopften Apartment verstorben sein …

Nein, Moment. Noch besser wäre, er würde ganz allein in seiner einsamen Hütte im Wald sterben. Jack würde durch Zufall auf seine Leiche stoßen, ihn in allen Ehren beerdigen und sich anschließend mit der Identität des Verstorbenen aus dem Staub machen.

Ja, richtig, er hatte eine Art mentale Krise und hatte sich für eine Weile in der Einsamkeit verkrochen, doch jetzt war er wieder zurück und bereit, erneut ins Rennen einzusteigen.

Jack schnaubte. Ja, richtig … so wird es klappen. Und wer führt mich jetzt zu dieser Waldhütte hin? Der Osterhase?

Irgendeine Möglichkeit musste es doch geben, verdammt noch mal.

Er hörte ein fernes Donnergrollen. Die Luft roch nach Regen, und er erinnerte sich, im Radio gehört zu haben, dass jederzeit mit Niederschlägen zu rechnen sei. Er wünschte, er hätte besser zugehört. Nun verhieß die Nacht nicht nur langweilig, sondern auch ziemlich nass zu werden.

Super.

Er wollte sich ein zweites Corona bestellen und vielleicht eine Portion Shrimps, die er vielleicht gerade noch verzehren könnte, ehe der Regen einsetzte, als er einen Wagen neben dem Feuerhydranten vor Bellittos Haus am Bordstein anhalten sah. Er konnte das Fabrikat und das Modell wegen der grellen Scheinwerfer und der defekten Straßenbeleuchtung nicht erkennen. Jack legte einen Fünfer auf den Tisch und ging die Straße hinauf. Was den Wagen betraf, so hatte er ein seltsames Gefühl. Er konnte sich irren, und wenn es so war, dann wäre es auch nicht schlimm. Aber wenn er sich nicht irrte, würde er schnell überrumpelt werden, wenn er hier sitzen blieb.

Während er sich dem Ende des Blocks näherte, identifizierte er den Wagen als einen kastanienbraunen Buick Park Avenue. Bellitto trat aus seiner Tür, und der Fahrer – ein massiger Bursche mit rasiertem Schädel, kittgrauer Haut und ohne einen richtigen Hals – faltete sich aus dem Fahrersitz. Er trug ein schwarzes T-Shirt mit hochgekrempelten Ärmeln, das die Länge seiner Arme unterstrich – mit Fingern, die beinahe den Boden berührten, erinnerte er an einen Gorilla. Offensichtlich frönte er einem intensiven Krafttraining, denn seine Bizepse und Trizepse mussten auf jeden, der sie bewusst zur Kenntnis nahm, eine geradezu einschüchternde Wirkung ausüben.

Jack hatte seinen Wagen an der Ecke der West Houston, einen Block weiter, geparkt. Um Aufmerksamkeit zu vermeiden, wartete er ab, bis er an dem Buick vorbeigegangen war, ehe er in einen leichten Laufschritt verfiel. Seine Schuhe waren für eine solche sportliche Übung nicht gerade ideal, doch er lag ganz gut im Rennen. Dann warf er einen kurzen Blick nach hinten, um sich das amtliche Kennzeichen des Buick einzuprägen. Aber Fehlanzeige. Das Nummernschild war bis zur Unkenntlichkeit mit Lehm verschmiert. War das Zufall oder Absicht? Er bemerkte auch, dass Bellitto sich in den Fahrersitz setzte, während der große Unbekannte um den Wagen herum zur Beifahrerseite ging.

Es kam Jack so vor, als hätte Eli Bellitto kaum einen körperlichen Schaden zu befürchten, wenn er sich in nächster Nähe eines Zeitgenossen von derartigem physischem Kaliber aufhielt. Es sei denn, natürlich, er legte sich mit Mr. Gorilla direkt an.

