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Gia verließ Macy’s mit einer vollen Einkaufstasche und trat an die Straße, um Ausschau nach einem Taxi zu halten. Sie hatte ein paar schicke Sonderangebote gefunden, Kleidung, die Vicky zur Schule tragen konnte, wenn die Ferien im nächsten Monat zu Ende gingen.

Sie fragte sich, ob der Taxifahrer, der sie nach Hause brächte, sie genauso seltsam ansehen würde wie der, mit dessen Taxi sie hergekommen war. Wahrscheinlich. Sie konnte es ihnen nicht übel nehmen: Frauen, die am Sutton Square wohnten, gingen normalerweise nicht zu Macy’s, um Schlussverkäufe oder Rabattaktionen auszunutzen.

Wahrscheinlich hält er mich für eine Nanny, die im Haus ihrer Arbeitgeber wohnt, dachte sie.

Meine Adresse mag zwar eine der besten in der ganzen Stadt sein, Leute, aber ich lebe dort von den Einkünften einer selbständigen Grafikerin. Ich habe eine sehr lebhafte kleine Tochter, die all die Sachen, aus denen sie nicht automatisch herauswächst, vollständig abnutzt. Also, wenn Macy’s mit großen Sonderangebotsaktionen winkt, dann gehe ich natürlich hin!

Auf dem Fußweg sah sie eine dunkelhäutige Frau mit einem Mikrofon. Ein stämmiger Mann stand neben ihr und blickte durch das Objektiv einer Videokamera auf seiner Schulter.

Die Frau wirkte irgendwie vertraut, doch sie war seltsam gekleidet – die elegante Bluse und der Blazer passten nicht zu den sportlichen Shorts aus Jeansstoff. Auf dem Herald Square herrschte lebhaftes Gewimmel, und die Menschenmenge rund um diese Frau schien noch dichter zu sein.

Dann erkannte Gia sie – es war eine der Reporterinnen eines lokalen Fernsehsenders – Kanal zwei oder vier, sie wusste nicht mehr genau, welcher. Die Frau entdeckte Gia und kam zusammen mit dem Kameramann auf sie zu.

»Entschuldigen Sie«, sagte sie und hielt ihr das Mikrofon vor die Nase. »Ich bin Philippa Villa vom News Center Four. Wären Sie bereit, auf die Frage des Tages zu antworten?«

»Kommt darauf an, wie die Frage lautet«, sagte Gia und ging weiter zum Bordstein.

»Sie haben von der Entführung und Rettung des kleinen Duc Ngo gehört?«

»Natürlich.«

»Okay.« Ms. Villa schob das Mikrofon näher. »Die Frage des Tages lautet: Sollte auch für Kinderschänder die Todesstrafe gelten?«

Gia erinnerte sich, wie sie sich an diesem Morgen gefühlt hatte, als sie sich vorstellte, wie es gewesen wäre, wenn man Vicky entführt hätte. Oder wenn jemand das Baby misshandeln würde, das sie in sich trug …

»Sie meinen, nachdem er kastriert wurde?«, fragte sie.

Die Frau blinzelte, während ein paar Zuschauer lauthals lachten. »Wir sprechen von der Todesstrafe. Ja oder nein?«

»Nein«, sagte Gia, während Wut und Ekel in ihr aufstiegen. »Der Tod ist viel zu gnädig für jemanden, der einem Kind Schaden zufügt. Der Kerl, der den kleinen Jungen entführt hat, sollte kastriert werden.«

Die umstehende Menge applaudierte.

Habe ich das gerade gesagt?, dachte Gia. Ich bin offenbar schon viel zu lange mit Jack zusammen.

»Sie scheinen allgemeinen Zuspruch zu finden«, sagte Ms. Villa und warf einen Blick auf das Gedränge ringsum. »Wir senden Ihren Kommentar vielleicht heute Abend im Rahmen unseres Nachrichtenmagazins.« Sie lächelte. »Während der Spätnachrichten. Sie müssten uns jedoch vorher eine Einwilligungserklärung unterschreiben, dass dieses Interview …«

Gia schüttelte den Kopf. »Nein, danke.«

Sie wollte nicht im Fernsehen gezeigt werden. Sie wollte nur nach Hause. Sie wandte sich um, während ein Taxi an den Bordstein rollte und bremste, um einen Fahrgast aussteigen zu lassen.

»Darf ich wenigstens Ihren Namen erfahren?«, fragte Ms, Villa, während sie und der Kameramann Gia bis zum Taxi verfolgten.

»Nein«, erwiderte Gia über die Schulter.

Sobald es frei war, schlüpfte sie auf die Rückbank des Taxis. Sie schloss die Tür und wies den Fahrer an, stadtauswärts zu fahren. Sie drehte sich nicht um, während das Taxi sich in den fließenden Verkehr einfädelte.

Was war ihr in den Sinn gekommen, so etwas zu sagen? Und dann auch noch vor einer Kamera. Sie hatte die Wahrheit ausgesprochen – das waren in diesem Moment wirklich ihre Gefühle gewesen, aber sie gingen niemanden etwas an. Sie wollte nicht, dass ihr Gesicht über irgendeinen Bildschirm flimmerte. Wenn sie schon ein wenig Berühmtheit erlangen sollte, dann viel lieber mit ihren Gemälden und nicht weil sie sich im Lokalfernsehen das Maul zerriss.

 

 

HMJ06 - Das Ritual
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