5. Kapitel
Nach dem Frühstück sage ich Tobias, dass ich einen Spaziergang mache, aber dann folge ich Marcus. Ich bin davon ausgegangen, dass er zu den Gästezimmern gehen würde, aber er überquert das Feld hinter dem Speisesaal und betritt das Gebäude, in dem das Wasser gereinigt wird. Auf der untersten Stufe bleibe ich stehen. Will ich das wirklich tun?
Ich steige die Treppe hinauf und öffne die Tür, die Marcus gerade erst hinter sich geschlossen hat.
Das Filterhaus ist klein, eigentlich nur ein einziger Raum, in dem ein paar riesige Maschinen stehen. Soweit ich weiß, nehmen einige dieser Maschinen das Schmutzwasser aus dem Hauptquartier auf, andere reinigen es oder überprüfen die Wasserqualität und wieder andere pumpen das saubere Wasser in die Gebäude zurück. Die Rohre sind alle unterirdisch verlegt bis auf eines, das über dem Boden verläuft und Wasser für das Kraftwerk in der Nähe des Zauns liefert. Das Kraftwerk versorgt die ganze Stadt mit Strom, den es sowohl aus Wind-, Wasser- als auch Sonnenenergie erzeugt.
Marcus steht neben den Filtermaschinen. Die Rohre sind durchsichtig. Braun verfärbtes Wasser strömt durch sie hindurch und verschwindet in der Maschine. Wir sehen beide zu, wie es gereinigt wird, und ich frage mich, ob er das Gleiche denkt wie ich, dass es schön wäre, wenn es bei den Menschen auch so leicht ginge und man den Schmutz aus unserem Leben wegwaschen und uns wieder sauber in die Welt hinausschicken könnte. Aber es gibt Schmutz, der für immer an einem haften bleibt.
Ich richte den Blick auf Marcus’ Hinterkopf. Ich muss es tun.
Jetzt.
»Ich habe dich neulich gehört«, platze ich heraus.
Marcus fährt herum. »Was machst du hier, Beatrice?«
»Ich bin dir gefolgt«, sage ich und verschränke die Arme vor der Brust. »Ich habe gehört, wie du mit Johanna über die Gründe von Jeanines Angriff auf die Altruan geredet hast.«
»Haben die Ferox dir beigebracht, dass man seine Nase in die Privatangelegenheiten anderer Menschen stecken darf, oder hast du das selbst gelernt?«
»Ich bin von Natur aus neugierig. Lenk nicht vom Thema ab.«
Marcus legt die Stirn in Falten, zwischen den Augenbrauen bilden sich tiefe Furchen und auch um den Mund. Es sieht aus, als hätte er sein ganzes Leben lang immer nur die Stirn gerunzelt.
Als er jünger war, hat er womöglich sogar ganz gut ausgesehen – und vielleicht wirkt er auf Frauen seines Alters, wie etwa Johanna, noch immer so, aber wenn ich ihn anschaue, dann sehe ich nur die pechschwarzen Augen, die ich aus Tobias’ Angstlandschaft kenne.
»Wenn du mich und Johanna belauscht hast, dann weißt du auch, dass ich nicht einmal mit ihr darüber gesprochen habe. Was bringt dich also auf die Idee, dass ich ausgerechnet dir diese Auskunft gebe?«
Zuerst weiß ich nicht, was ich darauf antworten soll. Aber dann fällt es mir ein.
»Mein Vater«, fange ich an. »Mein Vater ist tot.« Es ist das erste Mal, dass ich es laut ausspreche, seit ich Tobias im Zug auf dem Weg hierher gesagt habe, dass meine Eltern um meinetwillen gestorben sind. Dieses Wort, gestorben, war damals nur eine Erklärung für mich gewesen, ich hatte damit keine Gefühle verbunden. Aber jetzt sage ich es, tot, und es über das Brodeln und Blubbern in diesem Raum hinweg auszusprechen, fühlt sich an, als würde mir jemand mein Herz zerquetschen. Die Trauer erwacht wie ein Monster und krallt sich in meinen Augen und in meiner Kehle fest.
Ich zwinge mich weiterzureden.
»Vielleicht ist er nicht direkt wegen dieser geheimen Informationen gestorben, von denen du gesprochen hast«, sage ich. »Aber ich möchte wissen, ob er deswegen sein Leben aufs Spiel gesetzt hat.«
Marcus’ Mundwinkel zucken.
»Ja«, sagt er. »Das hat er.«
Meine Augen füllen sich mit Tränen. Ich blinzle sie weg.
»Also gut«, ich quetsche die Worte aus mir heraus, »was um alles in der Welt war es? War es etwas, was du beschützen wolltest? Oder stehlen? Oder was?«
»Es war …« Marcus schüttelt den Kopf. »Das werde ich dir nicht sagen.«
Ich mache einen Schritt auf ihn zu. »Aber du willst es wiederhaben. Und Jeanine hat es.«
Marcus ist ein ziemlich guter Lügner – er ist sehr geschickt darin, Geheimnisse zu verbergen. Er reagiert einfach nicht. Ich wünschte, ich könnte sehen, was Johanna sieht oder was die Candor sehen – ich wünschte, ich könnte in seiner Miene lesen. Vielleicht ist er kurz davor, mir die Wahrheit zu sagen. Wenn ich genügend Druck mache, vielleicht knickt er dann ein.