Aber Elis Bruder Edward hatte sich ja größere Sorgen gemacht, dass er vielleicht jemand anderen verletzen würde. Und wenn diese beiden es auf jemanden abgesehen hätten, müsste das Opfer mit erheblichen Schäden rechnen.

Auf dem Parkplatz winkte Jack dem Parkwächter zu, schwang sich in seinen Crown Vic und ließ den Motor an. Er hatte die Parkgebühren schon im Voraus bezahlt, um einen Blitzstart hinlegen zu können, falls es sich als nötig erweisen sollte … Und genau jetzt war es nötig.

Die Reifen schleuderten reichlich Kies und Geröll hoch, als er den Parkplatz verließ. Er holte Eli Bellitto samt Begleitung ein, als sie drei Blocks weiter vor einer auf Rot stehenden Ampel warten mussten. Das mit Lehm verschmierte Nummernschild störte ihn. Die Schlammspritzer sorgten dafür, dass keine der Ziffern zu erkennen war.

Jack folgte den beiden Männern in die Innenstadt. Der Regen setzte ein, während sie die Canal Street überquerten und nach Chinatown kamen. Er nahm an, sie wären nach Brooklyn unterwegs, doch sie fuhren an der Abzweigung zur Manhattan Bridge vorbei. Dafür durchquerten sie die Bowery und gelangten in die Catherine Street. Mit den massigen Umrissen der AI Smith Houses halb rechts vor ihnen bremste der Buick bis auf Schritttempo ab, rollte am Bordstein entlang, als suchte der Fahrer etwas oder jemanden. Schließlich blieb er stehen.

Würden sie einen dritten Mitfahrer aufnehmen? Allmählich wurde die Angelegenheit kompliziert.

Jack ging eilig seine Möglichkeiten durch. Eli und sein Gorilla-Freund würden ihn todsicher bemerken, wenn er weiter hinter ihnen blieb. So viele Leute waren an diesem verregneten Montagabend auch nicht unterwegs. Ihm wäre es lieber gewesen, wenn es nicht geregnet hätte. Vielleicht hätte er dann ein wenig deutlicher erkennen können, nach was sie Ausschau hielten.

Er hatte den Eindruck, dass Mr. Gorilla sich kurz umgedreht und in seine Richtung geblickt hatte, daher ließ Jack seine Fernlichter aufflammen, als wollte er sie ungeduldig auffordern, doch bitte schneller zu fahren. Bellittos Hand schob sich aus dem Seitenfenster und winkte ihn vorbei.

Mit einem wütenden Hupsignal lenkte Jack seinen Crown Vic um den Buick herum und rollte zügig weiter.

Was nun?

Jack entdeckte einen kleinen Laden, in dem noch Licht brannte. Unter der Markise über dem Eingang stand ein Zeitungsständer. Ein willkommener Anlass, um anzuhalten und Bellitto im Auge zu behalten.

Er parkte in zweiter Reihe und ließ den Motor laufen, während er aus dem Wagen sprang und den regennassen Fußweg überquerte. Er näherte sich der schmalbrüstigen Ladenfront und erkannte, dass keins der Worte, die er sah, aus dem Englischen stammte. Nicht einmal die Schlagzeilen der verschiedenen Zeitungen. Er konnte auch nicht entscheiden, ob die Schriftzeichen chinesisch, koreanisch oder vietnamesisch waren. Es war aber auch nicht von Bedeutung. Er hatte ohnehin vor, nur so zu tun, als wollte er sich in dem Laden umsehen. Vielleicht kaufte er ein Päckchen Kaugummis.

In der Türöffnung wich Jack zur Seite aus, als sich ein kleiner asiatischer Junge mit einer weißen Plastikeinkaufstüte in der Hand an ihm vorbeidrängte. Er beobachtete, wie der Junge unter der Markise stehen blieb, einen kleinen roten Regenschirm öffnete und dann im Regen verschwand.

Das Kind ist viel zu jung, um so spät alleine unterwegs zu sein, dachte Jack.

Er trat ein, lächelte und nickte der verhutzelten alten Asiatin hinter der Theke zu und sagte: »Ich möchte mich nur mal umschauen.«

Sie deutete eine Verbeugung an, machte eine einladende Handbewegung und sagte etwas, wovon er nicht eine einzige Silbe verstand.

Jack blickte zum Schaufenster. Durch den Schmutz und den Regen konnte er erkennen, dass der Buick sich wieder in Bewegung gesetzt hatte.

Verdammt!

Er warf einen Dollar auf die Theke und angelte sich auf dem Weg nach draußen eine Zeitung vom Ständer. Während er sie sich als behelfsmäßigen Regenschutz über den Kopf hielt – und um sein Gesicht vor Bellitto und seinem Mitfahrer zu verbergen –, rannte Jack über den verlassenen Bürgersteig. Dabei hielt er nach rechts und links Ausschau.

Wo war der Junge?

Er sah etwas am Bordstein, nicht weit von der Stelle, wo Bellittos Fahrzeug mit laufendem Motor stand, zwischen zwei Wagen. Der Buick entfernte sich, doch Jacks alarmierte Instinkte zwangen ihn, einen kleinen Umweg zu machen. Er rannte hinüber zu der Stelle und sah, was es war: ein kleiner roter Regenschirm, der umgedreht in der Gosse lag, während sich in der Wölbung Regentropfen sammelten. Aber kein Kind.

Hatten Bellitto und Mr. Gorilla ihn mitgenommen? Jack ging in die Knie und sah unter den geparkten Fahrzeugen nach, fand dort aber nichts außer Wasserpfützen und Ölflecken. Dann erhob er sich und blickte den roten Rücklichtern des Buicks nach.

Scheiße! Das musste es sein! Diese beiden Mistkerle hatten den kleinen Jungen geschnappt.

Zähneknirschend hastete Jack zu seinem Wagen.

Jetzt erkannte er, weshalb Edward darauf bestanden hatte, ausgerechnet Jack zu engagieren, um seinen Bruder weniger vor anderen Leuten als vielmehr vor sich selbst zu schützen.

Seine Angst hatte sich auf das bezogen, was einem unschuldigen Opfer zustoßen könnte. Er musste wissen, dass sein Bruder ein Mistkerl war. Und dass er vorhatte, in allernächster Zukunft zuzuschlagen.

Verdammt noch mal! Warum hatte Edward nicht einfach die Polizei benachrichtigt? Offensichtlich hatte er die Affäre geheim halten wollen. Wer wollte schließlich schon, dass öffentlich bekannt würde, dass sein Bruder ein Pädophiler ist? Also versuchte Edward, beides zu erreichen – ein weiteres Verbrechen zu verhindern, es aber gleichzeitig unter der Decke zu halten. Wunderbar. Das konnte Jack respektieren. Aber wenn er alle Tatsachen vorher gekannt hätte, wäre er ganz anders an die Sache herangegangen. Er hätte es niemals zugelassen, dass dieser kleine Junge alleine auch nur in die Nähe von Bellittos Wagen gelangte.

Scheiße! Scheiße! Scheiße!

Er sprang in seinen Wagen und fädelte sich mit durchdrehenden Reifen in den fließenden Verkehr ein.

»Wo sind sie?«, murmelte er vor sich hin. Zorn kochte in ihm, während er sich anstrengte, durch die regenverschmierte Windschutzscheibe etwas zu erkennen. Er schlug mit den Fäusten auf das Lenkrad. »Wo zur Hölle sind sie geblieben?«

Er fuhr weiter in Richtung Innenstadt und rollte parallel neben der Auffahrt zur Brooklyn Bridge her, fand die Gesuchten aber nicht. Er tippte darauf, dass sie zu Bellittos Haus zurückkehren würden, und machte kehrt, um den Weg zurückzufahren, den er hergekommen war.