»Ich könnte dir helfen«, biete ich ihm an.
Marcus verzieht die Oberlippe. »Du weißt gar nicht, wie lächerlich das klingt.« Er spuckt mir den Satz praktisch ins Gesicht. »Du hast vielleicht den Simulationsangriff erfolgreich beendet, Mädchen, aber das war reines Glück und hat nichts mit Können zu tun. Ich bekäme glatt einen Herzinfarkt, wenn du in nächster Zeit etwas Nützliches zustande bringen würdest.«
Dies ist der Marcus, den Tobias kennt. Der Marcus, der genau weiß, wo er treffen muss, damit es richtig wehtut.
Ich bin so wütend, dass ich am ganzen Körper zittere. »Tobias hat recht, was dich angeht«, stoße ich hervor. »Du bist nichts als ein arrogantes, verlogenes Stück Dreck.«
»Das hat er gesagt? Tatsächlich?« Marcus zieht die Augenbrauen hoch.
»Nein«, antworte ich. »Er spricht nicht oft genug von dir, um so etwas zu sagen. Ich habe das ganz allein herausgefunden.« Ich beiße die Zähne aufeinander. »Du bedeutest ihm nämlich so gut wie nichts. Und je mehr Zeit vergeht, desto weniger bedeutest du ihm.«
Marcus gibt mir keine Antwort, sondern richtet seine Aufmerksamkeit auf den Wasserreiniger. Ich stehe einen Moment da und koste meinen Triumph aus, in meinen Ohren vermischt sich das Rauschen des Wassers mit dem Pochen meines Herzschlags. Dann verlasse ich das Gebäude, aber ich habe das davorliegende Feld noch nicht einmal zur Hälfte überquert, als mir klar wird, dass ich gar nicht gewonnen habe. Marcus hat gewonnen.
Was auch immer die Wahrheit ist, ich kenne sie immer noch nicht und muss sie mir auf anderem Weg beschaffen, denn ihn werde ich nicht noch einmal fragen.
In dieser Nacht träume ich davon, dass ich auf einem Feld stehe, auf dem eine Horde Krähen am Boden kauert. Als ich ein paar von ihnen wegscheuche, sehe ich, dass sie auf einem Mann sitzen und an seinen Kleidern picken, die altruangrau sind. Ohne Vorwarnung fliegen sie davon, und da merke ich erst, dass dieser Mann Will ist.
Dann wache ich auf.
Ich vergrabe mein Gesicht in den Kissen, und statt seinen Namen zu rufen, schluchze ich so laut, dass mein Körper in die Matratze gepresst wird. Ich spüre wieder, wie sich das Monster aus Trauer und Schmerz in den leeren Platz hineinschlängelt, in dem einmal mein Herz und mein Magen gewesen sind.
Keuchend presse ich beide Handflächen gegen die Brust. Jetzt packt mich das Ding an der Kehle und drückt mir die Luft ab. Ich winde mich und stecke schweratmend den Kopf zwischen die Knie, bis das Würgen nachlässt.
Mich fröstelt, obwohl es warm ist. Ich stehe auf und schleiche durch den Gang zu Tobias’ Zimmer. Meine nackten Beine leuchten in der Dunkelheit. Als ich die Tür öffne, quietscht sie so laut, dass er aufwacht. Er starrt mich einen Moment lang an.
»Komm her«, sagt er, noch ganz schlaftrunken. Er rutscht an den Bettrand, um mir Platz zu machen.
Ich hätte vorher überlegen sollen, was ich tue. Ich schlafe in einem langen T-Shirt, das die Amite mir gegeben haben. Es reicht gerade über den Po, aber ich habe vergessen, eine Hose anzuziehen, bevor ich hierher kam. Tobias mustert meine nackten Beine und mein Gesicht beginnt zu glühen. Ich lege mich neben ihn und sehe ihn an.
»Schlecht geträumt?«, fragt er.
Ich nicke.
»Was ist passiert?«
Ich schüttle den Kopf. Ich kann ihm nicht sagen, dass ich wegen Will Albträume habe, denn dann müsste ich ihm erklären, weshalb. Wie würde er von mir denken, wenn er wüsste, was ich getan habe?
Er legt seine Hand auf meine Wange und streicht mit dem Daumen über den Wangenknochen.
»Wir sind in Sicherheit, du und ich«, sagt er. »Okay?«
Meine Brust tut weh, aber ich nicke.
»Überall sonst ist alles aus dem Lot geraten.« Sein Flüstern kitzelt mich an der Wange. »Aber bei uns ist alles in Ordnung.«
»Tobias …« Was immer ich sagen will, es verschwindet aus meinem Kopf, und ich drücke meine Lippen auf seine, denn ich weiß, wenn ich ihn küsse, lenkt mich das von allem anderen ab.