Er ließ seine hochgezogenen, verkrampften Schultern sinken und gestattete sich ein erleichtertes Aufatmen, als er den Buick entdeckte, wie er an Bellittos Block entlangrollte. Doch seine Erleichterung dauerte nur einen winzigen Augenblick. Wer weiß, in welchem Zustand der Junge sich befand oder was sie ihm bereits angetan hatten.

Erneut loderte der Zorn in ihm auf. Wenn er es doch nur rechtzeitig gewusst hätte.

Jack schaltete die Scheinwerfer aus und parkte in zweiter Reihe. Er benutzte noch einmal die Zeitung als Regenschirm, während er das letzte Stück des Blocks zu Fuß zurücklegte.

Dabei beobachtete er, wie Bellitto am Bürgersteig vor seiner Haustür anhielt. Er überquerte die Straße gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Bellitto ausstieg und die Heckklappe öffnete. Mr. Gorilla erschien, in den Armen ein in Decken gewickeltes Bündel. Ein Bündel, so groß wie ein Kind. Er schloss die Wagentür mit dem Fuß, während Bellitto über den dunklen Bürgersteig vorausging. Jetzt kannte Jack auch den Grund für die zerstörte Straßenlaterne.

Mittlerweile näher gekommen, hielt er Ausschau nach einem Anzeichen von Bewegung in der Decke. Doch er konnte nichts dergleichen erkennen. Sein Magen machte einen kleinen Hüpfer, als ein Fuß mitsamt einem kleinen Turnschuh aus dem Deckenbündel herausrutschte und dem Regen schutzlos preisgegeben war.

Scheiße, vielleicht kam er schon zu spät.

Ein düsterer Bereich in seinem Innern brach auf, und rasende Wut sickerte in seinen Blutkreislauf ein. Am liebsten hätte er die .38er gezückt und angefangen, Gesichter aufs Korn zu nehmen. Aber das Verhältnis war zwei gegen einen, und dazwischen befand sich ein Kind, das vielleicht noch gerettet werden konnte. Anstatt loszustürmen, bremste er sich und verfiel in einen schwankenden, unsicheren Gang. Er griff in sein Hemd und schlängelte die Hand durch die Halteschlinge des Totschlägers. Seine Finger legten sich um den Ledergriff.

Die beiden Männer verharrten auf dem Absatz vor der Haustür, als sie bemerkten, wie Jack sich näherte. Bellittos Hand hing in der Luft vor dem Schlüsselloch, während er Jack anstarrte. Jack schlurfte weiter, duckte den Kopf unter die Zeitung und war eindeutig umnebelt von Alkohol oder irgendwelchen Drogen. Gleichzeitig hatte er die Männer jedoch genauestens im Auge.

»Komm schon!«, meinte Mr. Gorilla zu Bellitto. »Ich bin gleich nass bis auf die Haut.«

Sobald er an ihnen vorbei war, warf Jack einen Blick über die Schulter, sah ihre Rücken und wurde aktiv. Er wirbelte herum, riss den Totschläger heraus und flog regelrecht auf die Haustür zu. Sie schwang soeben auf. Zuerst müsste er Mr. Gorilla ausschalten.

Jack kam heran und legte seine ganze Kraft in den Tritt gegen die linke Kniekehle des Gorillas. Er spürte, wie die rechteckige Spitze seines Stiefels in die mit Nerven, Blutgefäßen und Sehnen ausgefüllte Beuge eintauchte.

Mr. Gorilla stieß einen knappen scharfen Schrei aus, etwas wie ein lang gezogenes »Ahhh!«, während das Knie unter ihm nachgab. Er sackte auf dieses Knie und hielt noch immer das in Decken gewickelte Bündel fest, wodurch sein Kopf sich auf ideale Trefferhöhe absenkte. Jack nahm an dem kahlen Schädel vor ihm Maß und legte die Schulter, den Arm und das Handgelenk hinter den Totschläger. Das mit Leder umkleidete Gewicht landete mit einem satten fleischigen Klatschen im Ziel, und Mr. Gorilla kippte mit einem Stöhnen nach links. Das Deckenbündel landete auf ihm.

Er hörte, wie Bellittos Schlüssel zu Boden klirrten, wandte sich um und sah, wie er in der Tasche seines Anzugsakkos herumwühlte. Jack holte zu einem kurzen, harten Rückhandschlag aus, und der Totschläger traf den Kopf an der Seite. Bellitto taumelte einen halben Schritt nach links, stolperte und landete auf dem Rücken.

Jack drehte sich zu Mr. Gorilla um, sah, wie er den Kopf schüttelte und sich auf einem Ellbogen aufstützte. Ein zäher Bursche. Vielleicht hatte er aber auch einen besonders dicken Schädel. Jack verpasste ihm einen weiteren Schwinger hinters Ohr, und der schaltete ihn aus. Ein klassischer K.o.

Jack unterdrückte den unwiderstehlichen Drang, die beiden in die Mangel zu nehmen, sie nach Strich und Faden zu verprügeln, doch selbst mit der defekten Straßenlampe über ihm drang von den intakten Lampen straßauf und straßab genügend Licht auch an diese Stelle, so dass er sich vorkam wie auf dem Präsentierteller. Jemand musste die Auseinandersetzung gesehen haben und rief bestimmt in diesem Moment die 911 an. Außerdem war das Kind in der Decke so schlaff und schwer wie ein Sack Getreide. Jetzt war nicht die Zeit für Vergnügungen. Er musste Hilfe suchen, und zwar medizinische.

Er verstaute den Totschläger wieder im Hemd und bückte sich, um den Jungen aufzuheben, nahm rechts hinter sich eine Bewegung wahr, drehte sich halb um und spürte einen plötzlich auflodernden Schmerz in seiner rechten Seite.

Bellitto – er holte gerade aus, um erneut mit einem Messer auf ihn einzustechen, das jetzt aus Jacks Rücken herausragen würde, wenn er nicht instinktiv ausgewichen wäre.

Jack kam auf die Füße und nahm Bellitto aufs Korn, rammte ihm den Schädel in den Leib, während er seine Messerhand packte und ihn mit dem Rücken gegen die Tür schleuderte. Er stemmte sich gegen Bellitto, Brust an Brust, Bauch an Bauch, und engte ihn ein. Er hielt Bellittos linkes Handgelenk mit der Rechten fest und drückte es nach unten gegen ihre Oberschenkel. Die Finger seiner linken Hand umklammerten die Messerhand in Schulterhöhe.

Er sprach mit zusammengebissenen Zähnen. »Wie war’s mit einem Tänzchen?«

Bellitto schüttelte den Kopf. Blut sickerte aus seiner Nase. »Sie haben mich verletzt.« Er schien überrascht … sogar geschockt.

»Das ist nur der Anfang.«

Jack hatte einen Messerstich abbekommen, und obwohl der Schmerz nur schwach war, stachelte er seine Wut noch an. Er wollte – musste – sich revanchieren.

Er warf einen Blick auf die lange, schlanke Klinge. Sie sah aus wie ein Stilett, mindestens zehn Zentimeter lang. Auf der Klinge waren dunkle Flecken zu erkennen. Blut. Jacks Blut.

»Aber ich bin unbesiegbar … unverwundbar.«

»Tatsächlich?«

»Ja!«

Er versuchte, Jack ein Knie in den Unterleib zu rammen, Jack jedoch verhinderte das mit den eigenen Knien. Dann versuchte er, die Messerklinge gegen Jack zu richten, ächzte vor Anstrengung und blies Jack dabei seinen Atem ins Gesicht.