Er erwidert meinen Kuss. Seine Hand gleitet erst über meine Wange, dann an meiner Seite entlang und zeichnet den Schwung meiner Taille nach, streicht über die Hüfte und von dort zu meinem nackten Bein, bis ich anfange zu zittern. Ich drücke mich enger an ihn und umschlinge ihn mit meinem Bein. Vor Aufregung summt mein Kopf, aber der Rest von mir scheint ganz genau zu wissen, was er tut, denn alles pocht im selben Rhythmus. Mein Körper möchte aus sich selbst fliehen und stattdessen mit ihm verschmelzen.
Sein Mund berührt meinen und seine Hand fährt unter den Saum meines T-Shirts; ich halte sie nicht auf, obwohl ich es eigentlich tun sollte. Stattdessen seufze ich nur leise und die Hitze steigt in mein Gesicht und färbt es rot. Entweder hat er es nicht bemerkt oder es macht ihm nichts aus, denn er fasst meinen Rücken fester, drückt mich noch enger an sich. Seine Finger bewegen sich langsam entlang meiner Wirbelsäule nach oben. Mein T-Shirt rutscht hoch, aber ich ziehe es nicht wieder herunter, obwohl ich die kalte Luft an meinem Bauch spüre.
Er küsst mich auf den Nacken und ich halte mich an seiner Schulter fest, umschließe mit der Faust sein T-Shirt. Seine Hand ist ganz oben angelangt und schmiegt sich an meinen Hals. Mein Shirt hat sich um seinen Arm gewickelt. Unsere Küsse werden leidenschaftlicher, meine Hände beben, so nervös und elektrisiert bin ich; deshalb klammere ich mich noch fester an ihn, damit er das Zittern nicht bemerkt.
Dann berührt er den Verband an meiner Schulter und Schmerz schießt durch mich hindurch. Er ist nicht sehr schlimm, aber er bringt mich wieder in die Wirklichkeit zurück. Ich kann nicht auf diese Weise mit Tobias zusammen sein, nicht, wenn ich es nur tue, um meinen Kummer zu vergessen.
Ich lehne mich zurück und ziehe den Saum meines T-Shirts nach unten. Einen Moment lang liegen wir nur da, unsere schweren Atemzüge vermischen sich. Ich will nicht weinen – jetzt ist keine gute Zeit dafür, nein, ich muss aufhören –, aber ich kann die Tränen nicht zurückhalten, egal, wie sehr ich blinzle.
»Tut mir leid«, murmle ich.
»Entschuldige dich nicht«, sagt er fast streng und wischt mir die Tränen von der Wange.
Ich weiß, dass ich wie ein Vögelchen bin, klein und zart, so als könne ich jeden Moment losfliegen, mit gerader Taille, zerbrechlich. Aber wenn er mich so berührt, als wolle er mich nie wieder loslassen, dann möchte ich gar nicht anders sein.
»Ich wollte mich nicht so gehen lassen«, sage ich mit bebender Stimme. »Ich komme mir nur so …« Ich schüttle den Kopf.
»Das ist falsch«, sagt er. »Es ist egal, ob deine Eltern nun an einem besseren Ort sind – sie sind nicht hier bei dir, und das ist falsch, Tris. Es hätte nicht passieren dürfen. Es hätte dir nicht passieren dürfen. Und jeder, der behauptet, dass sei schon in Ordnung so, der lügt.«
Ein Schluchzen schüttelt meinen Körper, und er drückt mich so fest an sich, dass ich kaum Luft bekomme, aber das ist egal. Mein leises Weinen verwandelt sich, wird hässlich und schrill, mein Mund steht offen, mein Gesicht ist verzerrt und aus meiner Kehle kommen Laute wie bei einem sterbenden Tier. Wenn das so weitergeht, werde ich in Stücke brechen, und vielleicht wäre das sogar besser, vielleicht wäre es besser, zu zerbrechen und nichts mehr spüren zu müssen.
Er schweigt lange, bis ich mich wieder beruhigt habe.
»Schlaf jetzt«, sagt er. »Ich verjage die schlimmen Träume, falls sie wiederkommen sollten.«
»Womit?«
»Mit meinen bloßen Händen natürlich.«
Ich lege meinen Arm um seine Hüfte und atme seinen Geruch ein. Er riecht nach Schweiß und frischer Luft und nach der Minze, die in der Salbe ist, mit der er manchmal seine verspannten Muskeln einreibt. Und er riecht nach Sicherheit, nach sonnigen Spaziergängen in den Obstplantagen und stillen Frühstücken in der Speisehalle. In den Sekunden bevor der Schlaf mich umfängt, vergesse ich beinahe unsere vom Krieg zerrüttete Stadt und die Kämpfe, die uns bald bevorstehen, wenn wir nicht schleunigst etwas dagegen unternehmen.
Kurz bevor ich einschlafe, höre ich, wie er flüstert: »Ich liebe dich, Tris.«
Vielleicht würde ich das ja auch zu ihm sagen, wenn ich nicht schon so weit in den Schlaf abgedriftet wäre.