Jack war stärker, drehte die Klinge gegen Bellitto, während er die Hand mit dem Messer gleichzeitig abwärts drückte. Zwischen sie.

Bellitto wehrte sich heftiger, sackte aber zurück, als Jack erneut mit dem Kopf zustieß. Verdammt, das fühlte sich gut an. Er wünschte sich, er hätte eine Stahlplatte im Schädel, um nach Belieben damit fortfahren zu können.

Das Messer befand sich jetzt in Brusthöhe zwischen ihren Körpern, aber Jack presste die Klinge tiefer und tiefer. Bellittos halb benommen blickende Augen weiteten sich, als er begriff, wohin das Messer zielte.

»Nein!«

»Ich fürchte doch«, erwiderte Jack.

… tiefer …

»Nein, bitte! Das können Sie nicht tun!«

»Das wirst du gleich sehen.«

»Das kann doch nicht wahr sein!«

»Das ist nicht so wie mit kleinen Jungs, nicht wahr? Das ist doch das, was dir gefällt, stimmt’s? Kleine Jungs … jemand, über den du die ganze Macht hast.«

»Nein, Sie verstehen nicht!«

… tiefer …

Bellitto wollte das Messer loslassen, doch Jack hatte seine Finger umschlungen und sorgte dafür, dass sie am Messergriff blieben.

»Oh, aber ich verstehe«, säuselte Jack. »Natürlich verstehe ich, und wie. Doch jetzt liegt die Macht auf der anderen Seite. Und wie fühlt man sich dabei, du Stück Scheiße!«

»So ist es doch nicht! Überhaupt nicht!«

… tiefer …

»Dann ruf doch um Hilfe. Na los. Schrei schon, so laut du kannst!«

Bellitto schüttelte den Kopf. Der Regen hatte dafür gesorgt, dass das dünne Haar auf seiner Stirn klebte.

»Natürlich nicht«, sagte Jack. »Weil die Cops dann nach dem Jungen fragen würden, wie er hierher kommt, was du mit ihm gemacht hast.«

Jack wusste, dass die Cops möglicherweise längst unterwegs waren. Er musste diese Sache beenden und zusehen, dass er verduftete.

Er packte die Messerhand Bellittos fester. »Ich hoffe nur, dass du mit ihm nicht so etwas gemacht hast.«

Er stieß das Messer nach unten in Bellittos Schoß, spürte, wie es durch Stoff und Fleisch schnitt, dann machte er sich von seinem Gegner frei und entriss ihm das Messer.

Bellittos Augen quollen hervor, während sein Mund aufklaffte. Mit einem langen, pfeifenden Schmerzenslaut kippte sein Oberkörper nach vorne. Seine Knie zitterten, die Hände pressten sich auf seinen Unterleib.

»Wenn du das nächste Mal einen kleinen Jungen ansiehst – jedes Mal, wenn du ein Kind ansiehst –, denk an dies.«

Jack klappte das blutige Messer zusammen und steckte es in seine Hosentasche. Auch sein Blut klebte daran, und er wollte nicht, dass seine DNS als genetischer Fingerabdruck für alle Ewigkeit wie eine Zeitbombe in einer Datensammlung vor sich hin tickte. Seine rechte Körperseite schmerzte, als er kehrtmachte. Er untersuchte sich kurz und entdeckte einen Blutfleck in seinem vom Regen getränkten Oberhemd. Er wurde langsam größer.

Verdammt. Wie konnte er es nur so weit kommen lassen?

Er ging zu dem Deckenbündel, das auf dem immer noch bewusstlosen Mr. Gorilla lag. Er öffnete es und legte das runde Gesicht des Jungen frei. Die Augen waren geschlossen. Er sah aus, als schliefe er. Jack legte eine Hand auf seine Stirn. Sie war noch warm. Er beugte sich hinab und hielt eine Wange dicht über den schlaffen kleinen Mund. Warmer Atem fächelte über seine Haut. Er nahm einen süßlichen Geruch wahr. Chloroform?

Jack atmete erleichtert auf. Er lebte noch. Betäubt, bis Bellitto und Mr. Gorilla ihn ins Haus bringen konnten, um ihre schmutzigen Spiele mit ihm zu veranstalten.

Darauf müssten sie heute Nacht wohl verzichten.

Aber was nun? Sein Instinkt trieb ihn, zu verschwinden und 911 anzurufen, sobald er in seinem Wagen saß. Doch das würde bedeuten, dass er den Jungen bei diesen beiden Vertretern des niedrigsten Abschaums allein zurückließ. Einer von ihnen könnte auf die Idee kommen, dass tote Kinder nichts verraten können. Mr. Gorilla war nach wie vor weggetreten, und ein wimmernder Bellitto lag zusammengekrümmt auf dem Asphalt. Keiner der beiden schien in der Lage zu sein, jemandem Schaden zuzufügen, aber Jack wollte kein Risiko eingehen.

Er hob den Jungen hoch. Diese Bewegung ließ den Schmerz in seiner Seite erneut aufflammen. Er hielt Ausschau nach anderen Fahrzeugen. Ein Pkw näherte sich. Er wartete, bis er vorbeigefahren war, dann rannte er durch den Regen um die Ecke. Sich stets in Deckung der am Straßenrand geparkten Fahrzeuge haltend, schleppte er den Jungen einen Block weit nach Osten und dann ein Stück weiter in Richtung Houston Street. Als er einen halben Block von den Neonlichtern und dem lebhaften Verkehr dort entfernt war, fand er einen geschützten Hauseingang und bettete seine Last behutsam auf die trockene Eingangstreppe. Der Junge rührte sich kurz, dann lag er wieder still.

Jack rannte die drei Blocks zu seinem Wagen zurück. Sobald er den Motor angelassen und den Wagen auf die Fahrbahn gelenkt hatte, nahm er das Mobiltelefon vom Beifahrersitz und wählte die 911.

»Hören Sie«, erklärte er hastig der Frau, die sich meldete, »ich habe soeben ein bewusstloses Kind gefunden. Es ist ein kleiner Junge. Ich weiß nicht, was ihm fehlt. Sie sollten lieber schnellstens jemanden hierher schicken.« Er ratterte die Adresse herunter, dann unterbrach er die Verbindung.

Er fuhr bis zu einer Stelle um die Ecke, nicht weit von der Straße entfernt, wo er das Kind abgelegt hatte. Dort parkte er wieder in zweiter Reihe. Er ließ den Motor laufen und rannte zur Straßenecke, fand dort einen Hauseingang, von wo aus er den Jungen beobachten konnte. Es dauerte zwölf lange Minuten, bis er die Sirenen hörte. Sobald das flackernde Blaulicht des Notarztwagens in Sicht kam, kehrte Jack zu seinem Wagen zurück.

Er wollte gerade den Gang einlegen, als er eine zweite Sirene hörte und einen weiteren Ambulanzwagen vorbeirasen sah. Dieser fuhr in Richtung Shurio Coppe. Bellitto musste über sein eigenes Mobiltelefon Hilfe angefordert haben. Er hätte daran denken sollen, dies ebenso zu konfiszieren wie das Messer, dachte Jack.

Er presste eine Hand gegen seine Seite, und als er sie wegzog, war sie rot. Er brauchte sein Hemd nicht auszuziehen, um zu wissen, dass ein paar Heftpflaster nicht ausreichen würden. Er müsste genäht werden. Und das machte einen Besuch bei Doc Hargus erforderlich.

Jack griff wieder nach seinem Mobiltelefon und hoffte, dass Hargus diese Woche halbwegs nüchtern war. Der Doc konnte einen Schnitt wie diesen praktisch im Halbschlaf zunähen, aber dennoch …

Jack legte keinen gesteigerten Wert darauf, dass sein Hausarzt eine amtliche Zulassung besaß. Die von Hargus war ihm entzogen worden, und das war durchaus okay, denn so brauchten die Regeln hinsichtlich der Meldepflicht bei bestimmten Verletzungen nicht beachtet zu werden. Trotzdem zog er es vor, dass die Person, die sich mit Nadel und Faden an ihm zu schaffen machte, dabei halbwegs nüchtern war.

Nachdem der Doc ihn verarztet hatte, beschloss Jack, schnellstens nach Hause zu fahren, die Telefonnummer von Bellittos Bruder herauszusuchen und ihn anzurufen. Er hatte mit Edward Bellitto ein kapitales Huhn zu rupfen.

 

 

In der Zwischenwelt

 

Endlich kennt sie ihren Namen. Vereinzelte Eindrücke und Teile ihres Lebens kehren zurück, aber nicht genug. Nicht annähernd genug.

Sie hat sich nach diesen Erinnerungen gesehnt, weil sie hoffte, sie würden ihr verraten, weshalb sie hier ist und warum sie von so grenzenloser Wut erfüllt ist. Aber diese winzigen Stücke Treibgut auf dem konturlosen Meer ihrer Existenz liefern keine Antworten.

Und keinen Trost. Die Schnappschüsse aus ihrem vergangenen Leben und die Erinnerungen an die Freude, die sie in ihrer alltäglichen Existenz empfand, machen ihr das Gewicht und die Bedeutung dessen, was sie verloren hat, nur noch schmerzlicher bewusst.

Ihre Fähigkeiten aber haben zugenommen. Sie kann sich in der körperlichen Welt, die sie umgibt, manifestieren. Sie hat das heute schon einmal getan. Und sie kann sich zu Gehör bringen, allerdings nicht so, wie sie es sich wünscht. Sie kann nicht reden, doch aus irgendeinem unerfindlichen Grund kann sie singen. Warum ausgerechnet das? Und warum dieses Lied? Sie scheint sich zu erinnern, dass es ihr Lieblingslied war, kann sich aber nicht erklären, weshalb. Jetzt hasst sie dieses Lied.

Sie hasst alles. Alles und jeden.

Aber noch mehr hasst sie es, hier zu sein, als Schatten unter den Lebenden zu wandeln. Sie begreift, dass sie einst gelebt hat und jetzt tot ist. Und das hasst sie. Sie hasst alle Lebenden für das, was sie jetzt haben und sie nicht. Dass sie eine Vergangenheit, eine Gegenwart, eine Zukunft haben.

Das ist das Schlimmste. Sie hat keine Zukunft. Zumindest keine, die sie erkennen kann. Sie ist hier, sie ist jetzt, sie hat eine vage Absicht, einen Sinn, aber sobald der erfüllt ist, was geschieht dann mit ihr? Wird sie zurückgeschleudert in die Finsternis, oder muss sie hier ausharren … vergessen, alleine?

Sie treibt dahin … abwartend …

 

 

Zu nächtlicher Stunde

 

Charlie wachte in der Dunkelheit auf und lauschte.

War das …? Ja. Jemand weinte. Der Laut hallte im Flur wider. Ein Schluchzen wie von einem Kind.

Charlie konnte nicht entscheiden, ob es ein Junge oder ein Mädchen war. Er richtete sich auf und hörte genauer hin. Es war weniger ein Laut der Traurigkeit, eher ein Wimmern furchtbarer Angst und so ohne jede Hoffnung, dass es ihm das Herz zerriss.

Das ist kein richtiges Kind, dachte er. Es ist ein Geist, ein Dämon, der hierher gesandt wurde, um uns in die Irre zu führen.

Er zog sich die Laken über den Kopf und erschauerte trotz der Wärme und der Dunkelheit, die ihn einhüllten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

HMJ06 - Das Ritual
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